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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Wenn sich Pierre Rosanvallon mit dem Populismus beschäftigt, macht sich Rezensent Rudolf Walther auf eine anspruchsvolle Lektüre gefasst: Der französische Historiker ergründet Geschichte und Theorie des Begriffs, zeichnet rechte und linke Bewegungen nach und diskutiert Demokratietheorien. Am interessantesten scheint für den Rezensenten zu sein, wie Rosanvallon das demokratische Subjekt stärken möchte, das sich offenbar nicht mehr ausreichend in den heutigen demokratischen Systemen wiederfindet. Walther erfährt, wie demokratische Ausdrucksformen, der soziale Zusammenhalt und die Beziehungen zwischen Repräsentanten und Repräsentierten gestärkt werden müssten, um populistische Bewegungen ihre Attraktivität zu nehmen. Sehr lesenswert, findet der Rezensent.

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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.12.2020

Das Volk sind wir

Eine aufstrebende Ideologie des 21. Jahrhunderts links wie rechts: Der französische Historiker und Politologe Pierre Rosanvallon widmet sich Analyse und Kritik des Populismus.

Der am Collège de France lehrende Historiker und Politologe Pierre Rosanvallon hat eine ganze Reihe von Büchern zu Geschichte und Gegenwart der Demokratie vorgelegt und dazu auch Vorschläge, wie die Erosion der Zustimmung zur demokratischen Regierungsform aufgehalten werden könne (F.A.Z. vom 15. Oktober 2016). Da lag es nahe, aus diesem Fundus zu schöpfen, um sich dem Phänomen zu widmen, das die Demokratie derzeit am meisten bedroht: dem Populismus, den Rosanvallon die "aufsteigende Ideologie des 21. Jahrhunderts" nennt. Seine Grundthese ist, dass der Populismus eine "Grenzform des demokratischen Projekts" sei. Das hänge damit zusammen, dass Demokratie durch "strukturelle Umbestimmtheit" geprägt sei und sie folglich "ein instabiles Regime darstellt, das ständig seine eigenen Aporien erforscht", kein fixes Modell sei, sondern "ständig zu leistende Arbeit, fortgesetzte Erkundung". Dem wird man im Rückblick auf die Reformen, die demokratische Systeme im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts durchlaufen haben, zustimmen können.

Das Buch ist in drei große Teile gegliedert, die wiederum in handliche Kapitel aufgeteilt sind. Der erste Teil widmet sich der "Anatomie des Populismus", der zweite bringt Exempel populistischer Regime aus der Geschichte, der dritte Teil ist eine Kritik des Populismus, dem ein kurzer Schluss über den "Geist einer Alternative" angehängt ist. Hier finden sich Vorschläge für eine "potenzierte", eine "interaktive" oder "Betätigungsdemokratie", die den Populisten das Wasser abgraben soll. Das bleibt skizzenhaft (in anderen Büchern hat Rosanvallon dazu mehr geschrieben) und soll kein Demokratiemodell entwerfen, sondern ist "der Hinweis darauf, dass ständige Arbeit zu leisten ist, dass Prinzipien zu aktivieren sind; eingedenk dessen, dass Demokratie primär das System ist, das nicht aufhört, sich selbst zu hinterfragen".

Am besten gelungen ist Rosanvallon zweifellos der erste Teil. In seiner "Anatomie" analysiert er Schlüsselelemente, die in allen Formen des Populismus auftauchen, ob links oder rechts. Dazu gehört die Auffassung von einem "homogenen Volk", das einer ebenfalls weitgehend homogenen politischen Klasse oder Kaste, einer Elite oder Oligarchie, gegenübersteht. Dieses Volk sind die Unzufriedenen, die sich von den Herrschenden auf Distanz gehalten und verachtet fühlen, weil jene sich "gesellschaftlich und moralisch aus der gemeinsamen Welt verabschiedet" hätten. Gegen die "Repräsentanten", von denen sie sich nicht (mehr) repräsentiert fühlen, bieten Populisten Instrumente der direkten Demokratie auf, etwa Volksabstimmungen, die den Willen der vermeintlich Vergessenen und Abgehängten unmittelbar zum Ausdruck bringen sollen. Dazu kommt die Ablehnung nicht gewählter Behörden oder Institutionen, national wie international, denen demokratische Legitimität abgesprochen wird. Das gilt für Teile der Justiz, bis hinauf zu den Verfassungsgerichten, zielt aber auch auf die undurchschaubar gewordene globale Wirtschaftsverflechtung mit ihren "Sachzwängen". So gehört zu den Kennzeichen des Populismus neben dem altbekannten Nationalismus auch ein "Nationalprotektionismus", der rechte wie linke Bewegungen verbindet.

