Die Revolte von 1968 hat in keiner deutschen Stadt solche Spuren hinterlassen wie in Frankfurt am Main. Die Forderungen der außerparlamentarischen Opposition und der Studenten der Goethe-Universität sind nicht nur im gesellschaftlichen Leben bis heute spürbar, sondern bestimmen auch die Kultur maßgeblich mit.50 Jahre danach erinnern sich in diesem Buch mit Claus-Jürgen Göpfert und Bernd Messinger prominente Zeitzeugen wie der Politiker Daniel Cohn-Bendit, der Verleger KD Wolff und der Schriftsteller Peter Härtling an das turbulente, ereignisreiche Jahr in Frankfurt am Main. Sie lassen die Ereignisse Revue passieren, reflektieren aber auch die großen Irrtümer und ideologischen Verirrungen der Zeit.Die Frage, was von den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüchen der 68er geblieben und was heute im Zeichen des Rechtspopulismus wieder bedroht ist, erörtern die Autoren in einem ausführlichen Interview mit Daniel Cohn-Bendit.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.02.2018Die Wölfe von Bockenheim
In Frankfurt, der heimlichen Hauptstadt des deutschen Westens, spielte die Revolution die erste Geige: Warum, das besprechen Claus-Jürgen Göpfert und Bernd Messinger mit Zeitzeugen von 1968.
Mit der Zeitchiffre Achtundsechzig wird das Phänomen einer sich international artikulierenden Jugendrevolte in Verbindung gebracht. Dabei lassen sich jeweils nationale, gar lokale Besonderheiten ausmachen. Das Empfinden einer übernationalen Gemeinsamkeit, vornehmlich im politischen Westen, dürfte auf ein eigentümliches Phänomen zurückgehen: auf das Lebensgefühl im Zeitkäfig, die empfundene Blockierung eines Zukunftshorizonts. Solche Behinderung ging aus dem allgegenwärtigen, nuklear bewehrten Ost-West-Gegensatz hervor. In fortwährender Erwartung eines Eintritts von Apokalypse war Zeit stillgestellt.
Unterhalb solcher Sistierung entwickelte sich gleichwohl ein Zeitempfinden ungestümer lebensweltlicher Beschleunigung - angetrieben von den mechanisierten Ikonen individueller Fortbewegung, der Ästhetisierung und Erotisierung von Geschwindigkeit und begleitet von einer rhythmisch exaltierten Körperlichkeit. Die gegenläufige Verzahnung zweier miteinander unverträglicher Zeitempfindungen führte zu einer kulturellen Krisis, in deren Folge der Zeitkäfig zersprang. Dafür kommt die Jahreschiffre Achtundsechzig zu stehen - jedenfalls im politischen Westen. Im politischen Osten galt es einen realen, einen politischen Käfig aufzusprengen. Zaghafte Versuche in Warschau und Prag, sich im ikonischen Jahr westliche Freiheiten zu erkämpfen, wurden niederkartätscht.
Das deutsche Achtundsechzig stand nicht zuletzt im Zeichen der Vergangenheit, womit die Zeit des Nationalsozialismus gemeint war - ihre krisengeschüttelte Weimarer Vorgeschichte wie ihre als unerlöst erlebte bundesrepublikanische Nachgeschichte eingeschlossen. Der Ansturm auf die Bollwerke einer als stillgestellt empfundenen Zeit wurde mit Kulissen und Requisiten ebenjener Vergangenheit ausstaffiert. So rückte die oppositionelle Rhetorik zu der von der Großen Koalition 1966 betriebenen Notstandsgesetzgebung diese in die Nähe des Ermächtigungsgesetzes, wie vieles am Protestgebaren sich als Art nachholender Widerstand kostümierte. Widerstand zur falschen Zeit und am falschen Ort. Dabei konnte es recht handgreiflich zugehen. Im Extremfall radikalisierte sich eine derart verstehende Resistenz terroristisch.
