Tomas Espedals neues Buch beginnt an einem 6. April, dem Tag, an dem Petrarca seine Laura zum ersten Mal sah. Ausgehend von dieser unerfüllten Liebe, der Quelle für Petrarcas Liebesgedichte, geht Espedal der Frage nach, ob eine solch große, einzigartige Liebe, die alle Zeiten überdauert, heute noch möglich ist, ob sie überhaupt jemals möglich war. Gemeinsam mit seinem gebrechlichen Vater unternimmt er eine Kreuzfahrt durchs Mittelmeer und bemerkt erst dort, als der Vater aufzublühen scheint, dass er auch ihn bald verlieren wird. In der Liebe seines Vaters für seine verstorbene Mutter wie auch in seiner eigenen Liebe für Janne, die ihn bereits vor Jahren verlassen hat, erkennt Tomas etwas ähnlich Bedingungsloses und Andauerndes wie bei Petrarca. Am Ende waren sie dennoch alle allein. Nicht nur die Erfahrung einer so tiefen Liebe ist lebensverändernd, sondern auch deren Verlust. Wie ist es möglich, angesichts einer so umfassenden Erfahrung weiterzuleben wie bisher? Das Jahr ist Tomas Espedals bisher poetischstes Buch. Es handelt von den großen und einschneidenden Erfahrungen: Liebe, Verlust, Krieg, Tod, von Altern und Verzweiflung, von Stagnation und der ewigen Wiederholung des Immergleichen. Und von der Kraft der Literatur, die es vermag, uns durch die dunkelsten Zeiten zu retten.
»Ein Jahr kann ein ganzes Leben enthalten und es kann völlig leer sein.« - Tomas Espedal
»Tomas Espedal mag schmale Bücher schreiben und mit wenigen Sätzen auskommen. Literarisch ist er ein Schwergewicht.« - Christian Mückl, Nürnberger Zeitung
»Ein Jahr kann ein ganzes Leben enthalten und es kann völlig leer sein.« - Tomas Espedal
»Tomas Espedal mag schmale Bücher schreiben und mit wenigen Sätzen auskommen. Literarisch ist er ein Schwergewicht.« - Christian Mückl, Nürnberger Zeitung
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.05.2020Pauschalreise mit Petrarca
Tomas Espedals Langgedicht „Das Jahr“
Der norwegische Schriftsteller Tomas Espedal ist bekannt für seine kunstvoll gebauten Sätze. Anders als seine Kollegen Per Petterson oder Karl Ove Knausgård interessiert er sich für brüchige Formen, für Sätze, die wie Spiralen angelegt sind, ohne sich doch im Nichts zu verlieren. Dabei verknüpft er die Suche nach der Form stets mit seinem Lebensthema, den Erfahrungen von Trauer und Entbehrung. In Büchern wie „Wider die Kunst“ (2009) oder „Wider die Natur“ (2011) hat er den Tod seiner Mutter und den Tod seiner Lebensgefährtin umkreist.
Nun ist es die Liebe, der er mit seinen Sätzen nachforscht. Genauer: die Liebe in ihrer unerfüllten Form. Der Erzähler, der sehr nah am Autor Tomas Espedal siedelt, ist vor vier Jahren von seiner Partnerin Janne verlassen worden – ein Verlust, über den er nicht hinwegkommt. Um sich zu trösten, aber auch um sein Schreiben wieder in Gang zu bringen, beginnt er, über den Verlust nachzudenken. In großen Reflexionsschleifen wälzt er große Fragen: Kann man einen einzigen Menschen ein ganzes Leben lang lieben? Ihn noch lieben, wenn man verletzt und verlassen worden ist? Kann man neu lieben? Und: Wie kommt man mit der Einsamkeit zurecht?
Es gibt aber noch eine dritte Figur, die in diesem Buch eine Rolle spielt: Francesco Petrarca. Der Sänger der Liebe bildet gleichsam die Folie, die unter Espedals Sätzen liegt. Petrarca, der selbst die Erfahrung einer unerfüllten Liebe gemacht hat. Am 6. April 1327 sieht er in der Kirche der Heiligen Klara in Avignon eine junge Frau, die er Laura nennt, die aber für ihn unerreichbar bleibt. Seine Enttäuschung und seinen Schmerz verwandelt er in einen Zyklus aus 366 Gedichten, vorwiegend Sonetten, den „Canzoniere“. Espedals Erzähler hat dieses Buch ein Jahr lang exzessiv gelesen und versucht nun, „in den Fußspuren des Dichters zu gehen,“ wie er freimütig bekennt. Er reist in die Vaucluse, jene Landschaft im Süden Frankreichs, in die sich Petrarca zurückgezogen hatte, besucht dessen Lebensorte und will Wege finden, mit der Einsamkeit zurechtzukommen.
