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Der rassistische Anschlag von Hanau, bei dem neun Menschen ermordet wurden, hat die Spaltungen unserer Gesellschaft brutal sichtbar gemacht. Viele Deutsche mit Migrationsgeschichte fühlen sich wieder als Ausländer, denn sie wissen: Der Attentäter hat auch sie gemeint. Was bedeutet es, »Ausländer« zu sein in einem Land, das man als seine Heimat empfindet? Wie hat Einwanderung Deutschland verändert - und die Migranten? Und wie können wir Unterschiede wertschätzen und zugleich Gemeinsamkeiten finden? Davon erzählt Cigdem Toprak anhand ihrer eigenen Geschichte und einer Vielzahl von Gesprächen,…mehr

Produktbeschreibung
Der rassistische Anschlag von Hanau, bei dem neun Menschen ermordet wurden, hat die Spaltungen unserer Gesellschaft brutal sichtbar gemacht. Viele Deutsche mit Migrationsgeschichte fühlen sich wieder als Ausländer, denn sie wissen: Der Attentäter hat auch sie gemeint. Was bedeutet es, »Ausländer« zu sein in einem Land, das man als seine Heimat empfindet? Wie hat Einwanderung Deutschland verändert - und die Migranten? Und wie können wir Unterschiede wertschätzen und zugleich Gemeinsamkeiten finden? Davon erzählt Cigdem Toprak anhand ihrer eigenen Geschichte und einer Vielzahl von Gesprächen, die sie mit Menschen aus Einwandererfamilien geführt hat.
Dieses Buch beruht auf Gesprächen mit den Rappern Celo & Abdï, der Influencerin Gözde Duran, dem DFB-Integrationsbeauftragten Cacau, der Hip-Hop-Promoterin Marina Buzunashvilli, dem Regisseur Neco Celik, der Boxweltmeisterin Nikki Adler und dem Boxweltmeister Jack Culcay, dem Friseur und Unternehmer Shan Rahimkhan, dem Model und Influencer Kaan Tosun, dem Sneaker-Designer Hikmet Sugör, dem Hip-Hop-Produzenten Mohamad Hoteit (aka The Royals), den Dulatov-Brüdern - Models und Mixed-Martial-Arts-Kämpfer -, dem Labelbetreiber Syn und vielen anderen.
Autorenporträt
Jahrgang 1987, ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Sie hat Politikwissenschaft in Darmstadt und Konfliktforschung in Istanbul studiert und ihren Master am King's College in London gemacht. Derzeit promoviert sie an der LMU München in Politischer Theorie über Identitätspolitik. Seit 2013 schreibt sie als freie Journalistin u. a. für Die Welt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Zeit Online, Tagesspiegel, Jüdische Allgemeine und Neue Zürcher Zeitung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.10.2020

Zwischen den Welten

Die junge Deutschtürkin Cigdem Toprak hat für ein Buch über die Migrantenerfahrung hierzulande viele aus ihrer Community interviewt - und ein neues Lebensgefühl gefunden. Ein Vorabdruck.

Wenn wir als Kinder die Tür unserer Wohnung hinter uns schlossen und auf die Straße gingen, standen wir in einer anderen Welt. Die Regeln, die wir von unserem türkischen Zuhause kannten, verloren dort ihre Gültigkeit. In unseren vier Wänden gehorchten wir den Eltern, wir mussten ohne Wenn und Aber akzeptieren, dass traditionelle Vorstellungen darüber bestimmten, wie unser Leben aussehen sollte. Es waren dieselben Vorstellungen, nach denen schon unsere Eltern aufgewachsen waren.

Die deutsche Realität wiederum passte nicht in unsere türkischen Wohnzimmer. Stand bei uns die Familie an erster Stelle, war es in der Welt draußen die Leistung. In der Schule empfanden wir den antiautoritären Erziehungsstil der Lehrer als Schwäche, anders als zu Hause wurden wir hier nach unserer Meinung gefragt und sollten uns eigene Gedanken über unsere Zukunft machen.

