Die Beiträge dieses Bandes machen mit zentralen Aspekten des umfangreichen Werks von Jürgen Habermas vertraut: Rechts- und Moraltheorie, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, normative Grundlagen der Gesellschaftstheorie, Kritik- und Emanzipationsbegriff, Rezeption von Handlungstheorie, Pragmatismus und Psychoanalyse. Gemeinsam ist den Beiträgen ihr Rückbezug auf das vor 30 Jahren erschienene Buch Erkenntnis und Interesse, von dem Habermas in seinem eigenen Beitrag zu dem hier angezeigten Band sagt: »Damals habe ich mir Strukturen der Lebenswelt und der kommunikativen Alltagspraxis klargemacht, die zur Theorie des kommunikativen Handelns und der Sprachpragmatik überleiten. Unter anderem ist mir jene Reflexivität der Umgangssprache aufgegangen, die ich später anhand der Doppelstruktur der Sprechakte genauer untersucht habe. Ich habe die Sprache auch schon als Medium dargestellt, das die Möglichkeit einer Individuierung durch Vergesellschaftung erklärt.«
Der Band verdeutlicht die innovativen Aspekte der Theorieentwicklung von Habermas für die Grundlegung der Sozialwissenschaften.
Der Band verdeutlicht die innovativen Aspekte der Theorieentwicklung von Habermas für die Grundlegung der Sozialwissenschaften.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.06.2014Ein polemisches Talent
Lehrer ohne Einschüchterungsrhetorik: Pünktlich zum 85. Geburtstag des Sozialphilosophen Jürgen Habermas
schildert Stefan Müller-Doohm dessen Lebensgeschichte aus Starnberger Zentralperspektive
VON MARTIN BAUER
Stefan Müller-Doohm, emeritierter Professor für Soziologie, der in den Sechzigerjahren die Bank der Frankfurter Schule gedrückt hat, bleibt bei seinem Leisten. Nachdem er 2003 eine voluminöse Adorno-Biografie veröffentlicht hat, die für ihre sorgfältige Recherche und die Zuverlässigkeit in werk- wie lebensgeschichtlichen Details gepriesen wurde, legt er nun, pünktlich zum 85. Geburtstag, eine weit über siebenhundert Seiten starke Biografie vor, deren Protagonist Jürgen Habermas ist. Nach dem Lehrer, über den Habermas gesagt hat, er sei „das einzige Genie“ gewesen, das ihm in seinem Leben begegnet sei, porträtiert Müller-Doohm den mit Abstand bedeutendsten Schüler. Die Schrittfolge ist stimmig und das Resultat des delikaten Unterfangens, zu Lebzeiten eine Biografie zu verfassen, fällt gediegen aus. Gut informiert, erteilt Müller-Doohm in seinem Buch Auskunft über Leben und Werk des heute in Starnberg lebenden Sozialphilosophen. Es verweigert jeden Blick durchs Schlüsselloch und schreitet am sicheren Leitfaden der Chronologie die verschiedenen Lebensstationen und die Werkgeschichte ab. In seiner respektvollen Diskretion verzichtet der für seine Aufgabe gut gerüstete Biograf allerdings darauf, ein durch die langjährige Beschäftigung inspiriertes und eigenständiges Porträt des Mannes zu zeichnen, der der „Kritischen Theorie“ ein neues Gesicht gegeben hat.
Müller-Doohms Blick wandert von der ersten zur zweiten Generation der Frankfurter Schule. Damit geht es nicht mehr um jüdische Intellektuelle, deren formative Jahre in die Weimarer Zwischenkriegszeit fielen und die der aufkommende Nationalsozialismus in die Emigration zwang. Sie hatten sowohl Karl Marx als auch Max Weber gelesen. Unorthodoxe Vertreter des historischen Materialismus, die sie waren, zielte ihre Kritik auf den Kapitalismus wie den Liberalismus. Die bürgerliche Gesellschaft hatte dem Faschismus nicht widerstanden. In Jürgen Habermas rückt demgegenüber ein Philosoph und Soziologe in den Vordergrund, der aus protestantischem Elternhaus stammt. Seine Gummersbacher Jugend erlebt er in der Endphase des Dritten Reiches. Persönliche Ausgrenzungserfahrungen, die nachwirken, sind zu verarbeiten. Der Schüler wird für etwas gehänselt, das Lehrbücher der Zeit verächtlich einen „Wolfsrachen“ nennen. Sein Studium absolviert er, von einem Auslandssemester in Zürich abgesehen, in Göttingen und Bonn, das heißt im restaurativen Klima der Adenauer-Jahre.
