Familie, Freunde, Erinnerung? Darauf hat Architekt Michael Schürtz nie etwas gegeben. Er ist für die Karriere in die Großstadt gezogen und kehrt nur widerwillig für einen Bauleiterjob in seinen Heimatort zurück. Doch die Menschen kommen ihm näher, als er möchte. Und irgendwann muss er einsehen, dass er nie mehr war als das: ein Nobody aus einem Kaff in der norddeutschen Tiefebene. Und dass sein Leben hier und jetzt beginnen kann. »Mit viel Witz und leiser Wehmut erzählt Jan Böttcher von der Rückkehr ins Kaff als Rückkehr zum Ich.« Benedict Wells »Das Kaff zeigt eindrücklich die Unterschiede zwischen Stadt und Land, Oben und Unten, die kulturelle Kluft. Hier wird der Riss spürbar, der die Welt zurzeit spaltet. Wer die Gegenwart verstehen will, muss Jan Böttcher lesen.« Jan Brandt
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.05.2018Ein Berlin-Schnösel kehrt heim
Kein Job wie jeder andere: In seinem Roman "Das Kaff" schickt Jan Böttcher einen Architekten aus der Großstadt zurück in jenes Nest, aus dem er einst aufgebrochen war, um die Welt zu erobern.
Der Berlin-Roman war ein großes Thema um die Jahrtausendwende; nicht viele Bücher sind von diesem Hype geblieben. Später ging der Trend schon aus Kontrastgründen wieder in Richtung Provinz, auch weil sich hier leichter ein Figurengeflecht in der Manier des konventionellen Realismus entwickeln lässt - Juli Zehs Großkolportage "Unterleuten" ist eines der erfolgreichsten Beispiele.
Jan Böttcher, ein feinsinnigerer Erzähler, legt nun ein Werk vor, dass aus der Spannung zwischen beiden Polen - Kleinstadt und Metropole - Funken zu schlagen versucht. Es ist die Spannung, in der ja viele Neuberliner leben. Ihr Enthusiasmus für die Metropole hat viel mit der Herkunftswelt zu tun, der sie sich entronnen glauben, und sie schauen auf ihr niedersächsisches oder schwäbisches "Kaff" durch die Berlin-Brille, die alles noch kleiner macht, als es ohnehin schon ist.
Böttcher, geboren 1937 in Lüneburg, der bisher vier Romane veröffentlicht hat, lässt seinen Helden Michael Schürtz nach zwei Berliner Jahrzehnten in sein Kaff zurückkehren. Schürtz ist Architekt, konnte sich gegenüber den Platzhirschen in seinem beruflichen Umfeld aber nicht richtig durchsetzen und wurde von seinen Kompagnons beiseitegedrängt, was einen Grund-Groll in sein Leben gebracht hat. Nun hat er bei einem Reihenhausprojekt in seiner Heimatstadt einen Bauleiter-Job übernommen, für den sich seine Berliner Kollegen "zu schade" waren. Zufall oder Rückkehr? "Dieses Reihenhaus könnte sonstwo stehen. Ich habe einen Job angenommen." So redet es sich der Ich-Erzähler ein. Die gelungene Eingangsszene schildert, wie er beim Bad in der "Ull" - dem Flüsschen des Orts - eine positive Grundstimmung aufzubauen versucht. Ist doch ganz schön hier! Dann aber, während er im Wasser ist, entwendet ihm eine Gruppe Jugendlicher Handtuch und Kleidung. Denen gibt er Bescheid, dreht einem von ihnen den Arm auf den Rücken, dass er vor Schmerz schreit. Die Szene macht klar: Schürtz kehrt zurück im Modus der Kampfbereitschaft.
