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Die Juden in Deutschland nahmen im 19. Jahrhundert an der allgemeinen Modernisierung der Gesellschaft teil. Aber zugleich beschäftigten sie sich intensiv mit ihrem eigenen "Projekt der Moderne". Sie waren bestrebt, für sich eine jüdische Identität zu erfinden, die zu ihrer neuen Stellung in Staat und Gesellschaft paßte. Shulamit Volkov geht in den vorliegenden zehn Essays diesem jüdischen "Projekt der Moderne" ebenso nach wie dem Antisemitismus in Deutschland und seinen Verbindungen zu Nationalismus und Antifeminismus.

Produktbeschreibung
Die Juden in Deutschland nahmen im 19. Jahrhundert an der allgemeinen Modernisierung der Gesellschaft teil. Aber zugleich beschäftigten sie sich intensiv mit ihrem eigenen "Projekt der Moderne". Sie waren bestrebt, für sich eine jüdische Identität zu erfinden, die zu ihrer neuen Stellung in Staat und Gesellschaft paßte. Shulamit Volkov geht in den vorliegenden zehn Essays diesem jüdischen "Projekt der Moderne" ebenso nach wie dem Antisemitismus in Deutschland und seinen Verbindungen zu Nationalismus und Antifeminismus.
Autorenporträt
Shulamit Volkov ist Inhaberin des Konrad-Adenauer-Lehrstuhls für Vergleichende Europäische Geschichte an der Universität Tel Aviv. Sie war Fellow des St. Antony's College, Oxford, des Wissenschaftskollegs zu Berlin und des Historischen Kollegs in München. Zahlreiche Veröffentlichungen zur deutsch-jüdischen Geschichte, u.a. "Die Juden in Deutschland, 1780 - 1918".
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.09.2001

Fluch der Ungleichzeitigkeit
Shulamit Volkovs Geistesgeschichte des deutschen Judentums

Die Tel Aviver Universität, in den fünfziger Jahren gegründet, hat sich immer um die Erforschung der deutschen Geschichte verdient gemacht. Shulamit Volkov ist heute wohl die bedeutendste Vertreterin dieser Schule, und ihr besonderes Interesse gilt dem deutschen Judentum. Zu ihren jüngsten Veröffentlichungen gehört ein Band in der Oldenbourg Enzyklopädie Deutscher Geschichte, "Die Juden in Deutschland 1780-1918", und jetzt legt sie eine Sammlung von Aufsätzen vor, die während des letzten Jahrzehnts zum gleichen Thema entstanden sind. Volkov, 1942 in Tel Aviv geboren, stellt ihre Thesen mit einer wohltuenden Professionalität zur Diskussion. Anders als viele deutsche Juden der letzten Forschergeneration hat sie es nirgends nötig, apologetisch zu werden; und als Jüdin, deren Muttersprache das Hebräische ist, hat sie zugleich einen Blick für ihren Gegenstand, der den deutschen Kollegen ihrer Generation abgehen muß.

Sie nennt diesen Gegenstand das "jüdische Projekt der Moderne", und gerade in Israel wird deutlich, wie ambivalent es sich im Blick des Historikers ausnimmt. Auch der Judenstaat verdankt ihm seine Entstehung, und die Ambivalenz seines Ursprungs setzt sich zum Teil in der Krise fort, in der dieser Staat seit einem halben Jahrhundert schwebt. Es ist kein Zufall, daß der erste Aufsatz des Bandes - "Minderheiten und der Nationalstaat: Eine postmoderne Perspektive" - zwei entgegengesetzte Standpunkte referiert.

Hannah Arendt hatte die Moderne immer begrüßt; der deutschen, assimilierten Jüdin schien der Preis, den eine Minderheit für ihre Integration in den Nationalstaat zahlen mußte, nicht zu hoch. Das Unglück lag für sie nicht in der Moderne, sondern im Partikularismus der Juden selbst: Sie hätten eine Plutokratie gebildet, die sich dem Universalismus der Neuzeit verweigerte und damit den Antisemitismus schürte, dem sie schließlich zum Opfer fiel. Umgekehrt sieht es Zygmunt Bauman: Der britische Soziologe entstammt dem polnischen Judentum, das ethnische Kollektiv ist ihm ungleich wichtiger als Hannah Arendt. Für ihn ist der Nationalstaat nichts als ein totales Ordnungssystem, das alle Minderheiten systematisch ausmerzt. Deren Besonderheit unterhöhlt das abstrakte Gleichheitsprinzip, dem die Moderne ihren Fortschritt verdankt, und die kulturelle Eigenständigkeit der Juden habe sie daher automatisch zur Zielscheibe einer gnadenlosen Aggression werden lassen.

Volkov steht beiden Thesen skeptisch gegenüber. Sie beruhten auf philosophischen und soziologischen Abstraktionen, die das Quellenmaterial manipulierten und einen homogenen nationalen Block voraussetzten, der eine erratische Minderheit nicht zu integrieren vermag. Im Jahrhundert der Emanzipation indessen existierte ein solches "Deutschland" noch gar nicht, es mußte vielmehr erst von seinen "Minderheiten" aufgebaut werden, unter anderen also auch von den Juden. "Vielleicht", so formuliert Volkov ein Arbeitsziel des Historikers, "sollten in einer postmodernen Historiographie interne jüdische Angelegenheiten nicht mehr an den Rand gehören." Statt dessen müsse man sie als einen weiteren Teil des Puzzles deuten, als das sich die damalige deutsche Gesellschaft dem kritischen Blick darbietet. Einer solchen Untersuchung des jüdischen Details im deutschen Gesamtgefüge sind die Aufsätze des Bandes gewidmet, und an zwei Beispielen soll das verdeutlicht werden.

