Vom Gehen und Ankommen
Wohin geht man, wenn man im Nirgendwo steht: zwischen zwei Ländern, zwischen nahen Erinnerungen und ferner Gegenwart, zwischen einem stets redenden Vater und einer schweigenden Mutter?
Das Mädchen ist sechs, als sie die DDR verlässt und mit ihrer Familie ein neues Leben im äußersten Westen Deutschlands beginnt. Warten dort die Verheißungen, auf die ihre Eltern gehofft haben? Kann der Vater sich neu erfinden, wird die Mutter ihre Krankheit, aus DDR-Gefängnissen mitgebracht, überwinden? Das Kind sehnt sich nach der Großmutter im fernen Leipzig und lernt, wie die Aachener zu reden: ein Schweben zwischen den Welten, das auch nicht zu Ende geht, als 1989 die Mauer fällt.
Constanze Neumann erzählt von einem Leben im Dazwischen und wie man sich auf der Suche nach Heimat zugleich finden und verlieren kann.
»Constanze Neumann erzählt berührend, was das Leben eines Kindes prägen kann, wie Politik auch die Liebe beeinflusst.« Berliner Zeitung
Wohin geht man, wenn man im Nirgendwo steht: zwischen zwei Ländern, zwischen nahen Erinnerungen und ferner Gegenwart, zwischen einem stets redenden Vater und einer schweigenden Mutter?
Das Mädchen ist sechs, als sie die DDR verlässt und mit ihrer Familie ein neues Leben im äußersten Westen Deutschlands beginnt. Warten dort die Verheißungen, auf die ihre Eltern gehofft haben? Kann der Vater sich neu erfinden, wird die Mutter ihre Krankheit, aus DDR-Gefängnissen mitgebracht, überwinden? Das Kind sehnt sich nach der Großmutter im fernen Leipzig und lernt, wie die Aachener zu reden: ein Schweben zwischen den Welten, das auch nicht zu Ende geht, als 1989 die Mauer fällt.
Constanze Neumann erzählt von einem Leben im Dazwischen und wie man sich auf der Suche nach Heimat zugleich finden und verlieren kann.
»Constanze Neumann erzählt berührend, was das Leben eines Kindes prägen kann, wie Politik auch die Liebe beeinflusst.« Berliner Zeitung
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Constanze Neumann, vormals Leiterin des Aufbau Verlags, erzählt hier mit einer namenlosen Erzählerin wohl auch von ihrer eigenen Geschichte, vermutet die voll und ganz überzeugte Kritikerin Emilia Kröger. Die Familie kommt aus der DDR, ein Fluchtversuch scheitert, schließlich werden sie von der BRD freigekauft und kommen nach Aachen, da ist die Tochter noch ein kleines Kind, erklärt Kröger den ersten Teil der rund 200 Seiten. Doch auch in der BRD ist nicht alles Gold, was glänzt - die Erzählerin erlebt sowohl die Überheblichkeit des Westens als auch die Unterdrückungsmechanismen des Ostens. Mit "präzisen Beschreibungen von emotionalen Verwerfungen" ein Buch nicht nur über ein individuelles Schicksal, sondern auch über den Zeitgeist der 1970er und 80er Jahre, lobt die Rezensentin, die das sehr gern gelesen hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2024Vom Leben im Dazwischen
Repressive DDR, überhebliche BRD: Constanze Neumanns "Das Jahr ohne Sommer" erzählt von einer in den Westen gegangenen Familie
"Familie und Herkunft bestimmen auch die Menschen, die sich von ihr distanzieren." Dieses Zitat stammt von Constanze Neumann und vermittelt einen Eindruck davon, wie wichtig der Autorin die eigene Herkunft und ihr familiärer Hintergrund ist. Daraus wiederum lässt sich vermutlich erklären, dass Neumann mit "Das Jahr ohne Sommer" bereits das zweite Buch über ihre Lebens- und Familiengeschichte vorlegt. 2021 veröffentlichte die damalige Leiterin des Berliner Aufbau Verlags den Titel "Wellenflug", worin die Geschichte ihrer Urgroßmutter Marie und deren Schwiegermutter Anna behandelt wird. Während "Wellenflug" noch mit der Gattungsbezeichnung "Roman" erschien, fehlt diese beim aktuellen Titel, sodass umso mehr dafür spricht, dass Neumann darin ihre eigene Geschichte erzählt.
