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"Der Schock ist so gewaltig, dass Paris fast umgefallen wäre" - so sehen Zeitgenossen die Wirkung von Zolas Artikel "J'accuse" - in den Pariser Salons redet man nur noch über Zola und Dreyfus. Noch am selben Tag erscheint eine Petition der "Intellektuellen" - diese Bezeichnung kreierten die Antidreyfusards zur Verunglimpfung ihrer Gegner. Die Intellektuellen fordern Gerechtigkeit, sie stehen hinter Zola und erheben sich gegen die Verstocktheit einer Führungsschicht, die unfähig ist, das gefällte Urteil in Frage zu stellen. Es ist die Geburtsstunde des politisch engagierten Intellektuellen -…mehr

Produktbeschreibung
"Der Schock ist so gewaltig, dass Paris fast umgefallen wäre" - so sehen Zeitgenossen die Wirkung von Zolas Artikel "J'accuse" - in den Pariser Salons redet man nur noch über Zola und Dreyfus. Noch am selben Tag erscheint eine Petition der "Intellektuellen" - diese Bezeichnung kreierten die Antidreyfusards zur Verunglimpfung ihrer Gegner. Die Intellektuellen fordern Gerechtigkeit, sie stehen hinter Zola und erheben sich gegen die Verstocktheit einer Führungsschicht, die unfähig ist, das gefällte Urteil in Frage zu stellen. Es ist die Geburtsstunde des politisch engagierten Intellektuellen - einer Figur, die sich seitdem weltweit etabliert hat.

Winocks Geschichte der Intellektuellen setzt die Personen, Ideen und Werke in Szene, die in Frankreich das vergangene 20. Jahrhundert geprägt haben, und erzählt von den Auseinandersetzungen, Freundschaften und Feindschaften engagierter Schriftsteller, Philosophen, Künstler und Wissenschaftler. In 62 Kapiteln, die die Schlüsselszenen intellektueller Diskurse beleuchten, stellt er die Debatten über die weltpolitischen Erschütterungen, die Weltkriege, den Faschismus, Kommunismus, Okkupation, Kalten Krieg und die 68er, aber auch die großen Auseinandersetzungen und Fragen der französischen Geschichte von der Dreyfus-Affäre bis zur Entkolonialisierung dar.

Winock gliedert das Jahrhundert in drei Zeitabschnitte, in deren Mittelpunkt er wegen ihres überragenden Einflusses auf die Zeitgenossen Barrès, Gide und Sartre stellt. Sie waren die Kristallisationspunkte, an denen sich das intellektuelle Leben mit den nicht weniger wichtigen Persönlichkeiten wie Zola, Mauriac oder Camus orientierte. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts haben die Intellektuellen an gesellschaftlichem Gewicht verloren. Zumindest scheint es so. Winock beschreibt, dass und wie sich die intellektuelle Rolle in den letzten Jahrzehnten wandelte.

Dieses Buch beleuchtet ein zentrales Kapitel der neueren französischen Kultur- und Sozialgeschichte und stellt einen spezifischen Beitrag Frankreichs zur modernen Weltgeschichte dar.
Autorenporträt
Michel Winock ist Professor em. für zeitgenössische Geschichte am Institut d'études politiques und Gründer der Zeitschrift "L'Histoire". Für "Das Jahrhundert der Intellektuellen" wurde er mit dem Prix Médicis für die Gattung Essay ausgezeichnet.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Frank-Rutger Hausmann bezweifelt, ob es wirklich nötig gewesen wäre, Michel Winocks "monumentale Studie" über die französischen Intellektuellen ins Deutsche zu übersetzten. Schließlich handle es sich um das Buch "eines Franzosen über Franzosen für Franzosen"; die deutschen Leser, die sich dafür interessierten, seien zumeist Spezialisten, die auch das Original lesen könnten. Generell aber wird der Band nach Hausmanns Prognose das deutsche Publikum nicht erreichen, weil Winocks Intellektuelle sich nur mit sich, und das heiße mit Frankreich beschäftigten. "Hundert Jahre Selbstgenügsamkeit" sieht er in dem Band abgehandelt. Etwas enttäuschend findet Hausmann, dass Namen wie Spengler, Schmitt, Jünger, Sieburg oder Habermas erst gar nicht fallen, und selbst die von Freud, Nietzsche, Heidegger und Jaspers nur am Rande vorkommen. Stattdessen werde der Leser mit einer Fülle ihm fremder Namen verwirrt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.05.2004