Vor allem aber entspringt seiner Lektüre die Idee, selbst ein Langgedicht zu schreiben. Herausgekommen ist weder ein Reisebericht noch eine historische Erzählung noch ein Gesang über die Liebe. Überhaupt steht das Schreibprojekt auf tönernen Füßen. Denn eigentlich ist der Erzähler zu einer Lesereise eingeladen. Auch wandert er nicht die Küste entlang, sondern nimmt den Schnellzug. Und die Tour mündet nicht in meditativer Ruhe, sondern in einer Pauschalreise auf einem riesigen Kreuzfahrtschiff, zusammen mit seinem Vater und 4000 anderen Menschen.
Spätestens hier kippt das Unternehmen. Den Dichter des Canzoniere verliert der Erzähler aus den Augen. Dafür mischt er nun alles in die Zeilen, was ihm auf der Gangway oder am Radio begegnet. Lautsprecherdurchsagen, maue Anekdoten aus den Kajüten oder Beschreibungen der Mahlzeiten: „Es ist Sonntag oder Montag / wir frühstücken in einem großen hellen Speisesaal / Kaffee Eier Weißbrot Butter Bacon Orangensaft / Käse Trauben ein halber Apfel Erdbeeren noch eine Tasse / Kaffee“. Dazu wird das private Liebesleid mit Bildern geflüchteter Menschen oder Nachrichten von Terroranschlägen kurzgeschlossen, was mal nachlässig, bisweilen fast zynisch wirkt.
Espedal meinte einmal, er wolle seine Sätze zum Leuchten bringen. Doch ist es ein Unterschied, ob man Prosasätze schreibt oder Sätze eines Gedichts. Und erst recht die Sätze eines Langgedichts, das auf die Kunst des Freien Verses angewiesen ist. Schon mehrfach hat Espedal mit der Form des Langgedichts experimentiert. Nur hat er seine lyrischen Versuche stets mit Briefen, Tagebuchsplittern, Notizen kombinier. Für ein solches Schreiben in Fragmenten und Schwebeformen wurde er immer wieder zurecht gerühmt.
Nichts davon ist im neuen Buch zu finden. Stattdessen 200 Seiten, lustlos auf Zeile gesetzt, mit viel Männlichkeitsgehabe und einem eher gewöhnungsbedürftigen Humor, den auch Hinrich Schmidt-Henkels Übersetzung nicht retten kann: „Nach dem Abendessen gehen mein Vater und ich / die Treppe zum Spielcasino auf Deck sieben hinauf / es gibt eine Bar zwischen den Spieltischen und / den Spielautomaten wir sitzen an der Bar und / trinken Gin Tonic rauchen Zigaretten. / An der Bar sitzen junge Russinnen / eine davon fragt meinen Vater in gebrochenem / Englisch: Sind Sie mit Ihrem Bruder unterwegs?“ Wörter, die „mit voller Wucht einschlagen“ wolle er schreiben, hat Espedal einmal notiert. Bei diesem Scheingedicht muss man sich als Leser allerdings bemühen, nicht mit voller Wucht einzuschlafen.
NICO BLEUTGE
Tomas Espedal: Das Jahr. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019. 198 Seiten, 22 Euro.
Für sein Schreiben in Fragmenten
und Schwebeformen wurde
Espedal zu Recht gerühmt
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Tomas Espedals Langgedicht „Das Jahr“
Der norwegische Schriftsteller Tomas Espedal ist bekannt für seine kunstvoll gebauten Sätze. Anders als seine Kollegen Per Petterson oder Karl Ove Knausgård interessiert er sich für brüchige Formen, für Sätze, die wie Spiralen angelegt sind, ohne sich doch im Nichts zu verlieren. Dabei verknüpft er die Suche nach der Form stets mit seinem Lebensthema, den Erfahrungen von Trauer und Entbehrung. In Büchern wie „Wider die Kunst“ (2009) oder „Wider die Natur“ (2011) hat er den Tod seiner Mutter und den Tod seiner Lebensgefährtin umkreist.
Nun ist es die Liebe, der er mit seinen Sätzen nachforscht. Genauer: die Liebe in ihrer unerfüllten Form. Der Erzähler, der sehr nah am Autor Tomas Espedal siedelt, ist vor vier Jahren von seiner Partnerin Janne verlassen worden – ein Verlust, über den er nicht hinwegkommt. Um sich zu trösten, aber auch um sein Schreiben wieder in Gang zu bringen, beginnt er, über den Verlust nachzudenken. In großen Reflexionsschleifen wälzt er große Fragen: Kann man einen einzigen Menschen ein ganzes Leben lang lieben? Ihn noch lieben, wenn man verletzt und verlassen worden ist? Kann man neu lieben? Und: Wie kommt man mit der Einsamkeit zurecht?
