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Vergleicht man die Jahre 1989 und 1990, zeigt sich, dass sie in der kollektiven Erinnerung höchst unterschiedlich präsent sind. Die Meisten können sich das Jahr 1989 rasch ins Gedächtnis rufen. Auch mit dem Abstand von knapp dreißig Jahren fällt es leicht, die Abfolge der Ereignisse dieses Herbstes zu erzählen - alles verdichtete sich hier auf wenige, hochdramatische Wochen. 1990 dagegen wirkt in der Erinnerung wie ein blinder Fleck. Das Gedächtnis, von den sich überschlagenden Ereignissen ebenso gefordert wie von unerfüllten Wünschen und nicht eingestandenen Kränkungen fasst ein solches Jahr…mehr

Produktbeschreibung
Vergleicht man die Jahre 1989 und 1990, zeigt sich, dass sie in der kollektiven Erinnerung höchst unterschiedlich präsent sind. Die Meisten können sich das Jahr 1989 rasch ins Gedächtnis rufen. Auch mit dem Abstand von knapp dreißig Jahren fällt es leicht, die Abfolge der Ereignisse dieses Herbstes zu erzählen - alles verdichtete sich hier auf wenige, hochdramatische Wochen. 1990 dagegen wirkt in der Erinnerung wie ein blinder Fleck. Das Gedächtnis, von den sich überschlagenden Ereignissen ebenso gefordert wie von unerfüllten Wünschen und nicht eingestandenen Kränkungen fasst ein solches Jahr nur schwer. Das Jahr 1990 freilegen beschäftigt sich mit den verschiedenen Aspekten des Jahres 1990 und ihrer Aktualität. Es montiert Bilddokumente und Stimmen aus dem Jahr 1990 mit essayistischen Reflexionen und Geschichten, in denen aus der Perspektive der Gegenwart auf dieses Jahr zurückgeschaut wird.A comparison of the years 1989 and 1990 would suggest that their presence in the collective memory takes very different forms. Most people can quickly bring the year 1989 to mind. Even after a gap of almost thirty years, it is easy to recount the sequence of events as they happened that autumn, when everything was condensed into a few highly dramatic weeks. By contrast, 1990 seems like a blind spot in the memory. Our recollections of a year like this are hard to grasp: our attention is claimed by events coming thick and fast and by unfulfilled wishes and unacknowledged wounds. Das Jahr 1990 freilegen deals with the different aspects of the year 1990 and their topicality today. It is a montage of pictorial documents and voices from 1990 mingled with essayistic reflections and stories that look back on this year from the perspective of the present.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Rezensent Ulrich Gutmair ist überzeugt, dass diese umfangreiche Materialsammlung die beste Methode darstellt, das Umbruchsjahr 1990 abzubilden: Anstatt eine bestimmte ideologische Position zur Wiedervereinigung zu beleuchten, offenbart das Buch ihm zufolge "die Vielfalt der Wirklichkeiten". Unter den zahlreichen interessanten Texten befinden sich Protokolle der Sitzungen des Zentralen Runden Tisches der DDR, Passagen aus Zeitungsartikeln und vieles mehr, aber auch Fotografien von öffentlichen Zusammenkünften und Porträts öffentlichkeitswirksamer Persönlichkeiten - eine faszinierende Fundgrube, lobt Gutmair.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.03.2020

Troja liegt an der Elbe

Fundstücke sonder Zahl: Jan Wenzel montiert Texte und Bilder zu einer kaleidoskopartigen Vergegenwärtigung des Nachwendejahres 1990.

Am letzten Tag ihres Bestehens gab die DDR zwei Briefmarkenserien heraus. Eine von beiden zeigte den Dresdner Zwinger, die Erde, den Mond und den Mars und würdigte einen Weltraumkongress in der Elbestadt. Die andere Serie erinnerte an den hundertsten Todestag von Heinrich Schliemann, dem Entdecker des antiken Troja. Auf den beiden Marken sind neben einem Porträt des Geehrten auch Ausgrabungsstücke zu sehen.

"Die letzten Briefmarken der DDR mit einer Botschaft für die Zukunft", kommentiert Jan Wenzel die Abbildung der Marken in dem von ihm zusammengestellten Band "Das Jahr 1990 freilegen", dessen Titel selbst auf eine archäologische Expedition anspielt. Mit der Wendung "Lesen als besondere Form des Grabens" leitet Wenzel sein Buch ein. Folgerichtig steht eine Fotografie von Scherben einer antiken Vase vor ihrer Wiederzusammensetzung am Beginn des Bandes. Später, ungefähr in der Mitte des Buches, taucht inmitten von zeitgenössischen Dokumenten der Nachwendezeit eine Abbildung der zusammengesetzten Vase auf.