Ein anderes verbindendes Element ist die Notwendigkeit einer Führungsfigur, einer Person, die das "Volk" inkarniert, in dem sich die Anhänger wiederfinden, auch wenn der Führer ein Milliardär ist wie Trump, der sich zum Anwalt der kleinen Leute aufwirft: Rosanvallon nennt das einen "Homme-peuple". Zu den historischen Beispielen, die er im zweiten Teil anführt, gehören etwa Napoleon III. in Frankreich oder der Argentinier Juan Perón. Zu den Talenten solcher Volkstribunen - Rosanvallon verweist dabei auf die Rechtspopulistin Le Pen und den Linkspopulisten Mélenchon in Frankreich - gehört es, Emotionen gegen die herrschende "Kaste" aufzupeitschen, mit dem Ziel, "sie alle davonzujagen" (so der Titel eines Buches von Mélenchon). Kurz gesagt: Zwischen populistischen Bewegungen rechts und links gibt es im Grunde keinen wesentlichen Unterschied.

Der zweite Teil mit kurzen Skizzen zu historischen Populisten und Populismen fügt dem nicht viel hinzu. Er soll im Grunde nur die in der "Anatomie" herausgearbeiteten Elemente illustrieren. Dabei könnte man sich fragen, warum Rosanvallon hier nicht bis auf römische Volkstribunen, etwa die Gracchen, zurückgegangen ist. Wenig beachtet er einen wesentlichen Unterschied zum Populismus des 21. Jahrhunderts: die eminente Rolle von Medien. Gerade hat der Verlag der "Passauer Neuen Presse" 120 Regionalzeitungen in Polen an einen Staatskonzern verkauft. In Ungarn hat Viktor Orbán seinen Günstlingen immer mehr Einfluss auf Fernsehen und Zeitungen verschafft. Trumps Aufstieg wäre ohne Fox und Breitbart News kaum vorstellbar. Vor allem: Die eminente Rolle, die "Blasen" und "Echokammern" in den sozialen Netzwerken für populistische Bewegungen spielen, streift Rosanvallen lediglich. Das hätte in einem Buch über Populismus mehr Aufmerksamkeit verdient.

Seine Kritik des Populismus im dritten Teil beginnt Rosanvallon damit, dass er die Grenzen und Schwächen von Volksabstimmungen und Referenden für die Demokratie aufzeigt. Das hat er in anderen Werken ausführlicher dargelegt, und Autoren wie Bernard Manin haben es mit größerer historischer Tiefenschärfe analysiert. Auch dass die vermeintliche Übereinstimmung, die dem populistischen Volksbegriff zugrunde liegt, eine "demokratische Fiktion" ist, kann seit der Kritik an Rousseaus Vorstellung eines "Gemeinwillens" als gängige Münze gelten.

Ob es in populistischen Regimen eine schnelle, vollkommene "Aushebelung" demokratischer Institutionen und Verfahren gibt oder ob sie über die Zeit "ausgehöhlt" werden, ist eine Frage der äußeren wie inneren Umstände. In Lateinamerika war oft Ersteres der Fall (siehe das Beispiel von Hugo Chávez), in Europa bleibt die EU, trotz all ihrer Schwächen, eines der Bollwerke, die das vollständige Umkippen von Demokratien in "Demokraturen" bisher verhindert hat. Rosanvallons Analyse des Populismus hat ihre Verdienste, aber das letzte Wort zum Thema ist sein Buch sicher nicht.

GÜNTHER NONNENMACHER

Pierre Rosanvallon:

"Das Jahrhundert des

Populismus". Geschichte, Theorie, Kritik.

Hamburger Edition, Hamburg 2020.

265 S., geb., 35,- [Euro].

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