Hundert Jahre Selbstgenügsamkeit
Michel Winocks frankozentrische Geschichte der Intellektuellen
Wie wird man ein französischer Intellektueller? Am besten ist man ein Mann, hat eine Eliteschule besucht, ein von der Kritik herausgestelltes Buch geschrieben und sich einer einflussreichen Gruppe Gleichgesinnter in Paris angeschlossen. Dann hat man das Recht, aber auch die Pflicht, zu wichtigen, die Nation spaltenden Fragen polemisch Stellung zu nehmen. So jedenfalls die Quintessenz von Michel Winocks monumentaler Studie. Wenn man sie bis zum Ende gelesen hat, hat man Zweifel, ob eine Übersetzung dieser selbstreferentiellen Mythographie ins Deutsche wirklich nötig gewesen wäre: Es handelt sich um das Buch eines Franzosen über Franzosen für Franzosen. Deutsche Leser, die sich dafür interessieren, sind in der Regel Spezialisten und können das Original lesen.
Zu Recht hat der Autor als erster Historiker den renommierten Prix Médicis in der Sparte „Essay” erhalten. Mit analytischem Geschick teilt er seinen Stoff, die Erfolgsgeschichte der französischen Intellektuellen im 20. Jahrhundert, in viele überschaubare Einzelkapitel ein und ordnet sie drei Leitfiguren zu, Maurice Barrès, André Gide und Jean-Paul Sartre. Schriftsteller, Journalisten und Politiker, die von der Unschuld des als deutscher Spion verurteilten Hauptmanns Alfred Dreyfus überzeugt waren, hatten sich um 1898 um den Erfolgsromancier Émile Zola geschart, der mit seinem aufrüttelnden Artikel „Ich klage an!” im Aurore die Revision des Urteils in die Wege leitete. Man bezeichnete sie als Intellektuelle, und da sie aus zivilem Ungehorsam handelten, ist ein Intellektueller eigentlich ein Demokrat, der die Menschen- und Bürgerrechte verteidigt.
Insofern ist Maurice Barrès, der in der Dreyfusaffäre gegen die Revisionisten, die Juden, die Protestanten und die von ihm verspotteten Intellektuellen vom Leder zog, eine schlechte Leitfigur. Der erste Teil von Winocks Geschichte müsste eigentlich im Zeichen Zolas stehen, doch dieser starb bereits 1902, und der 1923 verschiedene Barrès eignet sich darum besser als Vordenker, da Winock zunächst den Kampf der Intellektuellen um die laizistische Republik, danach, im Zeichen Gides (gestorben 1951), die Sicherung dieser Republik gegen die Gefahren rechter und linker Extremismen und zu guter Letzt, im Banne Sartres, gegen die Infragestellung durch die linken Intellektuellen selber, die zeitweise dem Stalinismus und Maoismus anhingen, darstellen möchte.
Stellvertreter der Menschheit
Da es der Wunschtraum jedes gebildeten Franzosen zu sein scheint, als Intellektueller anerkannt zu werden, nennen sich paradoxerweise selbst eingefleischte Rechte so, und der Autor unterscheidet demzufolge zwischen Links- und Rechtsintellektuellen. Ist schon sein Gliederungsprinzip nicht ganz einsichtig, zumal offen bleibt, was nach Sartres Tod im Jahr 1980 aus den Intellektuellen wurde oder werden soll, wird der deutsche Leser mit einer Fülle ihm fremder Namen verwirrt. Sie erinnern daran, dass Winock zusammen mit Jacques Julliard ein 1500 Seiten umfassendes „Dictionnaire des intellectuels français” herausgegeben hat, das längst zum Standardwerk avanciert ist. Gelegentlich wirkt sein Buch wie eine Abwandlung dieses Nachschlagewerks, in dem die einzelnen Einträge mit kurzen Verbindungstexten zu eingängig geschriebenen Kapiteln verbunden wurden.
Das deutsche Publikum wird auch deshalb nicht erreicht, weil Winocks Intellektuelle sich nur mit sich, und das heißt mit Frankreich, beschäftigen. Wenn die Romanistin Ingrid Galster, die die flüssig lesbare Übersetzung angeregt hat, in ihrem klugen Vorwort eine vergleichende französisch-deutsche Intellektuellenforschung fordert, dann stehen dem nicht nur grundsätzliche mentale und politische Unterschiede im Weg. Auf dem Weg vom Untertanenstaat zur Spaßrepublik haben sich deutsche Intellektuelle entweder als Gelehrte in den Elfenbeinturm zurückgezogen, oder sie wurden als Schriftsteller und Künstler von den Mächtigen verachtet, gegängelt und sogar vertrieben, wenn sie eine eigenständige politische Meinung vertraten. Winock mag glauben, dass sich alle Welt für die französischen Intellektuellen interessiert, weil sie ein Jahrhundert lang für die ganze Welt den Kampf um Recht und Freiheit gekämpft haben. Und weiter, dass dieser Kampf ein Desinteresse an außerfranzösischen Ideen rechtfertigt. Doch was soll man von einer Darstellung halten, in der die Namen Spengler, Schmitt, Jünger, Sieburg oder Habermas gar nicht, und selbst die von Freud, Nietzsche, Heidegger und Jaspers nur am Rande vorkommen?
Aber vielleicht ist der Weg französischer Intellektueller nach Deutschland seit der Dreyfus-Affäre für immer versperrt – schrieb doch Thomas Mann in den 1918 erschienenen „Betrachtungen eines Unpolitischen”: „Dieser Krieg stellt sich ihm (d. h. dem Intellektuellen) als eine Wiederholung der Dreyfus-Affäre in kolossalisch vergrößertem Maßstabe dar – wer es nicht glaubt, dem will ich Dokumente unterbreiten, die ihn vollkommen überzeugen werden. Ein Intellektueller ist, nach der Analogie jenes Prozesses, wer geistig auf seiten der Zivilisations-Entente gegen den ,Säbel‘, gegen Deutschland ficht”.
FRANK-RUTGER HAUSMANN
MICHEL WINOCK: Das Jahrhundert der Intellektuellen. Deutsch von Judith Klein. UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2003. 885 Seiten , 49 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003