In der deutschen Welt fühlten wir uns oft fremd und ausgegrenzt. Wir gehörten nicht dazu. Zwischen den Deutschen und uns gab es eine dicke fette Linie. Sie zu überschreiten erschien undenkbar. "Bei uns gibt es das nicht" lautete ein Standardsatz, der uns ermahnen und zugleich erklären sollte, dass wir nicht wie die Deutschen zu leben haben. Dass das auch gut so ist. Dass niemand etwas dafür kann. Wenn wir mit unseren Eltern darüber stritten, was wir durften und was wir nicht durften, dann war es kein Streit zwischen Eltern und Kindern, sondern ein Streit zwischen der deutschen und der türkischen Kultur. Dabei fehlte es uns nicht an Liebe, wohl aber an Freiheit.

Niemanden schien es wirklich zu kümmern, dass wir zwischen den Welten hin- und hergerissen waren. Vorbilder, die uns einen Weg gezeigt hätten, wie wir diese Welten vereinbaren konnten, gab es kaum. Und das machte uns das Leben schwer, weil wir weit davon entfernt waren, zu akzeptieren, dass wir nur einer Welt angehören sollten. Vielmehr waren das Deutsche und das Migrantische stets in uns vereint.

Als ich in meiner hessischen Heimatstadt aufs Gymnasium ging, machte ich in meinen Aufsätzen keine Rechtschreib- oder Grammatikfehler, im Diktat bekam ich regelmäßig eine Eins. Deutsch belegte ich als Leistungskurs, weil ich die deutsche Literatur liebte. Und dann das: Ausgerechnet im Leistungskurs erzählte ich einer Mitschülerin: "Gestern war ich Hattersheim." Ein Junge neben uns lachte auf und sagte: "Cigdem, wo ist die Präposition hin?" Nicht beim Schreiben, aber beim Sprechen hörte man heraus, welcher sozialen Welt ich angehörte. Geschämt dafür habe ich mich nie.

Bevor ich Journalistin wurde, habe ich die Deutschen gehasst. Das lag auch am Nationalsozialismus. Bereits als Kind fing ich an, mich damit zu beschäftigen; ich war noch viel zu jung, als ich gemeinsam mit meiner Tante "Schindlers Liste" schaute, daraufhin las ich "Das Tagebuch der Anne Frank", zweimal. Und weil ich von den Deutschen Ausgrenzung, Diskriminierung und rassistische Bemerkungen ertragen musste, begann ich, mich ihnen moralisch überlegen zu fühlen, schaute regelrecht auf sie herab.

Tatsächlich waren es vor allem die Deutschen auf meinem Gymnasium, die ich gehasst habe. Dort gab es nur wenige "Ausländer", wie wir uns damals nannten; auch die anderen bezeichneten uns so. Ich hasste meine deutschen Mitschüler dafür, dass sie so elitär waren, so unsolidarisch, so neidisch. Hier waren die Deutschen nicht so korrekt und ordentlich, wie man mir immer erzählte, stattdessen herrschte ein unfairer Wettbewerb, eine Ellbogenkultur, ein ständiges Sich-Erheben über andere. Männer fühlten sich den Frauen überlegen, Deutsche den Ausländern, Reiche den Armen, die vermeintlich Coolen den Alternativen.

Uns Ausländern gegenüber verhielten sich meine Mitschüler besonders übel. Sie beschwerten sich bei den Lehrern, wenn wir bessere Noten hatten als sie, sie lachten mich aus, weil ich nicht auf Klassenfahrten durfte, und stempelten mich als "rückständig" ab. Fremdenfeindlichkeit und Rassismus waren dabei sicher im Spiel, aber sie irritierte auch mein selbstbewusstes Auftreten. Denn sie glaubten, man müsse still, unsicher und eingeschüchtert sein, weil man eine Frau ist, natürlich nichts anderes als patriarchalische Verhältnisse kennt, und weil die Eltern keine Akademiker, sondern Arbeiter sind. Dabei hatten sie nicht den blassesten Schimmer, auf welche Ressourcen wir zurückgreifen konnten.

