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Peter von Matt liebt die Schweiz, ein Land zwischen Idylle und Globalisierung, zwischen alpiner Tradition und Hightech-Tunnel. Reich an Bildern und Weisheit, mit Witz und kämpferischer Vehemenz wirft er aber auch einen kritischen Blick auf die Gesellschaft: Auf ihren schludrigen Umgang mit der Sprache oder die Abschottung gegen Einwanderer. Mit deutschen Literaten wie Friedrich Schiller oder Max Frisch im Blick liest er Politik und Landsleuten seiner Heimat die Leviten. Dieses Buch führt uns vor Augen, dass und warum die Beschäftigung mit Literatur mitten ins Herz des Bewusstseins eines jeden Staatsbürgers trifft.…mehr

Produktbeschreibung
Peter von Matt liebt die Schweiz, ein Land zwischen Idylle und Globalisierung, zwischen alpiner Tradition und Hightech-Tunnel. Reich an Bildern und Weisheit, mit Witz und kämpferischer Vehemenz wirft er aber auch einen kritischen Blick auf die Gesellschaft: Auf ihren schludrigen Umgang mit der Sprache oder die Abschottung gegen Einwanderer. Mit deutschen Literaten wie Friedrich Schiller oder Max Frisch im Blick liest er Politik und Landsleuten seiner Heimat die Leviten. Dieses Buch führt uns vor Augen, dass und warum die Beschäftigung mit Literatur mitten ins Herz des Bewusstseins eines jeden Staatsbürgers trifft.
Autorenporträt
Peter von Matt, geboren 1937 in Luzern, war bis 2002 Professor für Germanistik an der Universität Zürich. Er ist Mitglied verschiedener Akademien. 2014 wurde er mit dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main ausgezeichnet. Er lebt in Zürich. Bei Hanser erschienen zuletzt: Das Kalb von der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz (2012), Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur (2017) und Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten. Die Möglichkeiten der Literatur (ET: 20.02.23).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.05.2012