Alle historisch gewachsenen Gesellschaftsgruppen mußten ihre Tradition umschreiben, um in die Moderne einzutreten. Auch bei den Juden war das so, wie der Aufsatz "Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland" beschreibt. Volkov weist darauf hin, daß eine Tradition erst dort entsteht, wo ein Verlust eintritt und durch die Symbolik einer Überlieferung ersetzt werden muß. Das trifft zunächst für das Judentum der Antike zu - der Verlust seines Landes und seines Tempels wird durch die Tradition der Gesetzes-Religion und ihrer Ersatzrituale ausgeglichen -, und in der Neuzeit wiederholt es sich: Die Moderne bringt ein anderes "Gesetz" zur Herrschaft, das Gesetz der Wissenschaft, und die Juden versuchen sich ihm anzupassen. "Die Bemühungen", schreibt Volkov, "die Religion durch Wissenschaft zu ,ersetzen', bestimmten dieses ganze kulturelle Projekt von Anfang an." Sie sind der Grund dafür, daß sich das deutsche Judentum immer als ein Teil des Bildungsbürgertums verstand und daß sein Versuch, eine neue Tradition zu stiften, schließlich scheitern mußte. Denn "innerhalb der allgemeinen deutschen Kultur litt dieses Projekt ständig unter einer fundamentalen Ungleichzeitigkeit. Es vertrat die Ideale der Aufklärung, als diese überall in Deutschland heftig angegriffen wurden."

Ein Hauptgrund für das Scheitern des jüdischen Bildungsideals liegt in der Tatsache, daß es völlig von der deutschen Sprache abhängig blieb und daher "immer wieder seine besten Kräfte an die umgebende Kultur verlor". Ursprünglich hatte die jüdische Aufklärungsbewegung, die Haskalah, die Erneuerung des Hebräischen angestrebt, sie ist aber nur im Ostjudentum geglückt, wo eine Akkulturation in diesem Maße nicht stattfand.

Der Aufsatz "Sprache als Ort der Auseinandersetzung mit Juden und Judentum in Deutschland, 1780-1933" zeichnet die historische Entwicklung dieser Problematik nach. Die Freundschaft zwischen Lessing und Mendelssohn leitet zwar die Emanzipation der Juden in Deutschland ein, am Ende der Aufklärung aber nimmt Volkov bereits die Symptome einer sprachlichen Ausgrenzung wahr: Herder lobt die Bibel noch als große Dichtung der alten Hebräer, er legt jedoch zugleich den Grundstein für die romantische Philologie, die die Sprache zum Ausdruck eines Nationalgeistes machen wird und den Juden als "Fremden" allen Anteil daran verweigert. Richtungweisend sind um 1850 die berüchtigten Attacken Richard Wagners, und am Ende des Jahrhunderts - nicht zufällig auch durch Wagners Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain - werden die ursprünglich in der Philosophie geprägten Begriffe vom "Semiten" und "Arier" dann zum vernichtenden Arsenal einer neuen Rassenlehre umgeprägt.

Volkovs Buch enthält eine Fülle von gut formulierten Einsichten, die ihre Aufsätze für das Studium der deutsch-jüdischen Geschichte unentbehrlich machen und in der oft allzu optimistisch beschriebenen Geistesgeschichte des deutschen Judentums neue Akzente setzen. George L. Mosse zum Beispiel - ein Zeit- und Leidgenosse des deutsch-jüdischen Spätbürgertums, dessen melancholisches Profil er nachgezeichnet hat - sieht das Unglück in der Tatsache begründet, daß die Juden sich erst im "Herbst der Aufklärung" emanzipiert hätten, zu einem Zeitpunkt also, da das Prinzip der bürgerlichen Gleichheit schon keinen Vorrang mehr hatte.

In dem Text "Die Ambivalenz der Bildung. Juden im deutschen Kulturbereich" sieht Volkov es genauer. "Vielleicht wurden Juden gar nicht in den ,Herbst der Aufklärung' emanzipiert", schreibt sie, "sondern vielmehr in den ,Frühling der Romantik'." Diese kluge Unterscheidung belegt sie mit einem Blick auf Heinrich Heine und die Jüdinnen, die sich der romantischen Bewegung angeschlossen hatten, und bereitet damit den Weg für eine differenziertere Kultursoziologie. Das von Mosse verehrte Bildungsbürgertum, so zeigt Volkov am Ende ihres Aufsatzes, hat sich hundert Jahre später selbst zerstört, weil es längst zu einer elitistischen Kaste geworden war.

JACOB HESSING

Shulamit Volkov: "Das jüdische Projekt der Moderne". Zehn Essays. Verlag C.H. Beck, München 2001. 246 S., br., 29,90 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Balsam für die Rezensentenseele ist das Buch. Jacob Hessing genießt die "wohltuende Professionalität", mit der die Autorin ihre Thesen zur Diskussion stellt. Dankbar registriert er, dass sie es nirgends nötig hat, apologetisch zu werden, und dass sie als hebräische Muttersprachlerin einen Blick für ihren Gegenstand hat, der deutschen Kollegen abgeht. Das Arbeitsziel des Unternehmens stellt uns Hessing als "Untersuchung des jüdischen Details im deutschen Gesamtgefüge" vor und lobt die "Fülle von gut formulierten Einsichten," die, wie er schreibt, diese Aufsatzsammlung, die den Weg für eine differenziertere Kultursoziologie bereitet, für das Studium der deutsch-jüdischen Geschichte unentbehrlich machen.

© Perlentaucher Medien GmbH