Unter Ausländern

Ähnlich wie andere Jugendliche aus türkischen oder arabischen Haushalten zog es mich nach der Schule auf die Straße, meistens gingen wir in die Stadt. Wir bildeten eine Community, in der eigene Codes, eigene Normen und Werte herrschten. Wenn wir überhaupt Markenkleidung trugen wie unsere deutschen Klassenkameraden, waren es Nike- oder Puma-Schuhe; manchmal schenkten wir uns unter Freunden gefälschte aus Marokko oder der Türkei, die wir dort günstig auf dem Basar ergattert hatten. Ab und zu gingen wir bei den "Pakis" einkaufen - günstige Kleidung und Schuhe aus Bangladesch oder China. Wir trafen uns nicht, um zu saufen. Wir gingen zum Asiaten, gebratene Nudeln essen oder Kaffee trinken, und redeten über Gott und unser Leben. Vor allem: Wir hielten zueinander.

Immer wieder zog es mich zu den Berufsschulen oder Hauptschulen, auf die meine Freunde und Bekannten gingen. Sich gegenseitig auf den Schulen zu besuchen war etwas, was wir "Ausländer" gerne machten. Meine Cousine war oft bei mir auf der Schule. Meine Lehrer hatten meist nichts dagegen, dass sie, die auch auf ein Gymnasium, später auf eine Realschule ging, sich zu uns setzte.

Als ich einmal die Hauptschulklasse einer anderen Cousine besuchte, war ich schockiert: Keiner hörte der Lehrerin zu. Ein Junge musste niesen, ich warf ihm eine Packung Taschentücher zu, er bedankte sich freundlich. Ich konnte es kaum glauben: Ein deutscher Junge war nett zu mir. Einfach so. Die Lehrerin ermahnte ihn, er wurde bestraft, weil er den Unterricht gestört hatte, um sich bei mir zu bedanken. Als ich sagte, dass es doch meine Schuld gewesen sei, lächelte mich der Junge an: "Alles gut. Du bist hier Gast." Und ich spürte einen Zusammenhalt, eine Solidarität, die ich von meiner Schule nicht kannte.

Nach den Verhältnissen auf den Hauptschulen sehnte ich mich. Einmal wagte es ein türkischer Schüler, mit seinem BMW vor unserer Schule vorzufahren, weil er einen Freund besuchen wollte. Sofort kommentierte irgendein Daniel: "Er kommt mit dem BMW, hat aber nur einen Hauptschulabschluss." Seine Freunde um ihn herum lachten laut auf.

So langsam erst merkte ich, dass ich mehr hätte bringen müssen als nur gute Noten. Ich hätte mir den Habitus der elitären Jugend aneignen müssen. Aber dagegen wehrte ich mich. Ich fühlte mich bei meinen Freunden wohl, die schlechte Noten hatten, aber mehr über das Leben wussten als die Einser-Kandidaten in meiner Klasse, die in frisch gebügelten Hemden im Unterricht erschienen, in den Pausen aber Gras rauchten und an den Wochenenden Kokain zogen.

Einmal nannte mich ein Junge aus meinem Jahrgang eine "türkische F---e", die keine Freunde habe. Als ich das meiner Cousine erzählte, sagte sie: "Jetzt reicht es." In ihrer Freistunde machte sie sich mit ihrer besten Freundin auf den Weg zu meiner Schule. Unterwegs trafen sie zwei Freunde, einen mit türkischen, einen mit iranischen Wurzeln. Beide schlossen sich ihnen an. Ich selbst war im Unterricht und hatte keine Ahnung, was da vor sich ging. Den vieren gelang es tatsächlich, meinen Mitschüler zu finden und zur Rede zu stellen. Einer der beiden Freunde warnte ihn: "Du lässt meine Cousine ab jetzt in Ruhe!" Als mein Mitschüler, der wesentlich größer war, irgendetwas erwiderte, gab er ihm eine Kopfnuss auf die Nase.