Oft wird die Berufstätigkeit von Romanfiguren nur behauptet, hier aber erfährt man, womit sich ein Bauleiter so herumschlägt. Schürtz schimpft über die "Trockenbaukanaillen", einem prätentiösen Investor stellt er so geschickt ein Bein, dass der auf der Treppe stürzt und meint, er wäre selbst an einer Stufe hängengeblieben. Am meisten aber rollt der Architekt die Augen bei den Sonderwünschen seiner Kunden - wenn sie ihm den Bauplan zurückschicken mit Verbesserungsvorschlägen, weil sie nicht ganz einverstanden sind mit seinen modernismusgeprägten Ideen von Glas und Licht, Reduktion und glatten Oberflächen.
Klug ist dieser aufreizend arrogante und nicht immer zuverlässige Ich-Erzähler entworfen - eine Figur, die man nicht sympathisch findet, deren Antipathien aber die nötige Reibung in die Darstellung der Kleinstadt bringen. Die hat offenbar doch einige Lebensqualität zu bieten - jedenfalls gibt es Zuzug aus dem Hamburger Großraum, die Bauwirtschaft boomt. Schürtz aber spricht von "Shitty Littleton", und die Lokalzeitung ist für ihn nur "das Käseblatt". Ungute Erinnerungen kommen hoch in der Heimat, alte Geschwisterrivalitäten machen sich wieder geltend. Seinen älteren Bruder nennt Schürtz bloß "Nuss". Er nimmt ihm vieles übel, etwa dass er beim Bau seines Eigenheims die falschen Dachziegel verwendet hat oder dass er sich im Kaff als Alleswisser und wandelndes Stadtarchiv aufspielt. In einem hintersinnigen Kapitel hält "Nuss" einen Vortrag über den mysteriösen "Kellervandalen", der das Städtchen im Winter 1957 heimgesucht hat - Heimatgeschichte, über die der Ich-Erzähler die Nase rümpft, während der Leser kaum vermeiden kann, in ihm einen möglichen Geistesverwandten des "Kellervandalen" zu sehen. Wutmensch und Gutmensch - diese Spannung bestimmt auch das Verhältnis zu seiner Schwester Julia, die in der örtlichen Flüchtlingshilfe arbeitet. Wobei sie beim Wort "Flüchtling" den Bruder behutsam zurechtweist: "Wir nennen sie Neuangekommene." Julias Lebensgefährtin wiederum korrigiert ihn, als er von "Designern" spricht. "Designende" müsse es heißen.
Bei der Lektüre stellt sich immer nachdrücklicher die Frage, warum Schürtz die Stadt vor zwanzig Jahren im Zorn verlassen hat. In der zweiten Hälfte liefert der Roman ein nicht ganz durchsichtiges Familiendrama nach. Die Mutter ist an Krebs gestorben. Sie war der Mittelpunkt eines Kreises von Kuchenesserinnen; das Backen war bei ihr so obsessiv wie der familiär bedingte Zwang zum Kartenspielen beim Vater.
Langsam bricht die innere Feindseligkeit des Protagonisten auf. "Das Kaff" ist ein Roman der Reintegration, ein Heimkehrerroman für Menschen, die in der Hauptstadt an der Hipness-Front gekämpft haben. Eingliedernd wirkt, dass Schürtz, der seine jungen Jahre auf den Bolzplätzen des Kaffs verbrachte, ein Trainer-Nebenjob bei einer Jugendmannschaft angetragen wird. Und dann gibt es die schöne Carla. Sie ist die bald nicht mehr alleinerziehende Mutter eines jener Jungen, die den Bauleiter eingangs beim Bad in der Ull geärgert haben. Ein kleines Patchworkfamilienglück zeichnet sich ab. So schließen sich gleich mehrere Kreise.
Der Roman ist auf diese Weise bemüht, seine vielfältigen Motive zusammenzuhalten. Trotzdem zerfällt er in der zweiten Hälfte ins Episodische. Nicht zufällig erzählen Romane lieber und leichter davon, wie jemand aus der "Normalität" aussteigt, als davon, wie einer in ihr ankommt. Realismus ist zwar eine gute Sache, aber Jan Böttcher kann man vorwerfen, dass er mitunter zu realistisch ist: Über den Details geht ihm die zugkräftige Geschichte verloren. Psychologisch interessant ist "Das Kaff" aber als Entwicklungsroman in der Provinz. Sein Held kommt zu Einsichten. Auch der Berliner Kiez kann sehr leicht Kaff sein, und in der Kleinstadt gibt es Menschen, die Größe haben.