Die namenlose Erzählerin beginnt in "Das Jahr ohne Sommer" mit ihrer Kindheit in Leipzig: "Als ich klein war, lebte ich in einem Land, das es nicht mehr gibt." Sie ist nur drei Jahre alt, als ihre Eltern einen Fluchtversuch aus der DDR, "dem kleinen grauen Land", unternehmen. Zu dritt verstecken sie sich im Kofferraum der Schleuser, doch an der Grenze schlagen Schäferhunde an, die Flucht misslingt. Daraufhin werden ihre Eltern verhaftet und verbringen anderthalb Jahre im Gefängnis, bevor sie durch die Bundesrepublik freigekauft und in den Westen ausgewiesen werden. Einige Monate später darf auch die Tochter Ostdeutschland verlassen, die Familie kommt zuerst in Kreuztal unter und beginnt schließlich ein neues Leben in Aachen.
All dies geschieht bereits auf den ersten fünfzig Seiten, ist gewissermaßen der Prolog, denn der Fokus der Geschichte liegt auf der darauffolgenden Phase im Leben der Erzählerin: das Aufwachsen im Aachen der späten Siebziger- und der Achtzigerjahre als aus der DDR geflohene Familie. Insbesondere für die Tochter bedeutet das ein Leben in zwei Welten, zum Einen zu Hause, wo sich fast alle Gespräche ihrer Eltern um die Vergangenheit oder die Gefahr durch den Ostblock drehen, und zum anderen draußen, wo all das, was zu Hause bedrohlich wirkt, keine Rolle zu spielen scheint. Dem jungen Mädchen gelingt es, sich in beide Welten einzufügen, wodurch sie gewissermaßen ein Doppelleben führt: "Die beiden Welten draußen und drinnen berührten sich, sie existierten nebeneinander, ich konnte von einer in die andere schlüpfen, aber ich konnte sie nicht zusammenfügen. Beide waren mir vertraut und manchmal fremd, ich liebte meine Ostmärchenbücher und mein Westplaymobil."
Es gelingt Neumann zudem, neben der individuellen Gefühlswelt der Tochter auch das zeitgenössische Lebensgefühl zu transportieren, wodurch der Text den Anstrich eines zeitgeschichtlichen Dokuments erhält. Damals dominierte in Westdeutschland das Gefühl des Stillstands: "Die Zeit war eine zähe Masse, in der alles feststeckte, uns blieb nur das Warten: auf die nächsten Ferien, auf ein Zeichen aus dem Ministerium für innerdeutsche Beziehungen. Undenkbar, dass sich jemals etwas ändern würde: die Grenze, die Mauer, die grauen Leipziger Straßen mit den Häusern, die immer weiter verfielen, die Schlangen vor den Geschäften." Doch gegen Ende der Achtziger verbreitet sich im geteilten Deutschland die Wahrnehmung eines gesellschaftlichen Aufbruchs. Ereignisse wie der GAU in Tschernobyl oder das Aufkommen der Friedensbewegung führten dazu, aber auch der erste (und einzige) Besuch des DDR-Staatsratsvorsitzenden Honecker 1987 in der BRD, währenddessen man ohne Visum in die DDR einreisen konnte: "Die Welt war plötzlich eine andere geworden, all die vertrauten Regeln schienen außer Kraft gesetzt."