Danach wurde ich endlich in Ruhe gelassen. Meine deutschen Mitschüler zeigten Respekt. Doch gleichzeitig schienen sie Genugtuung zu verspüren. Endlich hatten sie auch den Lehrern demonstrieren können, dass ich zwar gute Noten bekommen mochte, aber eben doch eine Kanakin blieb, die Konflikte so löste, wie man es in ihrem Milieu tat. Ich gehörte eben auf die Straße. Ich war entlarvt.

Dass ich nicht mehr die Zielscheibe meiner Mitschüler war, führte dazu, dass ich mich endlich auf mich selbst konzentrieren konnte. Neben mich setzten sich fortan Jungen und Mädchen mit und ohne sichtbaren Migrationshintergrund, die wie ich Probleme mit den arroganten Mitschülern hatten. Ich hatte Freunde gefunden, die mich so nahmen, wie ich bin.

Angst vor der Freiheit

Zugegeben, ich habe es meinen Mitschülern auch nicht einfach gemacht. In mir steckten jede Menge Wut und Enttäuschung, die ich an ihnen ausließ. Dabei fragte ich mich dauernd: Warum? So ein Mensch bin ich eigentlich gar nicht. Aber zu oft gab es Momente, in denen ich die Welt nicht verstand. Als ich kürzlich in meiner Heimatstadt zufällig meinen ehemaligen Deutsch- und Klassenlehrer traf, sagte er: "Cigdem, das war so klar, du hast in einem Identitätskonflikt gesteckt."

Wir reagierten darauf, indem wir auch für unsere Eltern und Lehrer frech und ungezogen waren. Die strengen Regeln meines Vaters überforderten mich. Keine Klassenfahrten, keine Partys; oft durfte ich nicht an den Geburtstagen meiner engsten Freundinnen teilnehmen. Ich wurde nicht unterdrückt, nur zu stark beschützt: vor Drogen, vor schlechten Erfahrungen, davor, auf Abwege zu geraten. Wenn man mich nicht kontrollierte, würde ich womöglich von zu Hause abhauen und meine Familie hinter mir lassen.

Die Angst, uns zu verlieren, war groß. Größer als der Mut unserer Eltern, uns Kinder frei leben zu lassen. Die Angst vor Freiheit - sie konnte ich immer in den Augen meiner Eltern und Verwandten sehen. Sie wussten nicht, was danach kommt, nach der Freiheit.

Für uns ausländische Mädchen aber ging es vor allem darum: frei zu sein. Und weniger darum, deutsch zu sein. Wir wollten keine Anerkennung, wir wollten Freiheit. Oft dachte ich für einen Moment, warum bin ich nicht als Deutsche auf diese Welt gekommen - dann wäre ich frei. Und diese Momente haben weh getan. Weil es einfach unvorstellbar war.

Genauso groß wie die Sehnsucht nach Freiheit war jedoch die Angst, beim freien Leben erwischt zu werden. Zu Hause machten wir den CD-Player leiser, wenn Lil' Kim in "Whoa" laut aufstöhnte; wir riefen die Jungs nicht an, sondern ließen bei ihnen klingeln, damit sie uns anriefen und ihre Rufnummern nicht in unseren Handyrechnungen auftauchten.

Mit den Jahren änderte sich etwas. Klar, ich wurde älter und konnte meinen eigenen Lebensweg gegenüber meinen Eltern und meiner Community verteidigen. Aber da war noch etwas: Deutschland wurde meine Heimat. Vorher war es nur mein Geburtsland gewesen. Mit dem Älterwerden wurden wir Menschen mit Migrationsgeschichte deutscher.

Auch in meiner Familie und meinem Bekanntenkreis fand ein Umdenken statt. Sie verstanden, warum deutsche Familien sich wünschen, dass ihre Kinder im Erwachsenenalter ausziehen, verstanden, dass es gut ist, wenn ihre Kinder und insbesondere ihre Töchter auf eigenen Beinen stehen. Und auch das Gefühl des Fremdseins hat sich durch die Generationen hindurch verändert. Meine Tante hat sich fremder gefühlt als heute meine jüngere Cousine.