Das Idyll als nationale Ideologie
Der Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt erklärt, wer die Schweizer sind
Angesichts der krisenhaften Situation der Schweiz, in der immer unverhohlener auftretende Begehrlichkeiten von außen einer zunehmenden inneren Verunsicherung gegenüberstehen, erweist sich nicht ein Jurist oder Historiker als der klarsichtigste Analytiker, sondern ein Mann, der von sich sagt: „Ich bin ein Fachmann für Wörter.“
Peter von Matt, bis 2002 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich, führt die „Kunst der Interpretation“, für die sein Doktorvater und Vorgänger Emil Staiger legendär war, auf ebenso brillante Weise fort, wie er aus dessen kapitaler Fehleinschätzung des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik die Konsequenzen gezogen hat. Literaturwissenschaft ist für ihn nicht mehr ein vermeintlich unpolitisches hermeneutisches Kreisen um künstlerische Substrate, sondern eine Möglichkeit, die oftmals hellsichtige, mit Bildern statt mit Thesen argumentierende Denkweise der Literatur politisch fruchtbar zu machen.
„Das Kalb vor der Gotthardpost“ heißt Matts jüngstes Buch, und die darin versammelten Aufsätze können, wenn auch in einem sehr viel komplexeren Zusammenhang, wie jene Kopfklärung gelesen werden, mit der Carl Spitteler 1914 die Landsleute unter dem Stichwort „Unser Schweizer Standpunkt“ zur Räson bringen wollte.
2011 sahen laut einer Umfrage nur 19 Prozent der Schweizer ihr Land am liebsten in der EU. Ein Isolationismus, der unter anderem mit dem Glauben an jenes alpine autonome Idyll zusammenhängen dürfte, das Matt in seinem langen einleitenden Aufsatz als von Anfang an nicht den Tatsachen entsprechend und illusionär entlarvt. Im Rückgriff auf Vergils „Bucolica“, von Albrecht von Haller 1729 im Gedicht „Die Alpen“ entworfen, machte Schiller es im „Wilhelm Tell“ ungewollt zur nationalen Schweizer Ideologie.
In Rudolf Kollers Gemälde „Die Gotthardpost“ von 1873, das Peter von Matt zur Veranschaulichung des Befunds benutzt, ist das alpine Idyll durch die hinter den wilden Pferden den Pass herabrollende Kutsche bereits gesprengt: Mit der Kutsche kommt eine zweite Geschwindigkeit hinzu, die das vor den Pferden davonrennende Kalb aufs höchste bedroht. „Die Verquickung von Fortschrittsglauben und Konservativismus, ein janusköpfiges Voraus- und Zurückschauen zugleich, ist“, so Matt, „eine Eigentümlichkeit der Schweiz im politischen wie im literarischen Leben.“ Gottfried Keller, der in seinem Roman „Martin Salander“ einen „Riss durch die schöne Schweiz inszenierte“, war der erste jener Autoren, die das Idyll sprengten, und die Literatur hat sich auch immer wieder den im fliehenden Kalb symbolisierten Opfern des Fortschritts zugewandt – bis hin zu Beat Sterchis Kuh Blösch, die im gleichnamigen Roman von 1983 im industriellen Gemetzel eines modernen Schlachthofs zugrunde geht.
2009 sagten 57 Prozent der Schweizer Ja zum Minarettverbot; 2010 befürworteten 53 Prozent die Ausschaffung krimineller Ausländer und sicherten so jedesmal völkerrechtlich problematische Gesetze demokratisch ab.
Ohne konkret auf diese Ereignisse einzugehen, belegt Matt unter Berufung auf Tocqueville, was er auch in Schillers „Maria Stuart“ hätte finden können: „Nicht Stimmenmehrheit ist des Rechtes Probe.“ Und er weist auch hier wieder nach, dass die Literatur den Wert der von vielen absolut gesetzten direkten Demokratie längst relativiert hat. Von Gotthelfs „Schwarzer Spinne“ über Kellers „Drei gerechte Kammacher“ bis zu Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ und Frischs „Andorra“: Stets von neuem wird das kollektive Schuldigwerden einer selbstgerechten Gemeinschaft thematisiert.
Ende Januar 2011 zerbrach die 271 Jahre alte St. Galler Bank Wegelin wegen dubioser Geschäfte mit US-Steuerhinterziehern. Im März 2012 kam es wegen der auf Schweizer Konten liegenden unversteuerten deutschen Gelder zum deutsch-schweizerischen Schlagabtausch. Matt, der davon noch nichts wissen konnte, spricht angesichts der Diskrepanz zwischen Idyll und beschleunigter technischer Zivilisation dem „jeder einzelstaatlichen Kontrolle enthobenen Finanz- und Bankensystem der Schweiz in seinen bizarren Abläufen wahnhafte Züge“ zu und vergleicht es, „was die Plötzlichkeit und fatale Wirkung seiner Aktionen betrifft, (...) mit dem Verhalten eines freilaufenden Geisteskranken“.
Matts Buch hebt durchaus auch die vorbildhaften Seiten der Schweiz hervor – „die Kunst des politischen Kompromisses, die verhinderte Machtballung bei Einzelpolitikern und die überproportionale Förderung von Minderheiten“ – und spitzt da, wo es Kritik übt, die Befunde nie zu Anklagen zu. Letztlich ist alles höchst inspirierte Interpretation von Literatur, anschaulich präsentiert, virtuos komponiert, präzis und eingängig formuliert. Und mit der diesmal nur ganz nebenbei, angesichts von Schillers „Tell“, deutlich gemachten germanistischen Quintessenz, dass alles Reden über Inhalte und Thesen letztlich verstummen muss vor „dem Wunder der formalen Setzung, vor der technisch-handwerklichen Beschaffenheit großer Dichtung“. Eine Erkenntnis, die er wohl nicht nur dem mit einer rührenden Hommage bedachten Lehrer am Gymnasium, sondern vor allem auch Emil Staiger zu verdanken haben dürfte, dem er innerlich treuer geblieben ist, als es äußerlich den Anschein hat.
CHARLES LINSMAYER
PETER VON MATT: Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz. Carl Hanser Verlag, München 2012, 368 Seiten, 21.90 Euro.
Charles Linsmayer arbeitet als Journalist und Herausgeber von Schweizer Literatur in Zürich. Er hat an der Freien Universität in Berlin Germanistik studiert und ist Träger des Deutschen Sprachpreises 2007.
„Nicht Stimmenmehrheit
ist des Rechtes Probe“, hat
Friedrich Schiller geschrieben.
„Wahnhafte Züge“
attestiert Peter von Matt dem
Schweizer Bankensystem.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Hubert Spiegel singt eine Lobeshymne auf den Schweizer Germanisten Peter von Matt, den er als wahren Glücksfall - nicht nur für die Schweiz - betrachtet.  Auch bei der Besprechung des anlässlich seines fünfundsiebzigsten Geburtstages erschienenen Aufsatzbandes "Das Kalb vor der Gotthardpost" gerät der Kritiker ins Schwärmen. In den hier versammelten Essays, Lob- und Festreden der letzten Jahre erkennt Spiegel wieder einmal, wie gut es Matt gelingt, selbst komplizierte und zunächst unzugängliche Sachverhalte anschaulich darzulegen. So liest der Kritiker etwa mit größtem Interesse Matts Rede über "Die Sprache in der Demokratie", in welcher er die Empörung als "am weitesten verbreitete Droge" einer ordnungssüchtigen Menschheit in einer immer komplexer werdenden Welt ausführt. Insbesondere aber der titelgebende und nur für diesen Band geschriebene Essay, in dem Matt anhand von Rudolf Kollers Gemälde die Seelengeschichte der Schweiz und darüber hinaus die Modernisierungsprozesse im Europa des neunzehnten Jahrhunderts betrachtet, ringt dem Rezensenten höchste Anerkennung ab.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.05.2012

