Zum Begräbnis seiner Mutter kehrt Edmund in sein Elternhaus in Nordengland zurück, wo sein Bruder Otto, dessen Frau Isabel, ihre Tochter Flora und einige Hausangestellte leben, darunter auch das italienische Mädchen, das - selbst kaum älter als Edmund - ihn und seinen Bruder schon von klein auf als Kinderfräulein betreut hat. Doch Edmund findet sich bald in vielerlei Gefühlsverstrickungen gefangen, alten und neuen; die einen die lastende Nachwirkung des tyrannischen Regimes der verstorbenen Mutter; die anderen ausgelöst durch ein russisches Geschwisterpaar, Flüchtlinge, die auf dem Anwesen der Familie leben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.01.1998Ottos Faust auf Edmunds Nase
Kammerspiel mit Moral: Ein früher Roman von Iris Murdoch
"Kein Mensch hat ein Recht auf Glück und schon gar nicht das Recht, auf dem Leben anderer herumzutrampeln", doziert Edmund, Anfang Vierzig, Vegetarier, Graveur. Edmund hält auf seine Tugenden, seitenweise flaggt er Pflicht, Ehrlichkeit, Enthaltsamkeit und Anstand. Gerade fängt der Leser an, die Geduld zu verlieren, da landet ein Faustschlag auf Edmunds Nase. Sein Bruder Otto, Steinmetz, fett, lüstern, hat ihn gesetzt: "Es war sowieso Zeit, daß mir mal jemand eine reinhaut." Iris Murdoch führt ihren Edmund ohne Umschweife zur Erkenntnis. Und nicht nur ihn.
Sieben Personen treffen in dem 1964 erschienenen Roman "Das italienische Mädchen" zusammen: die Gebrüder Otto und Edmund, Ottos Frau Isabel und ihre gemeinsame Tochter Flora, ein geheimnisvolles russisches Geschwisterpaar, David und Elsa, schließlich das titelgebende Dienstmädchen. Maggie schnappt in der Küche alle Dialoge auf und behält in dem folgenden Knäuel der Ereignisse als einzige den Überblick. Der Plot trägt die Züge einer Kolportage: Otto betrügt seine Frau Isabel mit Elsa, Isabel ihren Mann mit David, der aber schwängert Flora. Alle Beteiligten ziehen Edmund ins Vertrauen, der die Rolle des Vermittlers annimmt, sich aber töricht verhält. Ein Testament, in dem das Dienstmädchen zur Alleinerbin des Hauses ernannt wird, vervollständigt das Tableau. Am fünften Tag der Zusammenkunft stirbt Elsa in einem dramatischen Finale. Die Krise läßt die Überlebenden geläutert zurück, sie packen ihre Koffer und fahren einer besseren Zukunft entgegen.
Man erinnert sich bei der Lektüre von "Das italienische Mädchen" daran, daß Iris Murdoch auch Dramatikerin ist. Die Intrige mit ihren raschen, wortreichen Wendungen könnte aus einem Kammerspiel des achtzehnten Jahrhunderts stammen. Iris Murdoch bedient das Genre mit der Dreiteilung des Romans, raschen Dialogen, szenenartigen Auf- und Abtritten, geschlossenen Schauplätzen wie Isabels plüschigem Boudoir. Auch der geistige Horizont des Romans entspricht dem eines klassischen Dramas. Gesellschaftliche Konventionen regeln die Beziehung der Geschlechter, wer sie mißachtet, stiftet Chaos. Die Figuren sagen, was sie denken, und die Rede zielt darauf ab, ihren jeweiligen Winkel der Welt zu verteidigen: Edmund besteht auf Moral, Flora auf Selbstbestimmung, Isabel und Otto auf der Lust, Elsa und David auf der Freiheit.
"Kunst ist eine moralische Disziplin", schreibt Iris Murdoch in ihrer kürzlich in England veröffentlichten Essaysammlung "Existentialists and Mystics". Dieser Titel erinnert daran, daß die Autorin, die viele Jahre lang in Oxford Philosophie unterrichtete, sich für Sartre und Plato interessiert - Positionen, die in ihrem Roman mit David und Edmund abgesteckt sind. Sie gehen als gleichberechtigte Partner auseinander. David schlägt alle Warnungen Edmunds in den Wind und reist "im Zustand der Wahrheit", wie er sagt, zurück ins kommunistische Leningrad: "Es ist besser, das Falsche aus den richtigen Gründen zu tun, als das Richtige aus den falschen Gründen." Von Iris Murdoch, der Philosophin, wissen wir, daß sie zeitweise dem Kommunismus verbunden war, den Existentialismus Sartrescher Prägung aber ablehnt.