Neben der Philosophie, für die er schon frühzeitig eine außergewöhnliche Begabung gezeigt hatte, ist der junge Habermas an Theater, Kino und moderner Malerei interessiert. Nach einem journalistischen Intermezzo kehrt er in die akademische Welt zurück, wird Mitarbeiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Assistent von Theodor W. Adorno. Der Direktor des Instituts, Max Horkheimer, begegnet Habermas, der sich jetzt intensiv in die Kritische Theorie einarbeitet, mit Vorbehalten: „Der hat eine Hasenscharte und kann daher nicht lehren, also ist er nur für die Forschung gut.“ Eine aparte Ironie will, dass die Frankfurter Universität Habermas nach Umwegen über Marburg und Heidelberg als Nachfolger auf den vormaligen Lehrstuhl Horkheimers beruft. Spätestens seit Mitte der Sechzigerjahre avanciert der Frankfurter Sozialphilosoph zu einer
linksliberalen Stimme innerhalb der Bundesrepublik, die sich auch deshalb erfolgreich Gehör verschaffen kann, weil sie, trotz aller Einsprüche und Kontroversen, aus der republikanischen Identifikation mit den normativen Grundlagen des Gemeinwesens argumentiert. Diese Haltung wird Habermas als „Verfassungspatriotismus“ auf einen Begriff bringen, den der altliberale Politologe Dolf Sternberger geprägt hatte.
Ein Ratschlag, um den Habermas anlässlich der Verleihung des Kyoto-Preises gebeten wurde, wirft sowohl Licht auf sein Verhältnis zu Adorno, als auch auf seine eigene intellektuelle Statur. Gefragt nach einem Leitsatz für die Jugend, antwortete Habermas im November 2004: „Vergleiche dich nie mit einem Genie, aber trachte immer danach, das Werk eines Genies zu kritisieren.“
Als hätte Müller-Doohm die Maxime zum Wink genommen, stellt er Jürgen Habermas in der Tätigkeit des ingeniösen Kritikers vor. Der kritisiert als junger Mann, mit 24 Jahren gerade frisch promoviert, einen Heidegger, der acht Jahre nach Kriegsende verstockt genug ist, einen älteren Vorlesungstext kommentarlos zu veröffentlichen, in dem von „der inneren Wahrheit und Größe“ der nationalsozialistischen Bewegung die Rede ist. Der „Mit Heidegger gegen Heidegger“ überschriebene Artikel erscheint ganzseitig in „Bilder und Zeiten“, der Wochenendbeilage der Frankfurter Allgemeinen. Er verursacht einige Aufregung.
Doch geht Habermas nicht nur mit dem Philosophen hart ins Gericht, unter dessen Einfluss er gerade noch seine Dissertation über den spätidealistischen Philosophen Schelling verfasst hatte. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten wird er auch den Marxismus der Gründungsväter der Kritischen Theorie kritisieren, den Positivismus in den Sozialwissenschaften, die traditionelle Wissenschaftstheorie, die Bewusstseins- und Subjektphilosophie im Geiste des linguistic turn, die Systemtheorie Luhmanns, den französischen Strukturalismus und Poststrukturalismus, die Halbierung des Projekts der Moderne, den Naturalismus und Szientismus als verdeckte Restmetaphysiken in der entzauberten Welt, schließlich mit wiedererwachtem Interesse an religionssoziologischen und -philosophischen Problemstellungen einen allzu triumphierenden Säkularismus des Westens.
