Peter von Matt liebt die Schweiz, ein Land zwischen Idylle und Globalisierung, zwischen alpiner Tradition und Hightech-Tunnel. Reich an Bildern und Weisheit, mit Witz und kämpferischer Vehemenz wirft er aber auch einen kritischen Blick auf die Gesellschaft: Auf ihren schludrigen Umgang mit der Sprache oder die Abschottung gegen Einwanderer. Mit deutschen Literaten wie Friedrich Schiller oder Max Frisch im Blick liest er Politik und Landsleuten seiner Heimat die Leviten. Dieses Buch führt uns vor Augen, dass und warum die Beschäftigung mit Literatur mitten ins Herz des Bewusstseins eines jeden Staatsbürgers trifft.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Hubert Spiegel singt eine Lobeshymne auf den Schweizer Germanisten Peter von Matt, den er als wahren Glücksfall - nicht nur für die Schweiz - betrachtet. Auch bei der Besprechung des anlässlich seines fünfundsiebzigsten Geburtstages erschienenen Aufsatzbandes "Das Kalb vor der Gotthardpost" gerät der Kritiker ins Schwärmen. In den hier versammelten Essays, Lob- und Festreden der letzten Jahre erkennt Spiegel wieder einmal, wie gut es Matt gelingt, selbst komplizierte und zunächst unzugängliche Sachverhalte anschaulich darzulegen. So liest der Kritiker etwa mit größtem Interesse Matts Rede über "Die Sprache in der Demokratie", in welcher er die Empörung als "am weitesten verbreitete Droge" einer ordnungssüchtigen Menschheit in einer immer komplexer werdenden Welt ausführt. Insbesondere aber der titelgebende und nur für diesen Band geschriebene Essay, in dem Matt anhand von Rudolf Kollers Gemälde die Seelengeschichte der Schweiz und darüber hinaus die Modernisierungsprozesse im Europa des neunzehnten Jahrhunderts betrachtet, ringt dem Rezensenten höchste Anerkennung ab.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.05.2012Die Angst des Kälbchens vor der Kutsche
Ein Fremdenführer durch das Gebirgsmassiv der kollektiven Erinnerung: Peter von Matt zeigt uns in seinem neuen Essayband zerklüftete Bergwelten und schweizerische Seelenlandschaften.
Es müsste einem angst und bange werden um die Schweiz, wenn es ihn nicht gäbe. Und es könnte einem angst und bange werden um Deutschland, da es einen wie ihn hierzulande nicht gibt. Einen, der aus gegebenem Anlass seine verstreuten Aufsätze und Essays, Lob- und Festreden der letzten Jahre in einem Band versammelt und damit seinem Heimatland einen Knochen hinwirft, an dem es viel und lange nagen kann.
Bei Peter von Matt erhält das Wort von der Gelegenheitsarbeit einen ganz neuen Sinn. Der Zürcher Germanist, der von sich selbst sagt, er sei "ein Fachmann für Wörter", nimmt den Begriff wörtlich. Das heißt, er packt die Gelegenheit beim Schopf, um sich der ehrenvollen Last und mitunter lästigen Ehre des Festvortrags nicht einfach zu entledigen, sondern um sie zu nutzen. Fast immer, wenn er ein Thema angeht, tut er es auf unerwartete Weise und erzeugt so etwas, das sich als Peter-von-Matt-Effekt bezeichnen ließe: das sanfte Hinübergleiten des Lesers aus dem Zustand der Überraschung in den des Einverständnisses. Wir sind verdutzt und gewonnen beinahe im selben Augenblick. Das bewirkt indes nicht der bloße Effekt, sondern das effektvoll entwickelte Argument.