Man darf "Das italienische Mädchen" getrost als philosophischen Roman lesen, der thesenhaft Determinismus und Freiheit, Eros und Moral, Mensch und Gott abwägt und schließlich den Primat der Werte verteidigt. Und doch ist damit nicht alles gesagt, der Text wechselt bei der Lektüre noch einmal die Farbe. Iris Murdoch begnügt sich nicht damit, ihre Figuren als Allegorien auftreten zu lassen; sie charakterisiert genau und füttert dem Geschehen so in der Tiefe Romanstoff zu. Edmund, der Ich-Erzähler, hat sogar eine Vergangenheit, eine schwierige Beziehung zur Mutter. Deren Tod führt ihn zurück in das große Haus im Norden Englands.
Hinter der Oberfläche der Farce schimmert das Gewebe des irischen Big-House-Romans: Zimmer und Garten des Elternhauses konfrontieren Edmund mit seiner Vergangenheit, dem Tod, dem Unbewußten. In ihm werden sexuelle Energien wach, er reift vom Mönch zum Mann. Iris Murdoch stellt dies zügig dar, und doch fällt es schwer, hier mitzugehen: Zu sehr hat man sich an Edmund, den Leitartikler, gewöhnt, um ihn zu später Stunde als Mensch ernst zu nehmen. Es scheint, als hätte die Autorin ähnliche Bedenken gehegt. Durch die Hintertür, in süffisanten Kapitelüberschriften ("Edmund im Märchenwald"), distanziert sie sich von ihrer Hauptfigur. Eine solch zwitterhafte Erzählhaltung, solch ästhetische und stilistische Mannigfaltigkeit ist typisch für Iris Murdoch.
Der Roman war die Übesetzung wert, auch wenn seine Gewichte zwischen Erzählung und Statement nicht immer austariert sind. Seit kurzem ist bekannt, daß Iris Murdoch an Alzheimer erkrankt ist. Das Werk der heute siebenundsiebzigjährigen Grande Dame der britischen Literatur ist also beendet. Nun ist die Zeit der Chronisten gekommen. Mit Interesse blickt man auf Iris Murdochs frühes Schaffen zurück. TANJA LIESKE
Iris Murdoch: "Das italienische Mädchen". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Stefanie Schaffer-de Vries. Deuticke Verlag, Wien und München 1997. 190 S., geb., 34,- DM.
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Kammerspiel mit Moral: Ein früher Roman von Iris Murdoch
"Kein Mensch hat ein Recht auf Glück und schon gar nicht das Recht, auf dem Leben anderer herumzutrampeln", doziert Edmund, Anfang Vierzig, Vegetarier, Graveur. Edmund hält auf seine Tugenden, seitenweise flaggt er Pflicht, Ehrlichkeit, Enthaltsamkeit und Anstand. Gerade fängt der Leser an, die Geduld zu verlieren, da landet ein Faustschlag auf Edmunds Nase. Sein Bruder Otto, Steinmetz, fett, lüstern, hat ihn gesetzt: "Es war sowieso Zeit, daß mir mal jemand eine reinhaut." Iris Murdoch führt ihren Edmund ohne Umschweife zur Erkenntnis. Und nicht nur ihn.
Sieben Personen treffen in dem 1964 erschienenen Roman "Das italienische Mädchen" zusammen: die Gebrüder Otto und Edmund, Ottos Frau Isabel und ihre gemeinsame Tochter Flora, ein geheimnisvolles russisches Geschwisterpaar, David und Elsa, schließlich das titelgebende Dienstmädchen. Maggie schnappt in der Küche alle Dialoge auf und behält in dem folgenden Knäuel der Ereignisse als einzige den Überblick. Der Plot trägt die Züge einer Kolportage: Otto betrügt seine Frau Isabel mit Elsa, Isabel ihren Mann mit David, der aber schwängert Flora. Alle Beteiligten ziehen Edmund ins Vertrauen, der die Rolle des Vermittlers annimmt, sich aber töricht verhält. Ein Testament, in dem das Dienstmädchen zur Alleinerbin des Hauses ernannt wird, vervollständigt das Tableau. Am fünften Tag der Zusammenkunft stirbt Elsa in einem dramatischen Finale. Die Krise läßt die Überlebenden geläutert zurück, sie packen ihre Koffer und fahren einer besseren Zukunft entgegen.