Dass Frankfurt am Main zu einem Epizentrum der mit dem Jahr 1968 verbundenen Ereignisse werden konnte, war einer besonderen Konstellation der Milieubildung geschuldet. Ihr Humus fügte sich aus verschiedenen Komponenten - materiellen, kulturellen, geistigen. Dazu zählt in erster Linie die topographische Lage der Stadt als Verkehrsmittelpunkt des Weststaates - zu Lande das Frankfurter Kreuz, für die Lüfte der Rhein-Main-Flughafen.
Mit Letzterem eng verzahnt war die amerikanische Air Base. Hinzu trat das dem amerikanischen Militär zur Verfügung stehende IG-Farben-Gebäude, der amerikanische Militärrundfunk AFN, der die letzten Hits von jenseits des Atlantiks und den britischen Inseln verbreitete; die für das allgemeine Publikum "off limits" deklarierten Tempel der amerikanischen Konsumkultur, das auf GIs ausgerichtete Nachtleben im Bahnhofsviertel. Dann die Universität, das unter einem geneigten sozialdemokratischen Kultusminister wiederhergestellte Institut für Sozialforschung, das neu etablierte Sigmund-Freud-Institut, die Niederlassungen jüdischer Restitutionsorganisationen, herausragende Verlagshäuser, die Buchmesse, überregionale Zeitungen mit traditionsreichen Feuilletons, der Hessische Rundfunk, das experimentelle Theater am Turm, der Jazz, die Zentrale der IG Metall, die Bundesbank, der Auschwitz-Prozess. Frankfurt reüssierte insgeheim als Hauptstadt des nach Westen verschobenen Teils Deutschlands.
Das intellektuelle Milieu der Revolte setzte sich wesentlich zusammen aus Neuankömmlingen und Zugereisten - angezogen von einer in der eher mittleren Großstadt auf engstem Raum wirkenden herausragenden Personen und Persönlichkeiten sowie Ehrfurcht gebietender Institutionen erzeugten sozio-kulturellen Dichte. Es war die Phase der Endmoräne des Zweiten Weltkrieges und die hohe Zeit einer an der globalen Peripherie des Kalten Krieges heiß auflodernden Gewalt - zwischen dem Schatten von Auschwitz und der Aktualität Vietnams. Dieser Konstellation entsprang eine Vorstellung von Aufbruch in eine neue, in eine utopisch angefachte Zeit. Für viele war Frankfurt zum Ort eines politischen Konversionserlebnisses geworden.
Die von Claus-Jürgen Göpfert und Bernd Messinger verfasste, durch Interviews mit vormaligen Akteuren angereicherte, eher kursorisch angelegte Milieustudie über 1968 in Frankfurt dokumentiert jene Erlebnislage. Die Anziehung, die von Frankfurt ausging, war vielen mehr gewesen als im hergebrachten Sinne intellektuell. Der dort beheimateten Kritischen Theorie wurde in der Deutung einer als Kapitalismus verstandenen verrätselten Moderne eine gleichsam spirituelle Bedeutung zugeschrieben. Dass es auf dem Höhepunkt der Revolte zur trennenden Entfremdung zwischen den Vätern der Theorie und ihren rebellischen Schülern kam, war wesentlich dem Abgrund der zwischen ihnen stehenden Geschichtserfahrung geschuldet.
In ihrer Darstellung stellen die Autoren drei für das Frankfurter Milieu charakteristische Protagonisten heraus: Der bei einem Autounfall tödlich verunglückte Hans-Jürgen Krahl stammte aus der nordhessischen Provinz und wurde seines rhetorischen, Denken und Sprechen in eins verschmelzenden Talents wegen (Th.W. Adorno: "In Krahl, da hausen die Wölfe") nicht ganz ohne Ironie als "Robespierre von Bockenheim" verehrt. Von ihm ging echter Zauber aus. Allerdings wurde dieser von der aufkeimenden Frauenbewegung öffentlich gebrochen.
K.D. Wolff, im ikonischen Jahr SDS-Vorsitzender und tätiger Vermittler der amerikanischen Protesterfahrung in die Bundesrepublik hinein ("Von Berkeley nach Berlin") hat sich später, nach dem Schwinden der Bewegung, als Verleger allseits anerkannte Verdienste um die Bewahrung literarischer Tradition erworben. Und selbstredend Daniel Cohn-Bendit, den die Aura des Pariser Mais nach Frankfurt trug. Er war der große Sprengmeister des Zeitkäfigs gewesen. Und das, was seither unter der Zeitchiffre Achtundsechzig verstanden wird, wurde zur Hefe im Teig einer neuen Zeit. Frankfurt wurde zu einem ihrer ganz großen Epizentren.