Es gibt aber noch eine dritte Figur, die in diesem Buch eine Rolle spielt: Francesco Petrarca. Der Sänger der Liebe bildet gleichsam die Folie, die unter Espedals Sätzen liegt. Petrarca, der selbst die Erfahrung einer unerfüllten Liebe gemacht hat. Am 6. April 1327 sieht er in der Kirche der Heiligen Klara in Avignon eine junge Frau, die er Laura nennt, die aber für ihn unerreichbar bleibt. Seine Enttäuschung und seinen Schmerz verwandelt er in einen Zyklus aus 366 Gedichten, vorwiegend Sonetten, den „Canzoniere“. Espedals Erzähler hat dieses Buch ein Jahr lang exzessiv gelesen und versucht nun, „in den Fußspuren des Dichters zu gehen,“ wie er freimütig bekennt. Er reist in die Vaucluse, jene Landschaft im Süden Frankreichs, in die sich Petrarca zurückgezogen hatte, besucht dessen Lebensorte und will Wege finden, mit der Einsamkeit zurechtzukommen.
Vor allem aber entspringt seiner Lektüre die Idee, selbst ein Langgedicht zu schreiben. Herausgekommen ist weder ein Reisebericht noch eine historische Erzählung noch ein Gesang über die Liebe. Überhaupt steht das Schreibprojekt auf tönernen Füßen. Denn eigentlich ist der Erzähler zu einer Lesereise eingeladen. Auch wandert er nicht die Küste entlang, sondern nimmt den Schnellzug. Und die Tour mündet nicht in meditativer Ruhe, sondern in einer Pauschalreise auf einem riesigen Kreuzfahrtschiff, zusammen mit seinem Vater und 4000 anderen Menschen.
Spätestens hier kippt das Unternehmen. Den Dichter des Canzoniere verliert der Erzähler aus den Augen. Dafür mischt er nun alles in die Zeilen, was ihm auf der Gangway oder am Radio begegnet. Lautsprecherdurchsagen, maue Anekdoten aus den Kajüten oder Beschreibungen der Mahlzeiten: „Es ist Sonntag oder Montag / wir frühstücken in einem großen hellen Speisesaal / Kaffee Eier Weißbrot Butter Bacon Orangensaft / Käse Trauben ein halber Apfel Erdbeeren noch eine Tasse / Kaffee“. Dazu wird das private Liebesleid mit Bildern geflüchteter Menschen oder Nachrichten von Terroranschlägen kurzgeschlossen, was mal nachlässig, bisweilen fast zynisch wirkt.
Espedal meinte einmal, er wolle seine Sätze zum Leuchten bringen. Doch ist es ein Unterschied, ob man Prosasätze schreibt oder Sätze eines Gedichts. Und erst recht die Sätze eines Langgedichts, das auf die Kunst des Freien Verses angewiesen ist. Schon mehrfach hat Espedal mit der Form des Langgedichts experimentiert. Nur hat er seine lyrischen Versuche stets mit Briefen, Tagebuchsplittern, Notizen kombinier. Für ein solches Schreiben in Fragmenten und Schwebeformen wurde er immer wieder zurecht gerühmt.
Nichts davon ist im neuen Buch zu finden. Stattdessen 200 Seiten, lustlos auf Zeile gesetzt, mit viel Männlichkeitsgehabe und einem eher gewöhnungsbedürftigen Humor, den auch Hinrich Schmidt-Henkels Übersetzung nicht retten kann: „Nach dem Abendessen gehen mein Vater und ich / die Treppe zum Spielcasino auf Deck sieben hinauf / es gibt eine Bar zwischen den Spieltischen und / den Spielautomaten wir sitzen an der Bar und / trinken Gin Tonic rauchen Zigaretten. / An der Bar sitzen junge Russinnen / eine davon fragt meinen Vater in gebrochenem / Englisch: Sind Sie mit Ihrem Bruder unterwegs?“ Wörter, die „mit voller Wucht einschlagen“ wolle er schreiben, hat Espedal einmal notiert. Bei diesem Scheingedicht muss man sich als Leser allerdings bemühen, nicht mit voller Wucht einzuschlafen.
NICO BLEUTGE
Tomas Espedal: Das Jahr. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019. 198 Seiten, 22 Euro.
Für sein Schreiben in Fragmenten
und Schwebeformen wurde
Espedal zu Recht gerühmt
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de