Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.07.2001Hinweis
INDIVIDUALITÄT. Daß das Thema der "Individualisierung" nicht etwa nur eine modische Angelegenheit ist, die - von Ulrich Beck einmal ausgedacht - nach und nach die Gesellschaftstheorie okkupiert hätte und von dort aus ins denkerische Zentrum von Eheberatungsstellen, Familienministerien und Konsumindustrie gelangt wäre: dies zeigt die Dissertation von Markus Schroer. Je nach Theorietradition wurden in der Geschichte der Soziologie mehr die Gefahren (Weber, Adorno, Foucault) oder die Chancen (Durkheim, Parsons, Luhmann) der Individualisierung für das Individuum betont. Am erfahrungsgesättigsten liest sich auch heute noch die Position Simmels, der die Paradoxie von Individualitätsgewinnen betont: "Die individuelle Freiheit ist keine rein innere Beschaffenheit eines isolierten Subjekts, sondern eine Korrelationserscheinung, die ihren Sinn verliert, wenn kein Gegenpart da ist." In diesem Sinne könne sich da, wo ein gewisses Maß an Unfreiheit besteht, weil "allen einschlägigen Verhältnissen eine durchgehende Form sozial auferlegt ist", individuelle Freiheit paradoxerweise am ehesten entfalten. So dann auch Adorno: "Dem Individuum kann nicht dadurch geholfen werden, indem man es begießt wie eine Blume." (Markus Schroer: "Das Individuum der Gesellschaft". Synchrone und diachrone Theorieperspektiven. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2001. 503 S., br., 32,90 DM.)
gey
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
INDIVIDUALITÄT. Daß das Thema der "Individualisierung" nicht etwa nur eine modische Angelegenheit ist, die - von Ulrich Beck einmal ausgedacht - nach und nach die Gesellschaftstheorie okkupiert hätte und von dort aus ins denkerische Zentrum von Eheberatungsstellen, Familienministerien und Konsumindustrie gelangt wäre: dies zeigt die Dissertation von Markus Schroer. Je nach Theorietradition wurden in der Geschichte der Soziologie mehr die Gefahren (Weber, Adorno, Foucault) oder die Chancen (Durkheim, Parsons, Luhmann) der Individualisierung für das Individuum betont. Am erfahrungsgesättigsten liest sich auch heute noch die Position Simmels, der die Paradoxie von Individualitätsgewinnen betont: "Die individuelle Freiheit ist keine rein innere Beschaffenheit eines isolierten Subjekts, sondern eine Korrelationserscheinung, die ihren Sinn verliert, wenn kein Gegenpart da ist." In diesem Sinne könne sich da, wo ein gewisses Maß an Unfreiheit besteht, weil "allen einschlägigen Verhältnissen eine durchgehende Form sozial auferlegt ist", individuelle Freiheit paradoxerweise am ehesten entfalten. So dann auch Adorno: "Dem Individuum kann nicht dadurch geholfen werden, indem man es begießt wie eine Blume." (Markus Schroer: "Das Individuum der Gesellschaft". Synchrone und diachrone Theorieperspektiven. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2001. 503 S., br., 32,90 DM.)
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Kein leichtes Werk, das. Diese Warnung schickt Martin Hartmann seiner gut geordneten Besprechung voraus. Den Autor stellt er uns vor als "Soziologen vom Fach", der vor seinem Kollegen Ulrich Beck nicht gerade in Ehrfurcht erstarrt. Dessen Untersuchung zum Begriff "Individualisierung" nämlich wird in dem vorliegenden Buch teilweise infrage gestellt. Schroer, so der Rezensent, will zeigen, dass die verschiedenen Deutungen der Individualisierung eine Geschichte haben, dass somit das Thema viel älter ist, als es bei Beck erscheine. Soziologische Ahnenkunde nennt Hartmann das und liest die Ahnentafel runter, von Max Weber bis Georg Simmel, und ordnet sie sogar nach Vorgabe des Autors. Allein die Erleuchtung bleibt irgendwie aus. Vielleicht, so mutmaßt Hartmann, weil Schroer nie wirklich sagt, was er eigentlich unter Individualisierung versteht. Vielleicht, weil offen bleibt, "was etwa Adorno oder Foucault zu Theoretikern der ...Individualisierung macht".
© Perlentaucher Medien GmbH
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