Nicht für das Leben, für das Dogma denken wir
Von der Dreyfus-Affäre bis zur Abkehr vom Kommunismus: Michel Winock schreibt das Drama der französischen Intellektuellen in drei Akten / Von Jürg Altwegg

Das zwanzigste Jahrhundert hat die Welt in die tiefsten Abgründe der Unmenschlichkeit gerissen. Es war das Jahrhundert der Ideologien - und der (französischen) Intellektuellen. An seinem Ende schrieb der Historiker Michel Winock ihre Geschichte. Eigentlich kann ein solches Projekt nur scheitern. In ihrem klugen Vorwort verrät uns Ingrid Galster das Geheimnis seines Gelingens: Als Winock von "Le Monde" gebeten wurde, über historische Themen "Chroniken in fortlaufenden Lieferungen zu schreiben, hatte er die Lösung": Er erzählt die Geschichte der Intellektuellen auf anschauliche und durchaus amüsante Art in insgesamt 62 Szenen, die er souverän in drei Akte einbringt. Sie entsprechen je einer Epoche und der Figur, die sie beherrschte: Maurice Barrès, André Gide und Jean-Paul Sartre. Die Inszenierung läuft über fast 900 Seiten und wurde 1997 in Paris als Standardwerk für breite Schichten gelobt.

Im ersten Aufzug sind wir mit Léon Blum, der vierzig Jahre später die Volksfrontregierung führen wird, zu Gast bei Maurice Barrès. Barrès war noch nicht der faschistische Propagandist, als der er in die Geschichte der Intellektuellen eingehen wird. Blum bittet ihn um seine Unterschrift für einen zu Unrecht der Spionage angeklagten jüdischen Hauptmann - die Dreyfus-Affäre ist die Geburtsstunde der Intellektuellen, in ihrem Umfeld entsteht überhaupt erst der Begriff.

Winock deutet Barrès' Absage als "endgültigen, unerbittlichen, unversöhnlichen Bruch". Er erzählt im Stil des Feuilletons, locker, manchmal etwas ausschweifend. Das erste Kapitel enthält keineswegs nur Anekdoten. Es ist eine knappe Einführung in die Welt von Maurice Barrès und skizziert die Kriterien, die sich in der Dreyfus-Affäre abzeichnen: Mit der "kleinen kopernikanischen Wende" (Winock) des Schriftstellers Barrès präzisierte sich die Politisierung des faschistischen Denkens - auf das sich Vichy und die Kollaboration stützen werden. Die Intellektuellen, die sich auf die Seiten des jüdischen Hauptmanns schlagen, kämpfen gegen die Staatslüge und den Antisemitismus.