Die Angst des Kälbchens vor der Kutsche

Ein Fremdenführer durch das Gebirgsmassiv der kollektiven Erinnerung: Peter von Matt zeigt uns in seinem neuen Essayband zerklüftete Bergwelten und schweizerische Seelenlandschaften.

Es müsste einem angst und bange werden um die Schweiz, wenn es ihn nicht gäbe. Und es könnte einem angst und bange werden um Deutschland, da es einen wie ihn hierzulande nicht gibt. Einen, der aus gegebenem Anlass seine verstreuten Aufsätze und Essays, Lob- und Festreden der letzten Jahre in einem Band versammelt und damit seinem Heimatland einen Knochen hinwirft, an dem es viel und lange nagen kann.

Bei Peter von Matt erhält das Wort von der Gelegenheitsarbeit einen ganz neuen Sinn. Der Zürcher Germanist, der von sich selbst sagt, er sei "ein Fachmann für Wörter", nimmt den Begriff wörtlich. Das heißt, er packt die Gelegenheit beim Schopf, um sich der ehrenvollen Last und mitunter lästigen Ehre des Festvortrags nicht einfach zu entledigen, sondern um sie zu nutzen. Fast immer, wenn er ein Thema angeht, tut er es auf unerwartete Weise und erzeugt so etwas, das sich als Peter-von-Matt-Effekt bezeichnen ließe: das sanfte Hinübergleiten des Lesers aus dem Zustand der Überraschung in den des Einverständnisses. Wir sind verdutzt und gewonnen beinahe im selben Augenblick. Das bewirkt indes nicht der bloße Effekt, sondern das effektvoll entwickelte Argument.

Als er vor sieben Jahren eingeladen wurde, eine Rede zum zweihundertfünfundzwanzigjährigen Bestehen der "Neuen Zürcher Zeitung" zu halten, begann er nicht mit Lobesworten oder historischen Reminiszenzen aus den Gründerjahren einer ehrwürdigen Institution der Öffentlichkeit, sondern mit einer lapidaren Feststellung: "Fühlen ist einfacher als Denken." Was Peter von Matt aus diesem Satz entwickelte, liest sich heute, nur sieben Jahre später, wie eine Analyse jener Art von Öffentlichkeit, wie sie im Internet in den letzten Jahren sichtbarer und selbstbewusster geworden ist als je zuvor. Gegeben hat es solche Bezirke der Öffentlichkeit natürlich auch vorher schon, aber erst in der Ortlosigkeit des Netzes konnten sie auf den fruchtbarsten Boden fallen. Hier wachsen sie nicht, sie wuchern. Ihr Dünger ist ein Gefühl: die Empörung.

Gerade einmal vier Seiten braucht Peter von Matt, um zu zeigen, warum Empörung keineswegs die staatsbürgerliche Tugend ist, zu der Stéphane Hessel aufgerufen hat. Das Gefühl der Empörung, so der Festredner, falle stets zusammen mit dem Gefühl des Rechthabens. Dies sei eben das Wohltuende daran: Empörung stifte Ordnung, indem sie Schuld bestimmt und Schuldige benennt. Wo aber die Schuld feststeht, da herrscht die Illusion der Ordnung.

"Dä isch tschuld!" heißt es in der Mundart. Das magische kleine Wort von der "Tschuld", so Peter von Matt weiter, "ermöglicht die Empörung und damit das Rechthaben und damit das Gefühl einer geordneten Welt. Wer mir zur Empörung verhilft, gibt mir festen Boden unter den Füßen. Nicht die Religion ist das Opium des Volks, wie Karl Marx meinte, sondern die Empörung." Je komplexer mir also die Welt erscheint, desto größer wird mein Ordnungsbedürfnis. Und je stärker mein Ordnungsbedürfnis, desto reizbarer meine Empörungsbereitschaft. Es ist nur logisch, dass diese Empörungsbereitschaft nirgends größer ist als an jenem Ort, an dem sich die Komplexität der Welt unmittelbarer zeigt als je zuvor in der Geschichte, im Internet also. Empörung ist heute die am weitesten verbreitete Droge der Welt.