In meiner Jugend war es nicht vorstellbar, dass ich eines Tages mit meinen Eltern darüber sprechen würde, wo ich allein, ohne sie, ohne einen Ehemann, wohnen könnte. Man kann es Integration nennen, aber meine Eltern haben sich nie bewusst darum bemüht. Es war ein Prozess, den sie selbst gerne angenommen haben.

Die größte Angst unserer Eltern war ja nicht, dass sie ihre Kultur oder Wurzeln verlieren, sondern uns. Und es war nicht das "Deutsche", das sie ablehnten, sondern die traurige Seite einer stark individualisierten Leistungsgesellschaft, die darin bestand, für den Wohlstand auf enge zwischenmenschliche Beziehungen zu verzichten und seine Zeit mehr der Arbeit zu widmen als der Familie und Freunden. All das wurde uns erst später bewusst.

Je mehr meine Elterngeneration die Deutschen kennenlernte, je mehr sie die deutsche Kultur verstand, desto stärker fühlte sie sich mit ihr verbunden. Sie konnte differenzieren. Sie konnte wählen. Zwischen dem, was ihr am Deutschsein gefällt, und dem, was sie ablehnen beziehungsweise von ihrer eigenen Kultur beibehalten wollte. Inzwischen schwärmt mein Onkel - ehemaliger Kumpel in Nordrhein-Westfalen und heute Rentner in der Westtürkei - vom deutschen Pfandsystem. Und mein Vater hat es sich zur Angewohnheit gemacht, in der Türkei Beschwerdebriefe zu schreiben.

So sagt man "Nein"

Auch öfter "Nein" zu sagen, zumal innerhalb der Familie, haben wir von "den Deutschen" gelernt. Unsere Eltern fühlen sich ebenfalls erleichtert: Sie dürfen auch mal an sich denken, sie müssen nicht ihr Leben für uns opfern, sie dürfen auch zu uns "Nein" sagen.

Früher als Jugendliche empfingen wir Verwandte, die uns besuchten, persönlich und servierten ihnen Tee. Damit sollten wir nicht nur der Gastfreundlichkeit gerecht werden, sondern auch zeigen: Wir sind keine verlorenen Kinder der Migration, die sich von ihren Wurzeln und ihren Eltern abgewendet haben. Jetzt ist es kein Zwang mehr.

So wie die Deutschen lernten, dass Migranten und ihre Kinder unterschiedlich sind, haben auch meine Eltern verstanden, dass Deutsche nicht alle gleich sind. "Die Deutschen" - das gibt es nicht. Es gibt sehr wohl Menschen mit deutschen Wurzeln, die Familiensinn und konservative Werte haben. Unsere Eltern mussten auch schmerzlich erfahren, dass sie von "ihren eigenen Leuten" enttäuscht wurden, dass ihnen der deutsche Nachbar manchmal nähersteht als der eigene Landsmann.

Wir haben uns verändert. Als ich die 11-jährige Tochter meines Cousins aus Neukölln fragte, ob sie sich mehr türkisch oder russisch fühlt, weil ihre Mutter russische Wurzeln hat, antwortete sie mit: "Hä?" Sie verstand nicht, was ich damit meinte, weil sie offenbar nie das Gefühl gehabt hatte, sich für irgendetwas entscheiden zu müssen.

Diese Selbstverständlichkeit hat mir lange gefehlt. Erst vor einigen Jahren ist mir klargeworden, dass ich immer in beide Welten gleichzeitig gehört habe. Es bestand gar keine Notwendigkeit, eine von beiden aufzugeben oder abzulehnen.

Die Biographien, der Alltag und die Ansichten von Menschen mit Migrationshintergrund sind komplexer, als sie in den deutschsprachigen Medien dargestellt werden. Es gibt ein neues deutsches Lebensgefühl, das von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund getragen wird. Diesem Land fühlen sich so viele Menschen mit Migrationsgeschichte zugehörig wie nie zuvor. Es ist auch unser Land.

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