Als er vor sieben Jahren eingeladen wurde, eine Rede zum zweihundertfünfundzwanzigjährigen Bestehen der "Neuen Zürcher Zeitung" zu halten, begann er nicht mit Lobesworten oder historischen Reminiszenzen aus den Gründerjahren einer ehrwürdigen Institution der Öffentlichkeit, sondern mit einer lapidaren Feststellung: "Fühlen ist einfacher als Denken." Was Peter von Matt aus diesem Satz entwickelte, liest sich heute, nur sieben Jahre später, wie eine Analyse jener Art von Öffentlichkeit, wie sie im Internet in den letzten Jahren sichtbarer und selbstbewusster geworden ist als je zuvor. Gegeben hat es solche Bezirke der Öffentlichkeit natürlich auch vorher schon, aber erst in der Ortlosigkeit des Netzes konnten sie auf den fruchtbarsten Boden fallen. Hier wachsen sie nicht, sie wuchern. Ihr Dünger ist ein Gefühl: die Empörung.
Gerade einmal vier Seiten braucht Peter von Matt, um zu zeigen, warum Empörung keineswegs die staatsbürgerliche Tugend ist, zu der Stéphane Hessel aufgerufen hat. Das Gefühl der Empörung, so der Festredner, falle stets zusammen mit dem Gefühl des Rechthabens. Dies sei eben das Wohltuende daran: Empörung stifte Ordnung, indem sie Schuld bestimmt und Schuldige benennt. Wo aber die Schuld feststeht, da herrscht die Illusion der Ordnung.
"Dä isch tschuld!" heißt es in der Mundart. Das magische kleine Wort von der "Tschuld", so Peter von Matt weiter, "ermöglicht die Empörung und damit das Rechthaben und damit das Gefühl einer geordneten Welt. Wer mir zur Empörung verhilft, gibt mir festen Boden unter den Füßen. Nicht die Religion ist das Opium des Volks, wie Karl Marx meinte, sondern die Empörung." Je komplexer mir also die Welt erscheint, desto größer wird mein Ordnungsbedürfnis. Und je stärker mein Ordnungsbedürfnis, desto reizbarer meine Empörungsbereitschaft. Es ist nur logisch, dass diese Empörungsbereitschaft nirgends größer ist als an jenem Ort, an dem sich die Komplexität der Welt unmittelbarer zeigt als je zuvor in der Geschichte, im Internet also. Empörung ist heute die am weitesten verbreitete Droge der Welt.
Peter von Matt hat das Internet in seiner Rede vor sieben Jahren mit keiner Silbe erwähnt. Nicht etwa aus Dünkel, sondern weil er das Thema breiter angelegt hatte. Sein Thema war "Die Sprache in der Demokratie", seine Rede ein Appell an Journalisten, Politiker und Bürger, nicht hinter jene demokratischen Errungenschaften zurückzufallen, mit denen seit der Aufklärung im Gespräch der Öffentlichkeit die Wahrheit als Setzung von der Wahrheit als Prozess abgelöst wurde. Die Sprache der Öffentlichkeit sei nicht naturgegeben, schrieb Peter von Matt damals, sie werde von jeder Generation neu geformt oder verpfuscht: "Wenn die Journalisten und Politiker nicht mehr Deutsch können, entgleitet ihnen ein Teil der Wirklichkeit. Wie sollen sie die feinen Differenzen benennen, auf die es in der Welt ankommt wie auf die feinen Gifte in den Heilmitteln, wenn ihnen der Wortschatz fehlt, die Syntax verkümmert und schon ein Konjunktiv sie nervös macht?" Dies gilt auch diesseits des Internets.
Er sei ein "Meister der gewaltigen Kleinigkeit". Peter von Matt sagte dies über Jörg Steiner, bevor der Schriftsteller 1994 im Zürcher Theater am Neumarkt aus seinem Roman "Weißenbach und die anderen" las. Es war der erste Satz der Einführung. Besser kann man ein Publikum nicht einstimmen. Wir alle, sagt Peter von Matt, lesen Bücher doch eigentlich nur wegen der Hauptsachen des Lebens, die darin verhandelt werden: die Freiheit, die Liebe, der Tod. Aber wenn diese Hauptsachen umstandslos an- und ausgesprochen werden, zucken wir mit den Schultern, denn von den Hauptsachen kann die Literatur nur auf dem Umweg über die Nebensachen sprechen. Jörg Steiner habe einen solchen Umweg zu einer eigenen Ästhetik entwickelt: "Ihr Ziel ist die Wirkungsgewalt der Kleinigkeit."
