Produktdetails
  • Quarthefte H.190
  • Verlag: Wagenbach
  • 1994.
  • Deutsch
  • Abmessung: 205mm x 120mm x 9mm
  • Gewicht: 131g
  • ISBN-13: 9783803101907
  • ISBN-10: 3803101905
  • Artikelnr.: 05574388
Autorenporträt
Giorgio Manganelli, 1922 in Mailnd geboren, übersiedelte 1953 nach Rom und studierte englische Literatur. er war Mitbegründer des "gruppo 63", einflussreicher Kritiker und notorischer, 'freier Schriftsteller'. 1990 starb er in Rom.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.02.1996

Vorzimmer des Weltuntergangs
Giorgio Manganelli besucht ein Land, das kein Grauen kennt

In der Mitte seines Büchleins fragt Giorgio Manganelli sich, was er nun "eigentlich von Indien weiß". Er hat "Bilder im Kopf und ein Trauma im Leib". Am Ende, als ihn ein italienischer Freund mit "asiatischer Sanftmut" danach fragt, weiß er nicht, ob er Indien liebt. Manganelli war ein leidenschaftlicher und aufmerksamer Reisender. Seine Skizze über Indien, die sich im Nachlaß fand, gehört zu den schönsten Berichten über das Land am Ganges: stilsicher, elegant, voll treffender Metaphern. Der Übersetzerin gebührt Lob.

Schon auf dem Weg nach Indien, der "großen Verführerin", überkommen den Reisenden kalter Schweiß, Schauer und Schlaflosigkeit. Er blättert in Hermann Hesses "Siddhartha", eine Lektüre, die vergessen lasse, daß es in Indien Exkremente gibt. "Ob wohl der ganze Kontinent nach Sandelholz riecht?" fragt Manganelli noch vor der Landung in Bombay, wo ihn die Luft Indiens empfängt: "schmutzig und lebendig, eitrig und süßlich, faulig und kindlich". Wo es nach Tropen riecht, "nach offenen Kloaken mit einem scharfen Beigeschmack von Urin, nach wildem Tier im Käfig", wo Europa hinter dem Reisenden versinkt und mit ihm der "reinliche Siddhartha". Manganelli muß Indien, das geht aus einigen Details hervor, um 1975 besucht haben. In Bombay, der lebendigen Stadt des Kommerzes, beobachtet er "Geier mit Planstelle" und ein Bettler-Mädchen von "ungewöhnlicher Schönheit", das in der Mittagshitze auf dem Trottoir liegt, von ein paar Lappen zugedeckt, das seinen "Schlaf bei sich hat, immer leicht aufrollbar" und das "vielleicht an ein paar rasch vorübereilenden Träumen knabbert".

Noch schärfer ist das Bild Kalkuttas gezeichnet, da sieht man es nach, daß der indische Nordwesten überhaupt nicht und Delhi nur sehr oberflächlich vorkommt. "Wer Kalkutta nicht gesehen hat, hat nicht Indien, sondern die Welt nicht gesehen", schreibt Manganelli. Es sei die "Garderobe des Weltuntergangs", die aber auch voller Hoffnung ist, bereit für das Jüngste Gericht, aber voller Menschen in Lumpen - mit Wahlrecht. "Sie sterben schnell, ohne den Verkehr zu behindern."

Nur Touristen suchen, nach einer Visite bei Mutter Teresa, nach britischen Friedhöfen, wo die "unendliche Ironie des Grases die Gräber als extravagantes Dokument eines exotischen Irrsinns" verhüllt. Fremde und Kolonialherren in einem Land, das kein Grauen kennt, kein individuelles Mitleid, wo nicht einmal der Bettler Mitleid mit sich selbst hat. Weil Mißgeschicke "aus der Ferne kommen und in die Ferne gehen". Das alles macht Indien "auf tragische Weise zu einem unwegsamen Ort, durchdrungen von einer dramatischen, nicht mitteilbaren Sanftheit, von einer Gleichgültigkeit ohne Empörung, ohne Gewissensbisse, ohne Nachsicht". ERHARD HAUBOLD

Giorgio Manganelli: "Das indische Experiment". Aus dem Italienischen übersetzt von Marianne Schneider. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1995. 92 S., geb., 22,80 DM.

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