Es folgen in sich geschlossene Kapitel über die Salons und Ligen, die Action Francaise, die Faszination für den Sozialismus, die Gründung der "Nouvelle Revue Française". Mit dem "Tod von Barrès" (1923) geht der erste Akt zu Ende. Die Darstellung dieser Epoche, deren Wahrnehmung lange von den antifaschistischen Kampfklischees des Marxismus geprägt war, besticht durch ihre ideologische Unvoreingenommenheit.

Immer wieder ist man aus heutiger Sicht über die politische Bedeutung und intellektuelle Ausstrahlung des Dichters André Gide überrascht. Er ist der Nachfolger von Barrès. "Das ganze französische Denken dieser letzten dreißig Jahre mußte sich, ob es wollte oder nicht, immer auch in Bezug auf Gide definieren", blickte Sartre 1951 zurück, als er selber längst die Herrschaft über die intellektuelle Szene erobert hatte. Von Winocks "Jahrhundertintellektuellen" ist André Gide als Literat am höchsten einzuschätzen - er macht aber auch in der schwierigsten Zeit des zwanzigsten Jahrhunderts als Intellektueller die bessere Figur. Gide ist ein vermögender "Bourgeois" und gleichzeitig von einer Geisteshaltung geprägt, "die es ihm verbietet, jemals etabliert zu sein", schreibt Winock. Während Sartre nach Hitlers Machtergreifung ein Jahr in Deutschland weilte, ohne die Gefahr zu sehen, die vom Nationalsozialismus ausging, genügt für André Gide eine Reise in die Sowjetunion, um die totalitäre Natur des stalinistischen Regimes zu erkennen.

Die dreißiger Jahre mit dem Ringen der Intellektuellen zwischen den beiden Ideologien sind eine Epoche, als deren Spezialist sich Winock längst einen Namen gemacht hat. Auch seine Darstellung der kulturellen Kollaboration wie des Widerstands der Intellektuellen im Krieg fällt überzeugend aus. Der Historiker analysiert ihr Verhalten nicht aus einer moralischen oder politischen Perspektive; er erzählt - manchmal mit Formulierungen, die fast ein bißchen boulevardhaft wirken. "Die Rechte und das Küchenmesser" lautet der Titel des Kapitels über die "Action Française". Er nimmt Bezug auf die Hetzkampagnen des faschistischen Schriftstellers Charles Maurras. Maurras forderte in seinen Artikeln die Zeitgenossen auf, den Parlamentariern, die sich für den Krieg gegen Hitler und Mussolini aussprachen, "den Hals abzuschneiden": ob Revolver oder Küchenmesser - "jede beliebige Waffe muß auf die Mörder des Friedens gerichtet werden". Der Chefideologe der "Action Francaise", neben Barrès die zweite große Figur des französischen Kulturfaschismus, mußte ins Gefängnis und wurde nach seiner Entlassung mehrfach rückfällig: Léon Blum bezeichnete er als "menschlichen Abfall, ein Mann, den man erschießen muß, aber in den Rücken". Mit den Säuberungen nach dem Krieg - Kapitel 41: "Verzeihen und Strafen" - vollzieht Michel Winock den Übergang von Gide zu Sartre.

Es ist dem Autor hoch anzurechnen, daß er in diesem letzten Teil dem Kravtschenko-Prozess, der noch immer gerne übergangen wird, ein eigenes Kapitel widmet. Louis Aragons im Widerstand gegründete Zeitschrift "Les Lettres Françaises" hatte ein Buch von Victor A. Kravtschenko über den sowjetischen Totalitarismus als Fälschung und Lüge, geschrieben im Auftrag des CIA, bezeichnet. In ihrer Verteidigungsstrategie setzten die Kommunisten die Amerikaner praktisch mit den Nazis gleich. Der Kravtschenko-Prozeß von 1949, an dem die halbe Résistance-Prominenz auf Seite der "Lettres Francaises" in den Zeugenstand trat, ist der traurige Kontrapunkt zur Dreyfus-Affäre und geradezu ihre Umkehrung: Aus ideologischem Fanatismus weigern sich die französischen Intellektuellen, die Wahrheit über die Sowjetunion zur Kenntnis zu nehmen - und den Autor, der sie sagt, beschimpfen sie als Lügner.

