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Eine tiefenscharfe Deutung unseres Jahrhunderts, das durch die Konfrontation von Werten und Ideologien geprägt wurde, in dem sich aber auch die traditionellen Konfliktlinien um nationale Hegemonieansprüche behaupteten. Diners profunde Analyse wurde von der "Süddeutschen Zeitung" gleich zweimal auf die Bestenliste gesetzt, einmal auf Platz 1.

Produktbeschreibung
Eine tiefenscharfe Deutung unseres Jahrhunderts, das durch die Konfrontation von Werten und Ideologien geprägt wurde, in dem sich aber auch die traditionellen Konfliktlinien um nationale Hegemonieansprüche behaupteten. Diners profunde Analyse wurde von der "Süddeutschen Zeitung" gleich zweimal auf die Bestenliste gesetzt, einmal auf Platz 1.
Autorenporträt
Dan Diner, geboren 1946, lehrt Moderne Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem und war bis vor Kurzem Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig. Seit 1999 ist er Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur. Als ordentliches Mitglied der Philologisch-historischen Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig steht er dem in Verbindung mit dem Simon-Dubnow-Institut durchgeführten Forschungsprojekt "Europäische Traditionen Enzyklopädie jüdischer Kulturen" vor.2006 wurde Dan Diner mit dem Ernst Bloch-Preis der Stadt Ludwigshafen am Rhein ausgezeichnet; im Jahr 2007 erhielt er den italienischen Premio Capalbio in der Sektion Internationale Politik. Als Gastprofessor wirkte er an Universitäten und Forschungsinstituten in Kassel, München, Wien, Urbana-Champaign, Luzern, Oxford und Princeton.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.06.1999

Die große Treppe von Odessa
Von Vertreibungen und Völkermord, von Volkssouveränität und Nationalstaatsprinzip

Dan Diner: Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung. Luchterhand Literaturverlag, München 1999. 383 Seiten, 49,80 Mark.

Bisher ging es Dan Diner in seinen Büchern vorrangig um deutsch-jüdische Geschichte, das Erinnern an das Schicksal der deutschen Juden, um die Nachbarschafts-Verhältnisse des Staates Israel im Nahen Osten. Nicht so dieses Mal mit einem Buch, das genau zur rechten Zeit erscheint und dem man die Palme reichen muß. Der Gedanke ist verlockend: einfach nur auf der großen Treppe von Odessa zu sitzen, nach Süden über das Schwarze Meer, Konstantinopel-Byzanz bis nach Troja und nach Westen auf Ostmitteleuropa und "Zwischeneuropa" zu schauen - verlockender, als sich vom Autor eine universalhistorische Deutung "des zu Ende gehenden" Jahrhunderts vor Augen führen zu lassen.

Es ist für Geschichtskundige und Weitgereiste nicht neu, daß historische Wahrnehmungen, Erinnerungen und Gewichtungen sich erstaunlich verändern, wenn man nach nur wenigen Flugstunden irgendwo anders gleichsam vom Himmel fällt: Ehedem sogenannte Ostexperten Westeuropas staunten nicht schlecht, als sie vor einem Vierteljahrhundert an der Universität von Tel Aviv - sie gab auch den Anstoß zu Dan Diners neuem Buch - mit israelischen Nord- und Südexperten über den Kommunismus am Mittelmeer diskutierten; damals war noch Richard Löwenthal dabei.

Für den Autor steht fest, daß das Zerschlagen der großen multiethnischen Territorien, des Osmanischen und des habsburgischen Reiches und auch des großpolnischen, mit nachfolgendem Übergang zu homogenen Nationalstaaten mit multireligiöser und multinationaler Bevölkerung zu fürchterlicher Brutalisierung - prinzipiell ähnlich in Mittel- und Ostmitteleuropa - führen mußte. Das hat es getan - in der Türkei wie in Polen und anderswo. Überall erkannte die führende Nationalität in den bei ihnen noch vorhandenen Minderheiten ihre unangenehmste Behinderung, gleichgültig, ob es sich um Armenier, Kurden, Kosovo-Albaner, Juden oder Deutsche handelte. Die Antwort lautete Vertreibung oder Genozid - nirgends "Minderheitenschutz", wie es die Angelsachsen gern gehabt hätten.