Peter von Matt versteht viel von diesen Dingen: von Haupt- und Nebensachen, von Umwegen, Wirkungen und Kleinigkeiten. Auch er ist ein Meister der gewaltigen Kleinigkeit und also wie Steiner ein Meister, der umgekehrt alles Gewaltige wie eine Kleinigkeit zu behandeln versteht. Die Schweizer Bergwelt oder das Gebirgsmassiv der kollektiven Erinnerung: in seinen Essays werden sie nicht verkleinert oder ihrer Komplexität beraubt, und doch erscheinen sie uns plötzlich weniger unwegsam. Peter von Matt versteht es Sätze zu formulieren, mit denen wir wie über einen Gebirgspass in Gegenden vorstoßen, die uns zuvor unzugänglich waren.
Dreißig Texte versammelt dieser Band, der jetzt zum fünfundsiebzigsten Geburtstag des Zürcher Germanisten erscheint. Neunundzwanzig davon sind in den letzten Jahren entstanden und zum Teil auch bereits publiziert. Aber das war dem Jubilar nicht genug. Es ist wohl charakteristisch für Peter von Matt, dass er nicht zufrieden auf die Ernte der letzten Jahre blickt, sondern eigens für diesen Band noch einen Originalbeitrag schreibt, der alle anderen Texten dieses Bandes einen Rahmen setzt und sie alle übertrifft.
"Das Kalb vor der Gotthardpost", der titelgebende Essay, beginnt als Bildbeschreibung und endet als "Seelengeschichte einer Nation". Rudolf Kollers Gemälde zeigt den dramatischen Augenblick, in dem ein Kälbchen von den heranstürmenden Rossen einer fünfspännigen Postkutsche zermalmt zu werden droht. Mit der Kinderfrage, ob das Kalb wohl davonkommen wird, beginnt Peter von Matt seine fulminante Erkundung der schweizerischen Seelenlandschaft, die interessante Parallelen zum deutschen Nachbarn aufweist. Was Peter von Matt an diesem Bild fasziniert, ist die Inszenierung von Geschwindigkeitsdifferenzen: Die Rosse stürmen voran, die Kuhherde am Wegesrand steht starr und stiert, das Kälbchen ist dazwischen, es hält die Mitte zwischen Raserei und Stillstand. Aber ein Ausgleich ist nicht möglich, das Kälbchen ist schnell und langsam zugleich.
Ob es an diesem Widerspruch zugrunde gehen wird, ist die Frage, die seit hundert Jahre in Schweizer Kinderaugen steht, wenn sie das berühmte Gemälde betrachten. Es ist aber auch die zentrale Frage, die von den Modernisierungsprozessen des neunzehnten Jahrhunderts in ganz Europa aufgeworfen wurde, vor der wir noch immer stehen und die wir nicht beantworten können ohne den Blick zurück. Erinnerung, heißt es einmal in diesem Band, sei nie vorgegeben. "Erinnerung ist stets das Ergebnis schöpferischer Arbeit". In Peter von Matt hat die Schweiz, haben alle seine Leser einen Vorarbeiter der erinnernden Erkenntnis, wie man ihn sich besser kaum wünschen kann. Am morgigen Sonntag wird er fünfundsiebzig Jahre alt.
HUBERT SPIEGEL
Peter von Matt: "Das Kalb vor der Gotthardpost". Zur Literatur und Politik der Schweiz.
Hanser Verlag, München 2012. 368 S., geb., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Fremdenführer durch das Gebirgsmassiv der kollektiven Erinnerung: Peter von Matt zeigt uns in seinem neuen Essayband zerklüftete Bergwelten und schweizerische Seelenlandschaften.