Freilich ist Kritik nicht nur das Medium, in dem Habermas Zug um Zug eine systematisch angelegte Gesellschaftswissenschaft artikuliert, die in Gestalt seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ sondiert, wie es um die Bedingungen und Chancen vernünftiger Verständigungsverhältnisse in der sozialen Welt steht. Dass er derartige Verhältnisse nicht nur theoretisch reflektiert, sondern auch praktisch fordert, macht ihn zu einem hellwachen Zeitgenossen, der durch seine Stellungnahmen politisch eingreift. So schaltet sich der Professor als Bürger „nebenberuflich“ ein und kritisiert den politischen Voluntarismus („Linksfaschismus“) von Teilen der Studentenbewegung, einige Zeithistoriker, die sich an der Entsorgung der NS-Vergangenheit versuchen, die Modalitäten der deutschen Wiedervereinigung, eine gespenstische Sonntagsrede in der Paulskirche, gewisse Positionen in der Debatte um die Errichtung des Holocaustdenkmals, ein erbauliches Plädoyer für zupackende Eugenik, das in einem bayerischen Fünf-Sterne-Hotel zum Vortrag kam, die europäische Einigung als ein technokratisches Unternehmen, dem es an demokratischer Legitimierung gebricht. Und mit all dem kritisiert sich Habermas selbstverständlich auch selbst, korrigiert Positionen, die er einmal bezogen hat, im Prozess kontinuierlicher Selbstrevision jedoch aufgibt, weil sich bessere Argumente einstellten.
Mit ermüdungsfreier Konzentration setzt Müller-Doohm seine Leserschaft über Themen, Kontexte, Bühnen, auch über das Personal der Debatten ins Bild. Gelegentlich fragt man sich, wie wichtig die Einzelheiten sind, gelegentlich – zumal bei philosophischen Auseinandersetzungen – wünscht man sich, die Antagonisten von Habermas kämen ausführlicher zu Wort. Immerhin werden die kontroversen Reaktionen auf seine Rechtfertigung des Kosovo-Einsatzes der Vereinten Nationen gründlich dokumentiert. Auch im Rückblick hält Habermas an dem Grundsatz fest, der ihn die militärische Gewaltanwendung hatte legitimieren lassen. Bei aller Ohnmacht des Sollens ist die aus Kantischer Sicht entworfene Utopie unaufgebbar, wonach das Völkerrecht in ein Weltbürgerrecht überführt werden müsse. Humanitäre Interventionen dürfen für den Rechtsphilosophen Habermas als polizeiliche Maßnahmen einer zukünftigen Weltinnenpolitik auf Zustimmung rechnen. Einer seiner aufmerksamen Leser stand damals dem Auswärtigen Amt vor. Dass dem Kanzler hingegen „alles Normative Wurscht“ sei, ist Habermas nicht entgangen, wie eine pointierte Bemerkung zu Gerhard Schröder aus dem Frühjahr 1999 belegt.
Ein „polemisches Talent“ zu sein hat sich Habermas höchstselbst attestiert. Seinen Ruhm hat er sich nicht zuletzt durch scharfsinnige, wortmächtige, eben meinungsstarke Zuspitzungen erworben; mutmaßlich aber auch durch einen geschickten Umgang mit diversen Medien. Über diese Rückseite seiner publizistischen Präsenz ist in Müller-Doohms Biografie überraschend wenig zu erfahren – mit einer Ausnahme: Selbstverständlich finden sich instruktive Passagen über die Zusammenarbeit mit Siegfried Unseld und dem Suhrkamp Verlag. Dem Kontakt verdankt der Philosoph eine Vielzahl persönlicher Begegnungen mit Autoren wie etwa Max Frisch, Uwe Johnson und Martin Walser, doch wird auch deutlich, dass Habermas zu den ausgewählten Hirnschalen zählte, aus denen der mächtige Verleger getrunken hat.
Apropos Walser. Dass Polemik und Kritik Unkosten mit sich bringen, dass Freundschaften in die Brüche gehen und Porzellan zerschlagen wird, auch diese Begleitumstände einer streitbaren Existenz notiert der Chronist. Vorsichtig gibt Müller-Doohm sogar zu bedenken, Habermas könnte den Bogen mitunter überspannt haben. Aber aus dem Schatten des im Pulverdampf all der Kontroversen ergrauten Gelehrten tritt der Biograf nie heraus. Seine Darstellung stützt sich im Großen und Ganzen auf Texte und Selbstzeugnisse aus der Werkstatt von Habermas. Sie hört zudem auf eingeholte Stellungnahmen ausgesuchter Weg- und Zeitgenossen, die verständlicherweise Partei sind. Und lässt an einer Stelle die Überraschung Studierender zu Wort kommen, die Habermas in einem Münchener Seminar erleben und beeindruckt vom Habitus eines akademischen Lehrers sind, dem Einschüchterungsrhetorik gegen den Strich geht und der zuhört. Jedoch bleibt Müller-Dohm als Interpret seiner Hauptfigur stumm, er rekapituliert deren Lebensgeschichte aus Starnberger Zentralperspektive.