Dan Diner entfährt das Wort von der "Logik der Vertreibungen": Es war im Grunde die Logik der Volkssouveränität, die multiethnisch komponierte Gemeinwesen allenthalben bedrohte, obwohl die Leute in ihnen meist nicht übel gelebt hatten. Zuvorderst das Osmanische Reich, dann - trotz aller Bremsversuche - alsbald das Habsburgerreich und das zaristische Rußland. "Das Prinzip Selbstbestimmung durchschlug wie ein Projektil die Strukturen des alten Europa." Die kleineren Nationalstaaten, die entstanden, wurden immer unduldsamer gegen ethnisch fremde Minderheiten in ihren Grenzen, und bei "sich ethnifizierenden Territorialkonflikten" mußten sie es sogar werden.

Wie die Türken mit den Armeniern verfuhren, ist wohl bekannt - aber nicht viele wissen etwas von der Vertreibung einer Million ethnischer Griechen aus Westanatolien, aus der sich noch heute das feindselige Verhältnis der beiden Nato-Bündnispartner besser als alles andere erklärt. Wie es zu den Vertreibungen der muslimischen Bevölkerung in der sogenannten "makedonischen Frage" kam, ist ebenfalls wie der ganze erste Balkankrieg kaum in das westeuropäische Bewußtsein gedrungen - desto mehr aber an Ort und Stelle. Im Ergebnis führte die Herausbildung immer homogenerer Nationalstaaten zu immer brutalerer politischer Dynamik.

Was auf dem ehedem osmanischen Boden geschah, wurde auf dem ehedem habsburgischen und zaristischen genau beobachtet. Dan Diner zeigt Wechselwirkungen auf: Wie schon im Zarenreich zu Kriegszeiten die sensiblen Randzonen von "Unzuverlässigen" gesäubert wurden - Juden, ebenso Nomaden und Kasachen - und wie Pilsudskis Entwurf eines polnischen Großstaates stracks auf die Minderheits- und Grenzfrage hinauslief. Ethnisches und Politisches traf dann überall bald zusammen - gleichgültig, ob an den Meerengen oder an der Ostsee.

Der Verfasser macht dankenswerterweise darauf aufmerksam, daß das Zusammengehen zwischen der Sowjetunion und der Weimarer Republik - Stichwort Rapallo - nicht in der Interessengemeinschaft zweier Paria-Staaten nach dem Ersten Weltkrieg wurzelte (wie es noch heute in Deutschland weithin gelehrt wird), sondern in der "polnischen Frage" begründet lag. Für diese schlichte Erkenntnis muß man sich anscheinend, wie er eingangs empfiehlt, auf die große Treppe von Odessa setzen. Zu danken ist ihm auch für die Feststellung von Offenkundigem: Daß Vertreibungen und Flucht von Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg Vorgänge waren, die sich den Mustern ethnischer Säuberungen näherten. Er befaßt sich sogar mit dem diesbezüglichen deutschen Schweigen und der diesbezüglichen Lähmung des deutschen Kollektivgedächtnisses.

Ein zwar nützlicher und gelungener Exkurs Dan Diners auf den bei allem so hilfreichen Fortschritt der Waffentechnik läßt aber dennoch unbefriedigt: Die Geschichte der zunehmenden Leichtigkeit des Tötens seit dem ersten punktuellen Einsatz von Maschinengewehren schon im Deutsch-Französischen Krieg von 1871, der jedoch in den Jahrzehnten bis zum Ersten Weltkrieg kaum in das militärische Bewußtsein drang, bis - nach wieder einer Pause - zu den "Raumwaffen" im Zweiten Weltkrieg und danach ist zwar von ihm vorzüglich dargestellt und belegt. Aber da war doch noch etwas außer dem Fortschritt der Waffentechnik?

Der Leser, zumal der ältere mit Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, vermißt gleichwertige Exkurse auf die Entwicklung der Nachrichtenmittel und der psychologischen Kriegführung. Das Hineinblicken des Fernsehens in das kriegerische Geschehen ist in hohem Maße kriegsentscheidend geworden: Eine feindselige Kamera ist wirksamer als ein feindliches Maschinengewehr. Vielleicht bringt das Fernsehen sogar das Ende der herkömmlichen ethnischen Säuberungen. Sobald man sie sieht, überall sieht, werden sie unerträglich. Solange das große Publikum sie nicht sieht, lassen sich kühle Aktenvermerke über den sicheren Nutzen von Völkerverschiebungen zur Lösung von Minderheitsproblemen leicht abfassen. Viele junge Leute haben in den vergangenen Jahrzehnten Psychologie studiert - nur die Massenpsychologie war nicht angeboten und nicht gefragt.