Es müsste einem angst und bange werden um die Schweiz, wenn es ihn nicht gäbe. Und es könnte einem angst und bange werden um Deutschland, da es einen wie ihn hierzulande nicht gibt. Einen, der aus gegebenem Anlass seine verstreuten Aufsätze und Essays, Lob- und Festreden der letzten Jahre in einem Band versammelt und damit seinem Heimatland einen Knochen hinwirft, an dem es viel und lange nagen kann.
Bei Peter von Matt erhält das Wort von der Gelegenheitsarbeit einen ganz neuen Sinn. Der Zürcher Germanist, der von sich selbst sagt, er sei "ein Fachmann für Wörter", nimmt den Begriff wörtlich. Das heißt, er packt die Gelegenheit beim Schopf, um sich der ehrenvollen Last und mitunter lästigen Ehre des Festvortrags nicht einfach zu entledigen, sondern um sie zu nutzen. Fast immer, wenn er ein Thema angeht, tut er es auf unerwartete Weise und erzeugt so etwas, das sich als Peter-von-Matt-Effekt bezeichnen ließe: das sanfte Hinübergleiten des Lesers aus dem Zustand der Überraschung in den des Einverständnisses. Wir sind verdutzt und gewonnen beinahe im selben Augenblick. Das bewirkt indes nicht der bloße Effekt, sondern das effektvoll entwickelte Argument.
Als er vor sieben Jahren eingeladen wurde, eine Rede zum zweihundertfünfundzwanzigjährigen Bestehen der "Neuen Zürcher Zeitung" zu halten, begann er nicht mit Lobesworten oder historischen Reminiszenzen aus den Gründerjahren einer ehrwürdigen Institution der Öffentlichkeit, sondern mit einer lapidaren Feststellung: "Fühlen ist einfacher als Denken." Was Peter von Matt aus diesem Satz entwickelte, liest sich heute, nur sieben Jahre später, wie eine Analyse jener Art von Öffentlichkeit, wie sie im Internet in den letzten Jahren sichtbarer und selbstbewusster geworden ist als je zuvor. Gegeben hat es solche Bezirke der Öffentlichkeit natürlich auch vorher schon, aber erst in der Ortlosigkeit des Netzes konnten sie auf den fruchtbarsten Boden fallen. Hier wachsen sie nicht, sie wuchern. Ihr Dünger ist ein Gefühl: die Empörung.
Gerade einmal vier Seiten braucht Peter von Matt, um zu zeigen, warum Empörung keineswegs die staatsbürgerliche Tugend ist, zu der Stéphane Hessel aufgerufen hat. Das Gefühl der Empörung, so der Festredner, falle stets zusammen mit dem Gefühl des Rechthabens. Dies sei eben das Wohltuende daran: Empörung stifte Ordnung, indem sie Schuld bestimmt und Schuldige benennt. Wo aber die Schuld feststeht, da herrscht die Illusion der Ordnung.
"Dä isch tschuld!" heißt es in der Mundart. Das magische kleine Wort von der "Tschuld", so Peter von Matt weiter, "ermöglicht die Empörung und damit das Rechthaben und damit das Gefühl einer geordneten Welt. Wer mir zur Empörung verhilft, gibt mir festen Boden unter den Füßen. Nicht die Religion ist das Opium des Volks, wie Karl Marx meinte, sondern die Empörung." Je komplexer mir also die Welt erscheint, desto größer wird mein Ordnungsbedürfnis. Und je stärker mein Ordnungsbedürfnis, desto reizbarer meine Empörungsbereitschaft. Es ist nur logisch, dass diese Empörungsbereitschaft nirgends größer ist als an jenem Ort, an dem sich die Komplexität der Welt unmittelbarer zeigt als je zuvor in der Geschichte, im Internet also. Empörung ist heute die am weitesten verbreitete Droge der Welt.