Dass Habermas „ein lebenslustiger und geselliger Mensch“ sei, wie es bezeichnenderweise lediglich in einer Fußnote heißt, die einen seiner alten Freunde zitiert, will angesichts der langen Erzählung seines Biografen nicht so recht einleuchten. Nach der Lektüre bleibt eher der Eindruck, dass Jürgen Habermas ein ungeheuer arbeitsreiches und diszipliniert geführtes Leben darauf verwandt hat, sehr viel zu lesen und nicht weniger viel zu Papier zu bringen. Anders hätte er die Bücher, Aufsätze und Vorträge nicht verfassen, die Reden und öffentlichen Auftritte nicht absolvieren können, die ihn zu einem Intellektuellen gemacht haben, der mit Preisen – nach einem bösen Wort des Historikers Perry Anderson – so behängt ist wie die ordensbestückte Brust eines sowjetischen Generals aus der Breschnew-Ära. Englische Frechheiten dieses Typs hätten Müller-Doohms Buch sicherlich gesalzen, doch muss man sie in Wahrheit nicht vermissen. Was freilich fehlt, ist das innehaltende Erstaunen darüber, wie unwahrscheinlich das Leben des Menschen verlaufen ist, der am 18. Juni 1929 in Düsseldorf zur Welt kam.
„ . . . trachte immer danach,
das Werk eines Genies
zu kritisieren.“
Dass dem Kanzler Schröder
„alles Normative Wurscht“ war,
ist Habermas nicht entgangen
Ein „lebenslustiger und geselliger Mensch“: Jürgen Habermas, geboren am 18. Juni 1929 in Düsseldorf.
Foto: Regina Schmeken
Stefan Müller-Doohm:
Jürgen Habermas. Eine
Biographie. Suhrkamp
Verlag, Berlin 2014.
750 Seiten, 29,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Lehrer ohne Einschüchterungsrhetorik: Pünktlich zum 85. Geburtstag des Sozialphilosophen Jürgen Habermas
schildert Stefan Müller-Doohm dessen Lebensgeschichte aus Starnberger Zentralperspektive
VON MARTIN BAUER
Stefan Müller-Doohm, emeritierter Professor für Soziologie, der in den Sechzigerjahren die Bank der Frankfurter Schule gedrückt hat, bleibt bei seinem Leisten. Nachdem er 2003 eine voluminöse Adorno-Biografie veröffentlicht hat, die für ihre sorgfältige Recherche und die Zuverlässigkeit in werk- wie lebensgeschichtlichen Details gepriesen wurde, legt er nun, pünktlich zum 85. Geburtstag, eine weit über siebenhundert Seiten starke Biografie vor, deren Protagonist Jürgen Habermas ist. Nach dem Lehrer, über den Habermas gesagt hat, er sei „das einzige Genie“ gewesen, das ihm in seinem Leben begegnet sei, porträtiert Müller-Doohm den mit Abstand bedeutendsten Schüler. Die Schrittfolge ist stimmig und das Resultat des delikaten Unterfangens, zu Lebzeiten eine Biografie zu verfassen, fällt gediegen aus. Gut informiert, erteilt Müller-Doohm in seinem Buch Auskunft über Leben und Werk des heute in Starnberg lebenden Sozialphilosophen. Es verweigert jeden Blick durchs Schlüsselloch und schreitet am sicheren Leitfaden der Chronologie die verschiedenen Lebensstationen und die Werkgeschichte ab. In seiner respektvollen Diskretion verzichtet der für seine Aufgabe gut gerüstete Biograf allerdings darauf, ein durch die langjährige Beschäftigung inspiriertes und eigenständiges Porträt des Mannes zu zeichnen, der der „Kritischen Theorie“ ein neues Gesicht gegeben hat.