Dan Diner wäre nicht Dan Diner, wenn er es unterließe, in seinem Buch über "Das Jahrhundert" das besondere Schicksal der Juden ins Auge zu fassen. Von der Treppe in Odessa sieht man genau das Gefälle: eine unerwünschte und zu verfolgende Minderheit waren sie in ganz Ostmitteleuropa - legitimierte Ausrottungsobjekte jedoch nur im Machtbereich des Nationalsozialismus: "Man beließ es nicht dabei, die jüdische Bevölkerung aus dem eigenen Herrschaftsgebiet zu vertreiben. Die notorische Praxis ethnischer Säuberungen wurde nicht nur überboten; die Logik der Vertreibungen verkehrte sich vielmehr im Zuge der nazideutschen Expansion in ihr Gegenteil. Es galt, die Juden von überall in Europa zusammenzusuchen, um sie allesamt zu vernichten."

Mit dieser Blickweise kommt er zu Erkenntnissen über das vielgeforderte Erinnern und seine Manifestationen, die nicht nur neu, sondern vor allem klischeefrei sind. Er zeigt auf, wie "der Nationalsozialismus im deutschen Gewand das Gedächtnis der Deutschen mit dem Verbrauch Hitlers kontaminieren konnte". Hätte dieses buchstäblich giftige Verb bisher jemand auch nur zu denken, geschweige niederzuschreiben gewagt? Meyers Großes Taschenlexikon nennt unter mehreren Bedeutungen von "Kontamination" die heute geläufigste: "in Hygiene, Biologie und Umwelthygiene die Verunreinigung von Räumen und Gegenständen, Lebensmitteln, Medikamenten, Gewebe und Mikroorganismenreinkulturen sowie von Luft, Wasser und Boden durch andersartige, oft schädigende Stoffe (Mikroorganismen, Gifte, Abgase, Industriestäube, radioaktive Stoffe)".

Das Lexikon erwähnt nicht die Mentalhygiene, um die es Dan Diner bei der Benutzung des Wortes "Kontamination" geht. Aber er erklärt damit einleuchtend, daß es beim Erinnern weniger um Ereignisse als um historisch tradierte Gedächtnismuster geht, bei denen das kulturelle Gedächtnis zwischen der Wertigkeit der Opfergruppen unterscheidet. Er spricht vom "Erinnerungskanon", was hieße, daß es kanonische und apokryphe Opfer gäbe - ein interessanter Gedanke. Für ein religiös-christliches Gedächtnis sind Juden konstitutiver als beispielsweise Zigeuner, da ein solches Gedächtnis weniger belastet, daß sie ebenfalls zum Opfer gemacht worden sind. Der gleiche Gedankengang führt auch zu der Erkenntnis, weshalb Soziozid, stalinistischer Klassenmord viel schwächer und kürzer im Kollektivgedächtnis haftet, es sei denn in Polen beim Erinnern an die Ermordung der polnischen Offiziere im Wald von Katyn bei Smolensk. Aber das ist wiederum eine "gebündelte Geschichtserfahrung". Vielleicht gelingt es Dan Diner mit seinen ausführlichen Bemerkungen, das Reden über die Erinnerung gerade hierzulande auf höheres Niveau zu heben.

Aber es wäre schon genug, wenn die Peinlichkeit des Lesens seiner bibliographischen Fußnote dazu führte, den Blick aus dem Westen Europas etwas mehr nach Osten zu richten. Auf 50 Anmerkungsseiten stehen dort die Bücher, die man hätte lesen müssen. Der einzige mildernde Umstand ist das seit Jahrhunderten weit geringere Interesse des Westens am Osten als des Ostens am Westen. Aber wenigstens auf die Treppenstufen von Odessa sollte man sich einmal setzen.

ERNST-OTTO MAETZKE

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»Dan Diner ist sein Meisterwerk gelungen.« Die Weltwoche