Neben dem historisch-gehaltvollen Geschehen des Romans ist auch die Sprache, in der Neumann erzählt, durchaus bemerkenswert. Die kindliche, später dann jugendliche Erzählerin schildert ihre Erlebnisse fast ausnahmslos aus ihrer Perspektive. Nur selten gibt es kurze zeitliche Vorausgriffe oder Einordnungen, die sich der erwachsen gewordenen Erzählerin zuordnen lassen. Durch die Augen des heranwachsenden Mädchens werden die Geschehnisse unverblümt geschildert, wodurch zum Einen die perfiden Unterdrückungsmechanismen der DDR - die Tochter wusste schon mit drei Jahren, dass man das Land, in dem sie lebt, nicht verlassen darf - und zum anderen die Überheblichkeit der Westdeutschen entlarvt werden: Im Westen wird ihr Vater betrachtet "wie ein exotisches Tier, das nicht zu bändigen war", und muss sich anhören, dass es für seinen Gefängnisaufenthalt sicherlich gute Gründe gegeben habe. Nach der Wiedervereinigung schlägt diese Überheblichkeit in Häme um: "Die Leute im Osten waren auf einmal lächerlich, man staunte über ihre Ahnungslosigkeit und Unsicherheit. All der Mut, das Geschick und der Humor, mit dem die Menschen, die ich kannte, ihr Leben in der DDR bewältigt hatten, die Kämpfe, die sie Tag für Tag ausgefochten hatten, waren nicht nachvollziehbar für die, die mit der Geste der Sieger in den Osten zogen."
Solche präzisen Beschreibungen von emotionalen Verwerfungen gelingen der Autorin zuhauf; jeder Satz sitzt, sodass es kaum auffällt, dass die umfassende Geschichte in weniger als zweihundert Seiten erzählt wird. Mit "Das Jahr ohne Sommer" hat Constanze Neumann eine äußerst lesenswerte Geschichte vorgelegt: über das Aufwachsen im Dazwischen von Ost und West, Mutter und Vater, und auch zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. EMILIA KRÖGER
Constanze Neumann: "Das Jahr ohne Sommer".
Ullstein Buchverlage, Berlin 2024.
192 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Repressive DDR, überhebliche BRD: Constanze Neumanns "Das Jahr ohne Sommer" erzählt von einer in den Westen gegangenen Familie
"Familie und Herkunft bestimmen auch die Menschen, die sich von ihr distanzieren." Dieses Zitat stammt von Constanze Neumann und vermittelt einen Eindruck davon, wie wichtig der Autorin die eigene Herkunft und ihr familiärer Hintergrund ist. Daraus wiederum lässt sich vermutlich erklären, dass Neumann mit "Das Jahr ohne Sommer" bereits das zweite Buch über ihre Lebens- und Familiengeschichte vorlegt. 2021 veröffentlichte die damalige Leiterin des Berliner Aufbau Verlags den Titel "Wellenflug", worin die Geschichte ihrer Urgroßmutter Marie und deren Schwiegermutter Anna behandelt wird. Während "Wellenflug" noch mit der Gattungsbezeichnung "Roman" erschien, fehlt diese beim aktuellen Titel, sodass umso mehr dafür spricht, dass Neumann darin ihre eigene Geschichte erzählt.
Die namenlose Erzählerin beginnt in "Das Jahr ohne Sommer" mit ihrer Kindheit in Leipzig: "Als ich klein war, lebte ich in einem Land, das es nicht mehr gibt." Sie ist nur drei Jahre alt, als ihre Eltern einen Fluchtversuch aus der DDR, "dem kleinen grauen Land", unternehmen. Zu dritt verstecken sie sich im Kofferraum der Schleuser, doch an der Grenze schlagen Schäferhunde an, die Flucht misslingt. Daraufhin werden ihre Eltern verhaftet und verbringen anderthalb Jahre im Gefängnis, bevor sie durch die Bundesrepublik freigekauft und in den Westen ausgewiesen werden. Einige Monate später darf auch die Tochter Ostdeutschland verlassen, die Familie kommt zuerst in Kreuztal unter und beginnt schließlich ein neues Leben in Aachen.
All dies geschieht bereits auf den ersten fünfzig Seiten, ist gewissermaßen der Prolog, denn der Fokus der Geschichte liegt auf der darauffolgenden Phase im Leben der Erzählerin: das Aufwachsen im Aachen der späten Siebziger- und der Achtzigerjahre als aus der DDR geflohene Familie. Insbesondere für die Tochter bedeutet das ein Leben in zwei Welten, zum Einen zu Hause, wo sich fast alle Gespräche ihrer Eltern um die Vergangenheit oder die Gefahr durch den Ostblock drehen, und zum anderen draußen, wo all das, was zu Hause bedrohlich wirkt, keine Rolle zu spielen scheint. Dem jungen Mädchen gelingt es, sich in beide Welten einzufügen, wodurch sie gewissermaßen ein Doppelleben führt: "Die beiden Welten draußen und drinnen berührten sich, sie existierten nebeneinander, ich konnte von einer in die andere schlüpfen, aber ich konnte sie nicht zusammenfügen. Beide waren mir vertraut und manchmal fremd, ich liebte meine Ostmärchenbücher und mein Westplaymobil."