Müller-Doohms Blick wandert von der ersten zur zweiten Generation der Frankfurter Schule. Damit geht es nicht mehr um jüdische Intellektuelle, deren formative Jahre in die Weimarer Zwischenkriegszeit fielen und die der aufkommende Nationalsozialismus in die Emigration zwang. Sie hatten sowohl Karl Marx als auch Max Weber gelesen. Unorthodoxe Vertreter des historischen Materialismus, die sie waren, zielte ihre Kritik auf den Kapitalismus wie den Liberalismus. Die bürgerliche Gesellschaft hatte dem Faschismus nicht widerstanden. In Jürgen Habermas rückt demgegenüber ein Philosoph und Soziologe in den Vordergrund, der aus protestantischem Elternhaus stammt. Seine Gummersbacher Jugend erlebt er in der Endphase des Dritten Reiches. Persönliche Ausgrenzungserfahrungen, die nachwirken, sind zu verarbeiten. Der Schüler wird für etwas gehänselt, das Lehrbücher der Zeit verächtlich einen „Wolfsrachen“ nennen. Sein Studium absolviert er, von einem Auslandssemester in Zürich abgesehen, in Göttingen und Bonn, das heißt im restaurativen Klima der Adenauer-Jahre.
Neben der Philosophie, für die er schon frühzeitig eine außergewöhnliche Begabung gezeigt hatte, ist der junge Habermas an Theater, Kino und moderner Malerei interessiert. Nach einem journalistischen Intermezzo kehrt er in die akademische Welt zurück, wird Mitarbeiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Assistent von Theodor W. Adorno. Der Direktor des Instituts, Max Horkheimer, begegnet Habermas, der sich jetzt intensiv in die Kritische Theorie einarbeitet, mit Vorbehalten: „Der hat eine Hasenscharte und kann daher nicht lehren, also ist er nur für die Forschung gut.“ Eine aparte Ironie will, dass die Frankfurter Universität Habermas nach Umwegen über Marburg und Heidelberg als Nachfolger auf den vormaligen Lehrstuhl Horkheimers beruft. Spätestens seit Mitte der Sechzigerjahre avanciert der Frankfurter Sozialphilosoph zu einer
linksliberalen Stimme innerhalb der Bundesrepublik, die sich auch deshalb erfolgreich Gehör verschaffen kann, weil sie, trotz aller Einsprüche und Kontroversen, aus der republikanischen Identifikation mit den normativen Grundlagen des Gemeinwesens argumentiert. Diese Haltung wird Habermas als „Verfassungspatriotismus“ auf einen Begriff bringen, den der altliberale Politologe Dolf Sternberger geprägt hatte.
Ein Ratschlag, um den Habermas anlässlich der Verleihung des Kyoto-Preises gebeten wurde, wirft sowohl Licht auf sein Verhältnis zu Adorno, als auch auf seine eigene intellektuelle Statur. Gefragt nach einem Leitsatz für die Jugend, antwortete Habermas im November 2004: „Vergleiche dich nie mit einem Genie, aber trachte immer danach, das Werk eines Genies zu kritisieren.“
Als hätte Müller-Doohm die Maxime zum Wink genommen, stellt er Jürgen Habermas in der Tätigkeit des ingeniösen Kritikers vor. Der kritisiert als junger Mann, mit 24 Jahren gerade frisch promoviert, einen Heidegger, der acht Jahre nach Kriegsende verstockt genug ist, einen älteren Vorlesungstext kommentarlos zu veröffentlichen, in dem von „der inneren Wahrheit und Größe“ der nationalsozialistischen Bewegung die Rede ist. Der „Mit Heidegger gegen Heidegger“ überschriebene Artikel erscheint ganzseitig in „Bilder und Zeiten“, der Wochenendbeilage der Frankfurter Allgemeinen. Er verursacht einige Aufregung.