Verspielt, rätselhaft und irritierend kommt dieses kapitalismuskritische Werk manchmal daher, wenn sich unter die Fotografien aus dem Jahr 1990, die etwa Wolfgang Leonhard bei einer Misswahl in Leipzig oder Frédéric von Anhalt in Phantasieuniform zeigen, auch Gemälde Goyas, Bilder von Tiefseefischen oder ein Balzac-Porträt mischen. Wenzel präsentiert Hunderte von Bild- und Textfundstücken, um das Jahr der deutschen Einheit zu "remontieren". Zugleich aber führt seine Collage aus Schlagworten, Erinnerungen, Zeitbeobachtungen, Sitzungsprotokollen und Interviews auf fast sechshundert großformatigen Seiten vor Augen, dass 1990 sich nicht auf den dritten Oktober reduzieren lässt und auch nicht zwangsläufig auf diesen einen Tag zuläuft.

Entstanden ist so das Kaleidoskop eines Jahres, das sich bei jeder Durchsicht anders darstellt. Schicht für Schicht legt der Band mit Hilfe zeitgenössischer, oft unveröffentlichter Fotografien und bekannter wie unbekannter Protagonisten den - um mit dem Ethnologen Victor Turner zu sprechen - "liminalen Schwellenzustand" des Jahres offen, in dem noch nichts entschieden, aber vieles möglich war. Es ist ein Buch, in dem man sich schnell verlieren kann, das zu Entdeckungen einlädt, manchmal zum Innehalten mahnt, die Zeitgenossen zur Revision der eigenen Erinnerungen anspornt und in dem sich viele der Entwicklungen andeuten, die uns bis heute beschäftigen.

Mit Werbeanzeigen etwa verfolgt der Band die Kommunikationsrevolution ("Wer Telekommunikation sät, wird Produktivität ernten"), die sich mit der Lizenzvergabe zum Aufbau eines Mobilfunknetzes an den Mannesmann-Konzern im November 1989 und dem öffentlichen Zugang zum Internet im Jahr darauf Bahn brach. In einer dieser Anzeigen etwa preist Toshiba den ersten tragbaren Computer an und Motorola ein neues Mobiltelefon, dessen Gesamtgewicht auf 3,3 Kilogramm abgesenkt werden konnte.

Dabei geht der Blick über die deutschen Grenzen hinaus auch nach Südafrika, wo Nelson Mandela freikam, in die Tschechoslowakei zum neuen Präsidenten Václav Havel, zur arabischen Halbinsel, auf der Irak das Nachbarland Kuwait annektierte, und ins Weltall, aus dem das Hubble-Teleskop Bilder der Supernova Remnant N103B lieferte.

Im Zentrum aber stehen die letzten Monate der DDR, und angesichts der Vielzahl der angeschnittenen Themen, wird sich jeder Leser das Buch anders erschließen. Dem Rezensenten bleiben vor allem die Bilder und Texte zum Konsumrausch nach der Währungsunion im Gedächtnis, die ad hoc die Frage evozieren, ob die Oktoberrevolution von 1989 nicht mehr als eine Konsumevolution gewesen ist. Und jeden bibliophilen Menschen schmerzt das Foto der aufgehäuften, wertlos gewordenen Bücher im Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel im Juni 1990.

Wenzel zitiert aus dem Rhizom-Konzept von Deleuze/Guattari: "Findet die Stellen in einem Buch, mit denen ihr etwas anfangen könnt." Die Aufforderung steht auch auf dem Buchrücken des Bandes, der zur Lektüre eines anderen Buches animiert. Immer wieder nämlich werden eindrucksvolle Auszüge aus "Das letzte Jahr - Begegnungen" von Martin Gross, der Anfang 1990 aus West-Berlin nach Magdeburg zog, zitiert. Die scharfsinnigen, zwischen Dokumentation und Literatur changierenden Beobachtungen von Gross sollte man lesen, um ein Gespür für das Jahr 1990 und seinen Alltag zu bekommen.

"Das Jahr 1990 freilegen" wurde für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert in der Kategorie Sachbuch und Essay, obwohl es kein stringent argumentierendes Sachbuch und weit mehr als ein Essay ist. Das schwere und zugleich leichte, heitere und traurige, vielschichtige und grenzüberschreitende Gesamtkunstwerk ist dennoch ein würdiger Kandidat.

RENÉ SCHLOTT.

"Das Jahr 1990 freilegen". Remontage der Zeit.

Zusammengestellt von Jan Wenzel. Mit 32 Geschichten von Alexander Kluge. Spector Books, Leipzig 2019. 592 S., Abb., br., 36,- [Euro].

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