WOLFGANG SCHNEIDER
Jan Böttcher: "Das Kaff". Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2018. 267 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kein Job wie jeder andere: In seinem Roman "Das Kaff" schickt Jan Böttcher einen Architekten aus der Großstadt zurück in jenes Nest, aus dem er einst aufgebrochen war, um die Welt zu erobern.
Der Berlin-Roman war ein großes Thema um die Jahrtausendwende; nicht viele Bücher sind von diesem Hype geblieben. Später ging der Trend schon aus Kontrastgründen wieder in Richtung Provinz, auch weil sich hier leichter ein Figurengeflecht in der Manier des konventionellen Realismus entwickeln lässt - Juli Zehs Großkolportage "Unterleuten" ist eines der erfolgreichsten Beispiele.
Jan Böttcher, ein feinsinnigerer Erzähler, legt nun ein Werk vor, dass aus der Spannung zwischen beiden Polen - Kleinstadt und Metropole - Funken zu schlagen versucht. Es ist die Spannung, in der ja viele Neuberliner leben. Ihr Enthusiasmus für die Metropole hat viel mit der Herkunftswelt zu tun, der sie sich entronnen glauben, und sie schauen auf ihr niedersächsisches oder schwäbisches "Kaff" durch die Berlin-Brille, die alles noch kleiner macht, als es ohnehin schon ist.
Böttcher, geboren 1937 in Lüneburg, der bisher vier Romane veröffentlicht hat, lässt seinen Helden Michael Schürtz nach zwei Berliner Jahrzehnten in sein Kaff zurückkehren. Schürtz ist Architekt, konnte sich gegenüber den Platzhirschen in seinem beruflichen Umfeld aber nicht richtig durchsetzen und wurde von seinen Kompagnons beiseitegedrängt, was einen Grund-Groll in sein Leben gebracht hat. Nun hat er bei einem Reihenhausprojekt in seiner Heimatstadt einen Bauleiter-Job übernommen, für den sich seine Berliner Kollegen "zu schade" waren. Zufall oder Rückkehr? "Dieses Reihenhaus könnte sonstwo stehen. Ich habe einen Job angenommen." So redet es sich der Ich-Erzähler ein. Die gelungene Eingangsszene schildert, wie er beim Bad in der "Ull" - dem Flüsschen des Orts - eine positive Grundstimmung aufzubauen versucht. Ist doch ganz schön hier! Dann aber, während er im Wasser ist, entwendet ihm eine Gruppe Jugendlicher Handtuch und Kleidung. Denen gibt er Bescheid, dreht einem von ihnen den Arm auf den Rücken, dass er vor Schmerz schreit. Die Szene macht klar: Schürtz kehrt zurück im Modus der Kampfbereitschaft.
Oft wird die Berufstätigkeit von Romanfiguren nur behauptet, hier aber erfährt man, womit sich ein Bauleiter so herumschlägt. Schürtz schimpft über die "Trockenbaukanaillen", einem prätentiösen Investor stellt er so geschickt ein Bein, dass der auf der Treppe stürzt und meint, er wäre selbst an einer Stufe hängengeblieben. Am meisten aber rollt der Architekt die Augen bei den Sonderwünschen seiner Kunden - wenn sie ihm den Bauplan zurückschicken mit Verbesserungsvorschlägen, weil sie nicht ganz einverstanden sind mit seinen modernismusgeprägten Ideen von Glas und Licht, Reduktion und glatten Oberflächen.