Doch geht Habermas nicht nur mit dem Philosophen hart ins Gericht, unter dessen Einfluss er gerade noch seine Dissertation über den spätidealistischen Philosophen Schelling verfasst hatte. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten wird er auch den Marxismus der Gründungsväter der Kritischen Theorie kritisieren, den Positivismus in den Sozialwissenschaften, die traditionelle Wissenschaftstheorie, die Bewusstseins- und Subjektphilosophie im Geiste des linguistic turn, die Systemtheorie Luhmanns, den französischen Strukturalismus und Poststrukturalismus, die Halbierung des Projekts der Moderne, den Naturalismus und Szientismus als verdeckte Restmetaphysiken in der entzauberten Welt, schließlich mit wiedererwachtem Interesse an religionssoziologischen und -philosophischen Problemstellungen einen allzu triumphierenden Säkularismus des Westens.
Freilich ist Kritik nicht nur das Medium, in dem Habermas Zug um Zug eine systematisch angelegte Gesellschaftswissenschaft artikuliert, die in Gestalt seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ sondiert, wie es um die Bedingungen und Chancen vernünftiger Verständigungsverhältnisse in der sozialen Welt steht. Dass er derartige Verhältnisse nicht nur theoretisch reflektiert, sondern auch praktisch fordert, macht ihn zu einem hellwachen Zeitgenossen, der durch seine Stellungnahmen politisch eingreift. So schaltet sich der Professor als Bürger „nebenberuflich“ ein und kritisiert den politischen Voluntarismus („Linksfaschismus“) von Teilen der Studentenbewegung, einige Zeithistoriker, die sich an der Entsorgung der NS-Vergangenheit versuchen, die Modalitäten der deutschen Wiedervereinigung, eine gespenstische Sonntagsrede in der Paulskirche, gewisse Positionen in der Debatte um die Errichtung des Holocaustdenkmals, ein erbauliches Plädoyer für zupackende Eugenik, das in einem bayerischen Fünf-Sterne-Hotel zum Vortrag kam, die europäische Einigung als ein technokratisches Unternehmen, dem es an demokratischer Legitimierung gebricht. Und mit all dem kritisiert sich Habermas selbstverständlich auch selbst, korrigiert Positionen, die er einmal bezogen hat, im Prozess kontinuierlicher Selbstrevision jedoch aufgibt, weil sich bessere Argumente einstellten.
Mit ermüdungsfreier Konzentration setzt Müller-Doohm seine Leserschaft über Themen, Kontexte, Bühnen, auch über das Personal der Debatten ins Bild. Gelegentlich fragt man sich, wie wichtig die Einzelheiten sind, gelegentlich – zumal bei philosophischen Auseinandersetzungen – wünscht man sich, die Antagonisten von Habermas kämen ausführlicher zu Wort. Immerhin werden die kontroversen Reaktionen auf seine Rechtfertigung des Kosovo-Einsatzes der Vereinten Nationen gründlich dokumentiert. Auch im Rückblick hält Habermas an dem Grundsatz fest, der ihn die militärische Gewaltanwendung hatte legitimieren lassen. Bei aller Ohnmacht des Sollens ist die aus Kantischer Sicht entworfene Utopie unaufgebbar, wonach das Völkerrecht in ein Weltbürgerrecht überführt werden müsse. Humanitäre Interventionen dürfen für den Rechtsphilosophen Habermas als polizeiliche Maßnahmen einer zukünftigen Weltinnenpolitik auf Zustimmung rechnen. Einer seiner aufmerksamen Leser stand damals dem Auswärtigen Amt vor. Dass dem Kanzler hingegen „alles Normative Wurscht“ sei, ist Habermas nicht entgangen, wie eine pointierte Bemerkung zu Gerhard Schröder aus dem Frühjahr 1999 belegt.
Ein „polemisches Talent“ zu sein hat sich Habermas höchstselbst attestiert. Seinen Ruhm hat er sich nicht zuletzt durch scharfsinnige, wortmächtige, eben meinungsstarke Zuspitzungen erworben; mutmaßlich aber auch durch einen geschickten Umgang mit diversen Medien. Über diese Rückseite seiner publizistischen Präsenz ist in Müller-Doohms Biografie überraschend wenig zu erfahren – mit einer Ausnahme: Selbstverständlich finden sich instruktive Passagen über die Zusammenarbeit mit Siegfried Unseld und dem Suhrkamp Verlag. Dem Kontakt verdankt der Philosoph eine Vielzahl persönlicher Begegnungen mit Autoren wie etwa Max Frisch, Uwe Johnson und Martin Walser, doch wird auch deutlich, dass Habermas zu den ausgewählten Hirnschalen zählte, aus denen der mächtige Verleger getrunken hat.