Die Geschichte der Intellektuellen im Nachkrieg ist beherrscht von ihrer Ausrichtung auf die Kommunistische Partei, von der eine große Faszination ausgeht. Sie beansprucht das antifaschistische Erbe und verfügt über die kulturelle Hegemonie. Allerdings spielen nur Roger Garaudy und Louis Aragon im Machtapparat der KPF eine wichtige Rolle. Ab 1956 geht es um die Grade der langsamen und schmerzlichen Loslösung von ihr; Austritte sind häufiger als Ausschließungen. Nach dem Mai '68 werden die revolutionären Utopien auf Kuba, China, Pol Pot übertragen. Erst der "Schock Solschenizyn" bringt Mitte der siebziger Jahre die mit dem - juristisch verlorenen - Kravtschenko-Prozeß vertriebene Wahrheit über den Gulag nach Frankreich, von dem seine Intellektuellen endlich Kenntnis nehmen. Die Folge ist eine kollektive "kopernikanische Wende". Die Ära Sartre geht mit dem Tod des Philosophen, der radikalen Abkehr vom Marxismus und dem Verzicht auf die Revolution zu Ende - "Die verlorenen Paradiese" ist Winocks letztes Kapitel überschrieben. Als "Opium der Intellektuellen" hatte Sartres großer Gegenspieler Raymond Aron den Marxismus bezeichnet.

Zu den letzten zwei Jahrzehnten fehlt dem Historiker die Distanz. Er faßt die Ereignisse seither im knappen Epilog über "Das Ende der Intellektuellen" zusammen. Die Abrechnungen mit dem Jahrhundert und die antitotalitäre Aufklärung werden in seiner Darstellung vernachlässigt. Das "Schwarzbuch der kommunistischen Verbrechen" kam für dieses Standardwerk zu spät, aber François Furet hätte in jedem Fall mehr Beachtung verdient - genauso wie die französische Version des Historikerstreits. Auch die Ausführungen über Michel Foucault und Pierre Bourdieu, dessen Einfluß in den Widerstandsbewegungen gegen die Globalisierung und die Reform des Sozialstaats auszumachen ist, sind ergänzungsbedürftig. Die unvermeidlichen Lücken am Ende dieser Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts unterstreichen indes nur ihren Wert und Anspruch: Es ist eine gültige Darstellung für das 21. Jahrhundert.

Als gemäßigten Linken ohne Partei und Utopie präsentiert Ingrid Galster den Verfasser. Winock mißtraut den Medienintellektuellen und den intellektuellen Moden, die uns das Verschwinden des Intellektuellen schlechthin prophezeien. Große Figuren wie Sartre, glaubt Winock, wird es tatsächlich nicht mehr geben. Aber mit ihm trat nicht der Intellektuelle schlechthin von der Bühne ab - seine Funktion indes muß demokratisiert werden. Die Verbesserung der Gesellschaft, schreibt Michel Winock, "ist nicht das Monopol einiger weniger, sondern die Sache aller. Umfassender, tiefgreifender, dauerhafter als das Geschrei der Pamphletisten und das Unterzeichnen von Petitionen und Manifestationen ist die tägliche Arbeit der anonymen Intellektuellen - insbesondere als Erziehende - , die, so scheint mir, als die wirkliche, zugleich kritische und organische Gegenmacht in der demokratischen Gesellschaft anerkannt werden muß." Es sind Michel Winocks letzte Worte und Hoffnung. Der Historiker zieht die Lehre aus der Bilanz eines Jahrhunderts, das von der ideologischen Verblendung der Intellektuellen und ihren politischen Irrtümern gezeichnet bleibt. Die Frage nach der Mitverantwortung der Intellektuellen für die Abgründe der Unmenschlichkeit, in die ihr Jahrhundert führte, stellt Michel Winock nicht.

Michel Winock: "Das Jahrhundert der Intellektuellen". Aus dem Französischen von Judith Klein. Mit einem Vorwort von Ingrid Galster. Edition Discours in der UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2003. 886 S., geb., 49,- [Euro].

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