Peter von Matt hat das Internet in seiner Rede vor sieben Jahren mit keiner Silbe erwähnt. Nicht etwa aus Dünkel, sondern weil er das Thema breiter angelegt hatte. Sein Thema war "Die Sprache in der Demokratie", seine Rede ein Appell an Journalisten, Politiker und Bürger, nicht hinter jene demokratischen Errungenschaften zurückzufallen, mit denen seit der Aufklärung im Gespräch der Öffentlichkeit die Wahrheit als Setzung von der Wahrheit als Prozess abgelöst wurde. Die Sprache der Öffentlichkeit sei nicht naturgegeben, schrieb Peter von Matt damals, sie werde von jeder Generation neu geformt oder verpfuscht: "Wenn die Journalisten und Politiker nicht mehr Deutsch können, entgleitet ihnen ein Teil der Wirklichkeit. Wie sollen sie die feinen Differenzen benennen, auf die es in der Welt ankommt wie auf die feinen Gifte in den Heilmitteln, wenn ihnen der Wortschatz fehlt, die Syntax verkümmert und schon ein Konjunktiv sie nervös macht?" Dies gilt auch diesseits des Internets.
Er sei ein "Meister der gewaltigen Kleinigkeit". Peter von Matt sagte dies über Jörg Steiner, bevor der Schriftsteller 1994 im Zürcher Theater am Neumarkt aus seinem Roman "Weißenbach und die anderen" las. Es war der erste Satz der Einführung. Besser kann man ein Publikum nicht einstimmen. Wir alle, sagt Peter von Matt, lesen Bücher doch eigentlich nur wegen der Hauptsachen des Lebens, die darin verhandelt werden: die Freiheit, die Liebe, der Tod. Aber wenn diese Hauptsachen umstandslos an- und ausgesprochen werden, zucken wir mit den Schultern, denn von den Hauptsachen kann die Literatur nur auf dem Umweg über die Nebensachen sprechen. Jörg Steiner habe einen solchen Umweg zu einer eigenen Ästhetik entwickelt: "Ihr Ziel ist die Wirkungsgewalt der Kleinigkeit."
Peter von Matt versteht viel von diesen Dingen: von Haupt- und Nebensachen, von Umwegen, Wirkungen und Kleinigkeiten. Auch er ist ein Meister der gewaltigen Kleinigkeit und also wie Steiner ein Meister, der umgekehrt alles Gewaltige wie eine Kleinigkeit zu behandeln versteht. Die Schweizer Bergwelt oder das Gebirgsmassiv der kollektiven Erinnerung: in seinen Essays werden sie nicht verkleinert oder ihrer Komplexität beraubt, und doch erscheinen sie uns plötzlich weniger unwegsam. Peter von Matt versteht es Sätze zu formulieren, mit denen wir wie über einen Gebirgspass in Gegenden vorstoßen, die uns zuvor unzugänglich waren.
Dreißig Texte versammelt dieser Band, der jetzt zum fünfundsiebzigsten Geburtstag des Zürcher Germanisten erscheint. Neunundzwanzig davon sind in den letzten Jahren entstanden und zum Teil auch bereits publiziert. Aber das war dem Jubilar nicht genug. Es ist wohl charakteristisch für Peter von Matt, dass er nicht zufrieden auf die Ernte der letzten Jahre blickt, sondern eigens für diesen Band noch einen Originalbeitrag schreibt, der alle anderen Texten dieses Bandes einen Rahmen setzt und sie alle übertrifft.