Es gelingt Neumann zudem, neben der individuellen Gefühlswelt der Tochter auch das zeitgenössische Lebensgefühl zu transportieren, wodurch der Text den Anstrich eines zeitgeschichtlichen Dokuments erhält. Damals dominierte in Westdeutschland das Gefühl des Stillstands: "Die Zeit war eine zähe Masse, in der alles feststeckte, uns blieb nur das Warten: auf die nächsten Ferien, auf ein Zeichen aus dem Ministerium für innerdeutsche Beziehungen. Undenkbar, dass sich jemals etwas ändern würde: die Grenze, die Mauer, die grauen Leipziger Straßen mit den Häusern, die immer weiter verfielen, die Schlangen vor den Geschäften." Doch gegen Ende der Achtziger verbreitet sich im geteilten Deutschland die Wahrnehmung eines gesellschaftlichen Aufbruchs. Ereignisse wie der GAU in Tschernobyl oder das Aufkommen der Friedensbewegung führten dazu, aber auch der erste (und einzige) Besuch des DDR-Staatsratsvorsitzenden Honecker 1987 in der BRD, währenddessen man ohne Visum in die DDR einreisen konnte: "Die Welt war plötzlich eine andere geworden, all die vertrauten Regeln schienen außer Kraft gesetzt."
Neben dem historisch-gehaltvollen Geschehen des Romans ist auch die Sprache, in der Neumann erzählt, durchaus bemerkenswert. Die kindliche, später dann jugendliche Erzählerin schildert ihre Erlebnisse fast ausnahmslos aus ihrer Perspektive. Nur selten gibt es kurze zeitliche Vorausgriffe oder Einordnungen, die sich der erwachsen gewordenen Erzählerin zuordnen lassen. Durch die Augen des heranwachsenden Mädchens werden die Geschehnisse unverblümt geschildert, wodurch zum Einen die perfiden Unterdrückungsmechanismen der DDR - die Tochter wusste schon mit drei Jahren, dass man das Land, in dem sie lebt, nicht verlassen darf - und zum anderen die Überheblichkeit der Westdeutschen entlarvt werden: Im Westen wird ihr Vater betrachtet "wie ein exotisches Tier, das nicht zu bändigen war", und muss sich anhören, dass es für seinen Gefängnisaufenthalt sicherlich gute Gründe gegeben habe. Nach der Wiedervereinigung schlägt diese Überheblichkeit in Häme um: "Die Leute im Osten waren auf einmal lächerlich, man staunte über ihre Ahnungslosigkeit und Unsicherheit. All der Mut, das Geschick und der Humor, mit dem die Menschen, die ich kannte, ihr Leben in der DDR bewältigt hatten, die Kämpfe, die sie Tag für Tag ausgefochten hatten, waren nicht nachvollziehbar für die, die mit der Geste der Sieger in den Osten zogen."
Solche präzisen Beschreibungen von emotionalen Verwerfungen gelingen der Autorin zuhauf; jeder Satz sitzt, sodass es kaum auffällt, dass die umfassende Geschichte in weniger als zweihundert Seiten erzählt wird. Mit "Das Jahr ohne Sommer" hat Constanze Neumann eine äußerst lesenswerte Geschichte vorgelegt: über das Aufwachsen im Dazwischen von Ost und West, Mutter und Vater, und auch zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. EMILIA KRÖGER
Constanze Neumann: "Das Jahr ohne Sommer".
Ullstein Buchverlage, Berlin 2024.
192 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Eine Kindheit zwischen Ende und Neuanfang, unaufgeregt erzählt: ein besonderes Buch.« Ariane Heimbach Brigitte 20240619