Klug ist dieser aufreizend arrogante und nicht immer zuverlässige Ich-Erzähler entworfen - eine Figur, die man nicht sympathisch findet, deren Antipathien aber die nötige Reibung in die Darstellung der Kleinstadt bringen. Die hat offenbar doch einige Lebensqualität zu bieten - jedenfalls gibt es Zuzug aus dem Hamburger Großraum, die Bauwirtschaft boomt. Schürtz aber spricht von "Shitty Littleton", und die Lokalzeitung ist für ihn nur "das Käseblatt". Ungute Erinnerungen kommen hoch in der Heimat, alte Geschwisterrivalitäten machen sich wieder geltend. Seinen älteren Bruder nennt Schürtz bloß "Nuss". Er nimmt ihm vieles übel, etwa dass er beim Bau seines Eigenheims die falschen Dachziegel verwendet hat oder dass er sich im Kaff als Alleswisser und wandelndes Stadtarchiv aufspielt. In einem hintersinnigen Kapitel hält "Nuss" einen Vortrag über den mysteriösen "Kellervandalen", der das Städtchen im Winter 1957 heimgesucht hat - Heimatgeschichte, über die der Ich-Erzähler die Nase rümpft, während der Leser kaum vermeiden kann, in ihm einen möglichen Geistesverwandten des "Kellervandalen" zu sehen. Wutmensch und Gutmensch - diese Spannung bestimmt auch das Verhältnis zu seiner Schwester Julia, die in der örtlichen Flüchtlingshilfe arbeitet. Wobei sie beim Wort "Flüchtling" den Bruder behutsam zurechtweist: "Wir nennen sie Neuangekommene." Julias Lebensgefährtin wiederum korrigiert ihn, als er von "Designern" spricht. "Designende" müsse es heißen.
Bei der Lektüre stellt sich immer nachdrücklicher die Frage, warum Schürtz die Stadt vor zwanzig Jahren im Zorn verlassen hat. In der zweiten Hälfte liefert der Roman ein nicht ganz durchsichtiges Familiendrama nach. Die Mutter ist an Krebs gestorben. Sie war der Mittelpunkt eines Kreises von Kuchenesserinnen; das Backen war bei ihr so obsessiv wie der familiär bedingte Zwang zum Kartenspielen beim Vater.
Langsam bricht die innere Feindseligkeit des Protagonisten auf. "Das Kaff" ist ein Roman der Reintegration, ein Heimkehrerroman für Menschen, die in der Hauptstadt an der Hipness-Front gekämpft haben. Eingliedernd wirkt, dass Schürtz, der seine jungen Jahre auf den Bolzplätzen des Kaffs verbrachte, ein Trainer-Nebenjob bei einer Jugendmannschaft angetragen wird. Und dann gibt es die schöne Carla. Sie ist die bald nicht mehr alleinerziehende Mutter eines jener Jungen, die den Bauleiter eingangs beim Bad in der Ull geärgert haben. Ein kleines Patchworkfamilienglück zeichnet sich ab. So schließen sich gleich mehrere Kreise.
Der Roman ist auf diese Weise bemüht, seine vielfältigen Motive zusammenzuhalten. Trotzdem zerfällt er in der zweiten Hälfte ins Episodische. Nicht zufällig erzählen Romane lieber und leichter davon, wie jemand aus der "Normalität" aussteigt, als davon, wie einer in ihr ankommt. Realismus ist zwar eine gute Sache, aber Jan Böttcher kann man vorwerfen, dass er mitunter zu realistisch ist: Über den Details geht ihm die zugkräftige Geschichte verloren. Psychologisch interessant ist "Das Kaff" aber als Entwicklungsroman in der Provinz. Sein Held kommt zu Einsichten. Auch der Berliner Kiez kann sehr leicht Kaff sein, und in der Kleinstadt gibt es Menschen, die Größe haben.
WOLFGANG SCHNEIDER
Jan Böttcher: "Das Kaff". Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2018. 267 S., geb., 20,- [Euro].
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» Jan Böttcher hat sich einen Protagonisten und IchErzähler ausgedacht, der in vollendeter Unreflektiertheit seine Projektion eines rückständigen Milieus ausbreiten darf, um dann von der Wirklichkeit revidiert zu werden. « taz. Die Tageszeitung 20180616