"Das Kalb vor der Gotthardpost", der titelgebende Essay, beginnt als Bildbeschreibung und endet als "Seelengeschichte einer Nation". Rudolf Kollers Gemälde zeigt den dramatischen Augenblick, in dem ein Kälbchen von den heranstürmenden Rossen einer fünfspännigen Postkutsche zermalmt zu werden droht. Mit der Kinderfrage, ob das Kalb wohl davonkommen wird, beginnt Peter von Matt seine fulminante Erkundung der schweizerischen Seelenlandschaft, die interessante Parallelen zum deutschen Nachbarn aufweist. Was Peter von Matt an diesem Bild fasziniert, ist die Inszenierung von Geschwindigkeitsdifferenzen: Die Rosse stürmen voran, die Kuhherde am Wegesrand steht starr und stiert, das Kälbchen ist dazwischen, es hält die Mitte zwischen Raserei und Stillstand. Aber ein Ausgleich ist nicht möglich, das Kälbchen ist schnell und langsam zugleich.
Ob es an diesem Widerspruch zugrunde gehen wird, ist die Frage, die seit hundert Jahre in Schweizer Kinderaugen steht, wenn sie das berühmte Gemälde betrachten. Es ist aber auch die zentrale Frage, die von den Modernisierungsprozessen des neunzehnten Jahrhunderts in ganz Europa aufgeworfen wurde, vor der wir noch immer stehen und die wir nicht beantworten können ohne den Blick zurück. Erinnerung, heißt es einmal in diesem Band, sei nie vorgegeben. "Erinnerung ist stets das Ergebnis schöpferischer Arbeit". In Peter von Matt hat die Schweiz, haben alle seine Leser einen Vorarbeiter der erinnernden Erkenntnis, wie man ihn sich besser kaum wünschen kann. Am morgigen Sonntag wird er fünfundsiebzig Jahre alt.
HUBERT SPIEGEL
Peter von Matt: "Das Kalb vor der Gotthardpost". Zur Literatur und Politik der Schweiz.
Hanser Verlag, München 2012. 368 S., geb., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Peter von Matt lesen heisst, mit sich und der Nation ins Gespräch kommen." Guido Kalberer, Tages-Anzeiger, 09.02.12
"Die scharfe Gewitztheit..., die kluge Überschau und die Lust an verblüffenden Pointen macht diese Sammlung von Texten zur Literatur und Politik der Schweiz zu einer Art fröhlicher Wissenschaft, die der gelehrten Auseinandersetzung mit den jeweiligen Gegenständen keinerlei Abbruch tut."
Urs Bugmann, Neue Luzerner Zeitung, 20.02.12
"Von Matts hohe Kunst der Auslegung bewährt sich in diesem Buch nicht nur an Bildern und Texten. Eines der schönsten Kapitel ist ein Porträt des Pilatus, seiner Pysionomie, seiner Geschichte (...) Neu hinzugekonmnmen ist ein fulminanter, fast 100 Seiten langer Einleitungsessay zur "Seelenlage" seiner Nation." Manfred Koch, Neue Zürcher Zeitung, 16.05.12
"Schlicht das Beste, was es zur Befindlichkeit unseres Landes zu lesen gibt." Kathrin Meier-Rust, NZZ am Sonntag, 01.07.12
"Die scharfe Gewitztheit..., die kluge Überschau und die Lust an verblüffenden Pointen macht diese Sammlung von Texten zur Literatur und Politik der Schweiz zu einer Art fröhlicher Wissenschaft, die der gelehrten Auseinandersetzung mit den jeweiligen Gegenständen keinerlei Abbruch tut."
Urs Bugmann, Neue Luzerner Zeitung, 20.02.12
"Von Matts hohe Kunst der Auslegung bewährt sich in diesem Buch nicht nur an Bildern und Texten. Eines der schönsten Kapitel ist ein Porträt des Pilatus, seiner Pysionomie, seiner Geschichte (...) Neu hinzugekonmnmen ist ein fulminanter, fast 100 Seiten langer Einleitungsessay zur "Seelenlage" seiner Nation." Manfred Koch, Neue Zürcher Zeitung, 16.05.12
"Schlicht das Beste, was es zur Befindlichkeit unseres Landes zu lesen gibt." Kathrin Meier-Rust, NZZ am Sonntag, 01.07.12