Man erinnert sich bei der Lektüre von "Das italienische Mädchen" daran, daß Iris Murdoch auch Dramatikerin ist. Die Intrige mit ihren raschen, wortreichen Wendungen könnte aus einem Kammerspiel des achtzehnten Jahrhunderts stammen. Iris Murdoch bedient das Genre mit der Dreiteilung des Romans, raschen Dialogen, szenenartigen Auf- und Abtritten, geschlossenen Schauplätzen wie Isabels plüschigem Boudoir. Auch der geistige Horizont des Romans entspricht dem eines klassischen Dramas. Gesellschaftliche Konventionen regeln die Beziehung der Geschlechter, wer sie mißachtet, stiftet Chaos. Die Figuren sagen, was sie denken, und die Rede zielt darauf ab, ihren jeweiligen Winkel der Welt zu verteidigen: Edmund besteht auf Moral, Flora auf Selbstbestimmung, Isabel und Otto auf der Lust, Elsa und David auf der Freiheit.
"Kunst ist eine moralische Disziplin", schreibt Iris Murdoch in ihrer kürzlich in England veröffentlichten Essaysammlung "Existentialists and Mystics". Dieser Titel erinnert daran, daß die Autorin, die viele Jahre lang in Oxford Philosophie unterrichtete, sich für Sartre und Plato interessiert - Positionen, die in ihrem Roman mit David und Edmund abgesteckt sind. Sie gehen als gleichberechtigte Partner auseinander. David schlägt alle Warnungen Edmunds in den Wind und reist "im Zustand der Wahrheit", wie er sagt, zurück ins kommunistische Leningrad: "Es ist besser, das Falsche aus den richtigen Gründen zu tun, als das Richtige aus den falschen Gründen." Von Iris Murdoch, der Philosophin, wissen wir, daß sie zeitweise dem Kommunismus verbunden war, den Existentialismus Sartrescher Prägung aber ablehnt.
Man darf "Das italienische Mädchen" getrost als philosophischen Roman lesen, der thesenhaft Determinismus und Freiheit, Eros und Moral, Mensch und Gott abwägt und schließlich den Primat der Werte verteidigt. Und doch ist damit nicht alles gesagt, der Text wechselt bei der Lektüre noch einmal die Farbe. Iris Murdoch begnügt sich nicht damit, ihre Figuren als Allegorien auftreten zu lassen; sie charakterisiert genau und füttert dem Geschehen so in der Tiefe Romanstoff zu. Edmund, der Ich-Erzähler, hat sogar eine Vergangenheit, eine schwierige Beziehung zur Mutter. Deren Tod führt ihn zurück in das große Haus im Norden Englands.
Hinter der Oberfläche der Farce schimmert das Gewebe des irischen Big-House-Romans: Zimmer und Garten des Elternhauses konfrontieren Edmund mit seiner Vergangenheit, dem Tod, dem Unbewußten. In ihm werden sexuelle Energien wach, er reift vom Mönch zum Mann. Iris Murdoch stellt dies zügig dar, und doch fällt es schwer, hier mitzugehen: Zu sehr hat man sich an Edmund, den Leitartikler, gewöhnt, um ihn zu später Stunde als Mensch ernst zu nehmen. Es scheint, als hätte die Autorin ähnliche Bedenken gehegt. Durch die Hintertür, in süffisanten Kapitelüberschriften ("Edmund im Märchenwald"), distanziert sie sich von ihrer Hauptfigur. Eine solch zwitterhafte Erzählhaltung, solch ästhetische und stilistische Mannigfaltigkeit ist typisch für Iris Murdoch.
Der Roman war die Übesetzung wert, auch wenn seine Gewichte zwischen Erzählung und Statement nicht immer austariert sind. Seit kurzem ist bekannt, daß Iris Murdoch an Alzheimer erkrankt ist. Das Werk der heute siebenundsiebzigjährigen Grande Dame der britischen Literatur ist also beendet. Nun ist die Zeit der Chronisten gekommen. Mit Interesse blickt man auf Iris Murdochs frühes Schaffen zurück. TANJA LIESKE
Iris Murdoch: "Das italienische Mädchen". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Stefanie Schaffer-de Vries. Deuticke Verlag, Wien und München 1997. 190 S., geb., 34,- DM.
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