"Mama ist gestorben." Mit diesem Satz beginnt die Erzählung "Das jüdische Begräbnis". Der Ich-Erzähler fährt nach Frankfurt, um die Begräbnisformalitäten zu regeln, aber er kann seine Mutter nicht beerdigen. Sie ist Jüdin. Der schon vor einigen Jahren gestorbene Vater war Christ. Weil der Vater sich während der Herrschaft der Nazis stets geweigert hatte, sich von seiner jüdischen Frau scheiden zu lassen, hat sie den Faschismus überlebt. Nun aber kann sie nicht - die Gesetze und Rituale der Religion wollen es so - neben ihrem christlichen Mann bestattet werden. Mit dieser bitteren und grotesken Tatsache konfrontiert, beginnt der Erzähler sich zu fragen, worin seine eigene Religiosität eigentlich besteht, inwieweit er selbst ein Jude ist, ja er fragt sich: Wer eigentlich ist ein Jude?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.06.1996In Trauer vereint
Lothar Schönes Parabel auf die Gegensätze der Religionen
Wer zu tief ins Labyrinth der Bürokratie gerät, ist verloren. Zuckmayers Schuster Voigt, der ohne Aufenthaltserlaubnis keine Arbeit erhält, aber ohne Arbeit auch keine Aufenthaltsbewilligung, befreit sich daraus, indem er in die Rolle des Hauptmanns von Köpenick schlüpft. Auch kirchliche Vorschriften können zum Labyrinth werden. In Lothar Schönes neuer Erzählung "Das jüdische Begräbnis" möchte der Sohn einer jüdischen Mutter und eines christlichen Vaters den Wunsch der verstorbenen Mutter erfüllen, neben ihrem Mann auf dem christlichen Friedhof in Frankfurt begraben, dort aber nach jüdischem Ritus beerdigt zu werden. Unüberwindlich scheinen in den wenigen Tagen, die bis zur Bestattung bleiben, die Schwierigkeiten. Gibt es einen Ausweg?
Eingelagert in den Bericht des Erzählers sind Episoden der Vorgeschichte. Obwohl sich die Mutter immer als "deutsche" Jüdin bekannte, wurde sie vor der Deportation nur durch den Vater gerettet, der den massiven Einschüchterungsversuchen der Gestapo widerstand und eine Scheidung ablehnte. Wie aber das religiöse Judentum der Mutter mehr formal blieb, so auch das Christentum des Sohns. Um "rassische" Vorurteile und konfessionelle Schranken kreisen die Gespräche mit dem Vetter Fred aus Israel, einem Überlebenden des Konzentrationslagers, den jetzt der Fanatismus der Ultraorthodoxen in Israel entsetzt.
Im Rückblick des Erzählers werden Reisen in die frühere Heimatstadt Breslau, nach Auschwitz und nach Israel wieder gegenwärtig. In die Beobachtungen mischen sich literarische Reminiszenzen, Primo Levis Beschreibung seiner Ankunft im Lager Auschwitz. Im israelischen Yad Vashem überwältigt den Erzähler die Gedenkstätte, das "Museum des Todes". Heute, so erkennt er, wird jüdische Identität weniger durch die Religion als durch die Erinnerung an den Holocaust gestiftet. Alte jüdische Witze und Anekdoten bekommen nach Auschwitz eine andere Lesart. Die Geschichte von der "Angst vorm Hund", die auf den Widerwillen des Juden vor Haustieren anspielt, wird nun auf die Angst vor den Bluthunden der Lager bezogen.
Der Versuch, einen Rabbiner für die Beerdigung der Mutter zu gewinnen, scheitert. Die Frau Freds glaubt die Gründe zu kennen: Eine Beerdigung auf einem christlichen Friedhof wäre wie eine nachträgliche christliche Taufe. Bedenken haben natürlich auch die christlichen Theologen. Doch findet der Erzähler im Pfarrer Reißler von der Luthergemeinde einen Geistlichen, der in der Herkunft des Christentums aus der jüdischen Religion, im Juden und Christen gemeinsamen Auferstehungsglauben und auch in der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau Voraussetzungen für ein jüdisches Begräbnis sieht. Daß es die Luthergemeinde ist, deren Pfarrer den Kordon der theologischen Einwände durchbricht, wirkt wie eine Wiedergutmachung von Martin Luthers Verdammung des Judaismus. So endet die Erzählung vom jüdischen Begräbnis versöhnlich. Pfarrer Reißler, ohne Talar, spricht den 91. Psalm, Vetter Fred betet das hebräische Kaddisch, und mit der Schwester Gerda vom Altersheim ist auch die jüdische Gemeinde am Grab vertreten.