DAN DINER.
Claus-Jürgen Göpfert und Bernd Messinger: "Das Jahr der Revolte". Frankfurt 1968.
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2017. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Frankfurt, der heimlichen Hauptstadt des deutschen Westens, spielte die Revolution die erste Geige: Warum, das besprechen Claus-Jürgen Göpfert und Bernd Messinger mit Zeitzeugen von 1968.
Mit der Zeitchiffre Achtundsechzig wird das Phänomen einer sich international artikulierenden Jugendrevolte in Verbindung gebracht. Dabei lassen sich jeweils nationale, gar lokale Besonderheiten ausmachen. Das Empfinden einer übernationalen Gemeinsamkeit, vornehmlich im politischen Westen, dürfte auf ein eigentümliches Phänomen zurückgehen: auf das Lebensgefühl im Zeitkäfig, die empfundene Blockierung eines Zukunftshorizonts. Solche Behinderung ging aus dem allgegenwärtigen, nuklear bewehrten Ost-West-Gegensatz hervor. In fortwährender Erwartung eines Eintritts von Apokalypse war Zeit stillgestellt.
Unterhalb solcher Sistierung entwickelte sich gleichwohl ein Zeitempfinden ungestümer lebensweltlicher Beschleunigung - angetrieben von den mechanisierten Ikonen individueller Fortbewegung, der Ästhetisierung und Erotisierung von Geschwindigkeit und begleitet von einer rhythmisch exaltierten Körperlichkeit. Die gegenläufige Verzahnung zweier miteinander unverträglicher Zeitempfindungen führte zu einer kulturellen Krisis, in deren Folge der Zeitkäfig zersprang. Dafür kommt die Jahreschiffre Achtundsechzig zu stehen - jedenfalls im politischen Westen. Im politischen Osten galt es einen realen, einen politischen Käfig aufzusprengen. Zaghafte Versuche in Warschau und Prag, sich im ikonischen Jahr westliche Freiheiten zu erkämpfen, wurden niederkartätscht.
Das deutsche Achtundsechzig stand nicht zuletzt im Zeichen der Vergangenheit, womit die Zeit des Nationalsozialismus gemeint war - ihre krisengeschüttelte Weimarer Vorgeschichte wie ihre als unerlöst erlebte bundesrepublikanische Nachgeschichte eingeschlossen. Der Ansturm auf die Bollwerke einer als stillgestellt empfundenen Zeit wurde mit Kulissen und Requisiten ebenjener Vergangenheit ausstaffiert. So rückte die oppositionelle Rhetorik zu der von der Großen Koalition 1966 betriebenen Notstandsgesetzgebung diese in die Nähe des Ermächtigungsgesetzes, wie vieles am Protestgebaren sich als Art nachholender Widerstand kostümierte. Widerstand zur falschen Zeit und am falschen Ort. Dabei konnte es recht handgreiflich zugehen. Im Extremfall radikalisierte sich eine derart verstehende Resistenz terroristisch.
Dass Frankfurt am Main zu einem Epizentrum der mit dem Jahr 1968 verbundenen Ereignisse werden konnte, war einer besonderen Konstellation der Milieubildung geschuldet. Ihr Humus fügte sich aus verschiedenen Komponenten - materiellen, kulturellen, geistigen. Dazu zählt in erster Linie die topographische Lage der Stadt als Verkehrsmittelpunkt des Weststaates - zu Lande das Frankfurter Kreuz, für die Lüfte der Rhein-Main-Flughafen.