Apropos Walser. Dass Polemik und Kritik Unkosten mit sich bringen, dass Freundschaften in die Brüche gehen und Porzellan zerschlagen wird, auch diese Begleitumstände einer streitbaren Existenz notiert der Chronist. Vorsichtig gibt Müller-Doohm sogar zu bedenken, Habermas könnte den Bogen mitunter überspannt haben. Aber aus dem Schatten des im Pulverdampf all der Kontroversen ergrauten Gelehrten tritt der Biograf nie heraus. Seine Darstellung stützt sich im Großen und Ganzen auf Texte und Selbstzeugnisse aus der Werkstatt von Habermas. Sie hört zudem auf eingeholte Stellungnahmen ausgesuchter Weg- und Zeitgenossen, die verständlicherweise Partei sind. Und lässt an einer Stelle die Überraschung Studierender zu Wort kommen, die Habermas in einem Münchener Seminar erleben und beeindruckt vom Habitus eines akademischen Lehrers sind, dem Einschüchterungsrhetorik gegen den Strich geht und der zuhört. Jedoch bleibt Müller-Dohm als Interpret seiner Hauptfigur stumm, er rekapituliert deren Lebensgeschichte aus Starnberger Zentralperspektive.
Dass Habermas „ein lebenslustiger und geselliger Mensch“ sei, wie es bezeichnenderweise lediglich in einer Fußnote heißt, die einen seiner alten Freunde zitiert, will angesichts der langen Erzählung seines Biografen nicht so recht einleuchten. Nach der Lektüre bleibt eher der Eindruck, dass Jürgen Habermas ein ungeheuer arbeitsreiches und diszipliniert geführtes Leben darauf verwandt hat, sehr viel zu lesen und nicht weniger viel zu Papier zu bringen. Anders hätte er die Bücher, Aufsätze und Vorträge nicht verfassen, die Reden und öffentlichen Auftritte nicht absolvieren können, die ihn zu einem Intellektuellen gemacht haben, der mit Preisen – nach einem bösen Wort des Historikers Perry Anderson – so behängt ist wie die ordensbestückte Brust eines sowjetischen Generals aus der Breschnew-Ära. Englische Frechheiten dieses Typs hätten Müller-Doohms Buch sicherlich gesalzen, doch muss man sie in Wahrheit nicht vermissen. Was freilich fehlt, ist das innehaltende Erstaunen darüber, wie unwahrscheinlich das Leben des Menschen verlaufen ist, der am 18. Juni 1929 in Düsseldorf zur Welt kam.
„ . . . trachte immer danach,
das Werk eines Genies
zu kritisieren.“
Dass dem Kanzler Schröder
„alles Normative Wurscht“ war,
ist Habermas nicht entgangen
Ein „lebenslustiger und geselliger Mensch“: Jürgen Habermas, geboren am 18. Juni 1929 in Düsseldorf.
Foto: Regina Schmeken
Stefan Müller-Doohm:
Jürgen Habermas. Eine
Biographie. Suhrkamp
Verlag, Berlin 2014.
750 Seiten, 29,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Martin Seel "verschafft" die vorliegende "voluminöse Sammlung" des Habermas gewidmeten Freiburger Forums das "Vergnügen", einen kurzen Kommentar Habermas zu seiner Veröffentlichung "Erkenntnis und Interesse" zu lesen. Nach einem Referat der Ausführungen Habermas erfahren wir, dass Habermas "in seiner unbegeisterten Lektüre am Ende doch zu einem positiven Resümee" kommt. Schön gesagt, aber worin liegt da das Vergnügen? Leider erfahren wir auch nicht, ob die weit aus umfassendere Anzahl der anderen Beiträge dieses Sammelbandes dem Rezensenten ein ebensolches "unbegeistertes" Vergnügen geboten haben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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