Aber es bleiben Fragen, die der Schluß nur vertagt. Die Geschichte dieses jüdischen Begräbnisses hat sich zur Parabel verdichtet, zum Gleichnis für die nicht beigelegten Konflikte zwischen den Religionen, für die Macht religiöser Orthodoxie und für einen weitreichenden Liberalismus in der lutherischen Kirche, für immer noch schwelende Ressentiments im deutsch-jüdischen Verhältnis. Ist diese Erzählung, ein Plädoyer gegen dogmatische Verhärtungen, das Beste, was ich bisher von Lothar Schöne gelesen habe, so stellt sie doch eine entscheidende Frage nicht: mit welchem Recht der ungläubig gewordene Mensch noch die Erfüllung eines religiösen Ritus einfordern darf. WALTER HINCK
Lothar Schöne: "Das jüdische Begräbnis". Erzählung. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1996. 168 S., geb., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lothar Schönes Parabel auf die Gegensätze der Religionen
Wer zu tief ins Labyrinth der Bürokratie gerät, ist verloren. Zuckmayers Schuster Voigt, der ohne Aufenthaltserlaubnis keine Arbeit erhält, aber ohne Arbeit auch keine Aufenthaltsbewilligung, befreit sich daraus, indem er in die Rolle des Hauptmanns von Köpenick schlüpft. Auch kirchliche Vorschriften können zum Labyrinth werden. In Lothar Schönes neuer Erzählung "Das jüdische Begräbnis" möchte der Sohn einer jüdischen Mutter und eines christlichen Vaters den Wunsch der verstorbenen Mutter erfüllen, neben ihrem Mann auf dem christlichen Friedhof in Frankfurt begraben, dort aber nach jüdischem Ritus beerdigt zu werden. Unüberwindlich scheinen in den wenigen Tagen, die bis zur Bestattung bleiben, die Schwierigkeiten. Gibt es einen Ausweg?
Eingelagert in den Bericht des Erzählers sind Episoden der Vorgeschichte. Obwohl sich die Mutter immer als "deutsche" Jüdin bekannte, wurde sie vor der Deportation nur durch den Vater gerettet, der den massiven Einschüchterungsversuchen der Gestapo widerstand und eine Scheidung ablehnte. Wie aber das religiöse Judentum der Mutter mehr formal blieb, so auch das Christentum des Sohns. Um "rassische" Vorurteile und konfessionelle Schranken kreisen die Gespräche mit dem Vetter Fred aus Israel, einem Überlebenden des Konzentrationslagers, den jetzt der Fanatismus der Ultraorthodoxen in Israel entsetzt.
Im Rückblick des Erzählers werden Reisen in die frühere Heimatstadt Breslau, nach Auschwitz und nach Israel wieder gegenwärtig. In die Beobachtungen mischen sich literarische Reminiszenzen, Primo Levis Beschreibung seiner Ankunft im Lager Auschwitz. Im israelischen Yad Vashem überwältigt den Erzähler die Gedenkstätte, das "Museum des Todes". Heute, so erkennt er, wird jüdische Identität weniger durch die Religion als durch die Erinnerung an den Holocaust gestiftet. Alte jüdische Witze und Anekdoten bekommen nach Auschwitz eine andere Lesart. Die Geschichte von der "Angst vorm Hund", die auf den Widerwillen des Juden vor Haustieren anspielt, wird nun auf die Angst vor den Bluthunden der Lager bezogen.
Der Versuch, einen Rabbiner für die Beerdigung der Mutter zu gewinnen, scheitert. Die Frau Freds glaubt die Gründe zu kennen: Eine Beerdigung auf einem christlichen Friedhof wäre wie eine nachträgliche christliche Taufe. Bedenken haben natürlich auch die christlichen Theologen. Doch findet der Erzähler im Pfarrer Reißler von der Luthergemeinde einen Geistlichen, der in der Herkunft des Christentums aus der jüdischen Religion, im Juden und Christen gemeinsamen Auferstehungsglauben und auch in der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau Voraussetzungen für ein jüdisches Begräbnis sieht. Daß es die Luthergemeinde ist, deren Pfarrer den Kordon der theologischen Einwände durchbricht, wirkt wie eine Wiedergutmachung von Martin Luthers Verdammung des Judaismus. So endet die Erzählung vom jüdischen Begräbnis versöhnlich. Pfarrer Reißler, ohne Talar, spricht den 91. Psalm, Vetter Fred betet das hebräische Kaddisch, und mit der Schwester Gerda vom Altersheim ist auch die jüdische Gemeinde am Grab vertreten.
Aber es bleiben Fragen, die der Schluß nur vertagt. Die Geschichte dieses jüdischen Begräbnisses hat sich zur Parabel verdichtet, zum Gleichnis für die nicht beigelegten Konflikte zwischen den Religionen, für die Macht religiöser Orthodoxie und für einen weitreichenden Liberalismus in der lutherischen Kirche, für immer noch schwelende Ressentiments im deutsch-jüdischen Verhältnis. Ist diese Erzählung, ein Plädoyer gegen dogmatische Verhärtungen, das Beste, was ich bisher von Lothar Schöne gelesen habe, so stellt sie doch eine entscheidende Frage nicht: mit welchem Recht der ungläubig gewordene Mensch noch die Erfüllung eines religiösen Ritus einfordern darf. WALTER HINCK
Lothar Schöne: "Das jüdische Begräbnis". Erzählung. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1996. 168 S., geb., 29,80 DM.
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