Mit Letzterem eng verzahnt war die amerikanische Air Base. Hinzu trat das dem amerikanischen Militär zur Verfügung stehende IG-Farben-Gebäude, der amerikanische Militärrundfunk AFN, der die letzten Hits von jenseits des Atlantiks und den britischen Inseln verbreitete; die für das allgemeine Publikum "off limits" deklarierten Tempel der amerikanischen Konsumkultur, das auf GIs ausgerichtete Nachtleben im Bahnhofsviertel. Dann die Universität, das unter einem geneigten sozialdemokratischen Kultusminister wiederhergestellte Institut für Sozialforschung, das neu etablierte Sigmund-Freud-Institut, die Niederlassungen jüdischer Restitutionsorganisationen, herausragende Verlagshäuser, die Buchmesse, überregionale Zeitungen mit traditionsreichen Feuilletons, der Hessische Rundfunk, das experimentelle Theater am Turm, der Jazz, die Zentrale der IG Metall, die Bundesbank, der Auschwitz-Prozess. Frankfurt reüssierte insgeheim als Hauptstadt des nach Westen verschobenen Teils Deutschlands.
Das intellektuelle Milieu der Revolte setzte sich wesentlich zusammen aus Neuankömmlingen und Zugereisten - angezogen von einer in der eher mittleren Großstadt auf engstem Raum wirkenden herausragenden Personen und Persönlichkeiten sowie Ehrfurcht gebietender Institutionen erzeugten sozio-kulturellen Dichte. Es war die Phase der Endmoräne des Zweiten Weltkrieges und die hohe Zeit einer an der globalen Peripherie des Kalten Krieges heiß auflodernden Gewalt - zwischen dem Schatten von Auschwitz und der Aktualität Vietnams. Dieser Konstellation entsprang eine Vorstellung von Aufbruch in eine neue, in eine utopisch angefachte Zeit. Für viele war Frankfurt zum Ort eines politischen Konversionserlebnisses geworden.
Die von Claus-Jürgen Göpfert und Bernd Messinger verfasste, durch Interviews mit vormaligen Akteuren angereicherte, eher kursorisch angelegte Milieustudie über 1968 in Frankfurt dokumentiert jene Erlebnislage. Die Anziehung, die von Frankfurt ausging, war vielen mehr gewesen als im hergebrachten Sinne intellektuell. Der dort beheimateten Kritischen Theorie wurde in der Deutung einer als Kapitalismus verstandenen verrätselten Moderne eine gleichsam spirituelle Bedeutung zugeschrieben. Dass es auf dem Höhepunkt der Revolte zur trennenden Entfremdung zwischen den Vätern der Theorie und ihren rebellischen Schülern kam, war wesentlich dem Abgrund der zwischen ihnen stehenden Geschichtserfahrung geschuldet.
In ihrer Darstellung stellen die Autoren drei für das Frankfurter Milieu charakteristische Protagonisten heraus: Der bei einem Autounfall tödlich verunglückte Hans-Jürgen Krahl stammte aus der nordhessischen Provinz und wurde seines rhetorischen, Denken und Sprechen in eins verschmelzenden Talents wegen (Th.W. Adorno: "In Krahl, da hausen die Wölfe") nicht ganz ohne Ironie als "Robespierre von Bockenheim" verehrt. Von ihm ging echter Zauber aus. Allerdings wurde dieser von der aufkeimenden Frauenbewegung öffentlich gebrochen.
K.D. Wolff, im ikonischen Jahr SDS-Vorsitzender und tätiger Vermittler der amerikanischen Protesterfahrung in die Bundesrepublik hinein ("Von Berkeley nach Berlin") hat sich später, nach dem Schwinden der Bewegung, als Verleger allseits anerkannte Verdienste um die Bewahrung literarischer Tradition erworben. Und selbstredend Daniel Cohn-Bendit, den die Aura des Pariser Mais nach Frankfurt trug. Er war der große Sprengmeister des Zeitkäfigs gewesen. Und das, was seither unter der Zeitchiffre Achtundsechzig verstanden wird, wurde zur Hefe im Teig einer neuen Zeit. Frankfurt wurde zu einem ihrer ganz großen Epizentren.
DAN DINER.
Claus-Jürgen Göpfert und Bernd Messinger: "Das Jahr der Revolte". Frankfurt 1968.
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2017. 304 S., geb., 22,- [Euro].
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