Peter von Matt hat das Internet in seiner Rede vor sieben Jahren mit keiner Silbe erwähnt. Nicht etwa aus Dünkel, sondern weil er das Thema breiter angelegt hatte. Sein Thema war "Die Sprache in der Demokratie", seine Rede ein Appell an Journalisten, Politiker und Bürger, nicht hinter jene demokratischen Errungenschaften zurückzufallen, mit denen seit der Aufklärung im Gespräch der Öffentlichkeit die Wahrheit als Setzung von der Wahrheit als Prozess abgelöst wurde. Die Sprache der Öffentlichkeit sei nicht naturgegeben, schrieb Peter von Matt damals, sie werde von jeder Generation neu geformt oder verpfuscht: "Wenn die Journalisten und Politiker nicht mehr Deutsch können, entgleitet ihnen ein Teil der Wirklichkeit. Wie sollen sie die feinen Differenzen benennen, auf die es in der Welt ankommt wie auf die feinen Gifte in den Heilmitteln, wenn ihnen der Wortschatz fehlt, die Syntax verkümmert und schon ein Konjunktiv sie nervös macht?" Dies gilt auch diesseits des Internets.

Er sei ein "Meister der gewaltigen Kleinigkeit". Peter von Matt sagte dies über Jörg Steiner, bevor der Schriftsteller 1994 im Zürcher Theater am Neumarkt aus seinem Roman "Weißenbach und die anderen" las. Es war der erste Satz der Einführung. Besser kann man ein Publikum nicht einstimmen. Wir alle, sagt Peter von Matt, lesen Bücher doch eigentlich nur wegen der Hauptsachen des Lebens, die darin verhandelt werden: die Freiheit, die Liebe, der Tod. Aber wenn diese Hauptsachen umstandslos an- und ausgesprochen werden, zucken wir mit den Schultern, denn von den Hauptsachen kann die Literatur nur auf dem Umweg über die Nebensachen sprechen. Jörg Steiner habe einen solchen Umweg zu einer eigenen Ästhetik entwickelt: "Ihr Ziel ist die Wirkungsgewalt der Kleinigkeit."

Peter von Matt versteht viel von diesen Dingen: von Haupt- und Nebensachen, von Umwegen, Wirkungen und Kleinigkeiten. Auch er ist ein Meister der gewaltigen Kleinigkeit und also wie Steiner ein Meister, der umgekehrt alles Gewaltige wie eine Kleinigkeit zu behandeln versteht. Die Schweizer Bergwelt oder das Gebirgsmassiv der kollektiven Erinnerung: in seinen Essays werden sie nicht verkleinert oder ihrer Komplexität beraubt, und doch erscheinen sie uns plötzlich weniger unwegsam. Peter von Matt versteht es Sätze zu formulieren, mit denen wir wie über einen Gebirgspass in Gegenden vorstoßen, die uns zuvor unzugänglich waren.

Dreißig Texte versammelt dieser Band, der jetzt zum fünfundsiebzigsten Geburtstag des Zürcher Germanisten erscheint. Neunundzwanzig davon sind in den letzten Jahren entstanden und zum Teil auch bereits publiziert. Aber das war dem Jubilar nicht genug. Es ist wohl charakteristisch für Peter von Matt, dass er nicht zufrieden auf die Ernte der letzten Jahre blickt, sondern eigens für diesen Band noch einen Originalbeitrag schreibt, der alle anderen Texten dieses Bandes einen Rahmen setzt und sie alle übertrifft.

"Das Kalb vor der Gotthardpost", der titelgebende Essay, beginnt als Bildbeschreibung und endet als "Seelengeschichte einer Nation". Rudolf Kollers Gemälde zeigt den dramatischen Augenblick, in dem ein Kälbchen von den heranstürmenden Rossen einer fünfspännigen Postkutsche zermalmt zu werden droht. Mit der Kinderfrage, ob das Kalb wohl davonkommen wird, beginnt Peter von Matt seine fulminante Erkundung der schweizerischen Seelenlandschaft, die interessante Parallelen zum deutschen Nachbarn aufweist. Was Peter von Matt an diesem Bild fasziniert, ist die Inszenierung von Geschwindigkeitsdifferenzen: Die Rosse stürmen voran, die Kuhherde am Wegesrand steht starr und stiert, das Kälbchen ist dazwischen, es hält die Mitte zwischen Raserei und Stillstand. Aber ein Ausgleich ist nicht möglich, das Kälbchen ist schnell und langsam zugleich.

Ob es an diesem Widerspruch zugrunde gehen wird, ist die Frage, die seit hundert Jahre in Schweizer Kinderaugen steht, wenn sie das berühmte Gemälde betrachten. Es ist aber auch die zentrale Frage, die von den Modernisierungsprozessen des neunzehnten Jahrhunderts in ganz Europa aufgeworfen wurde, vor der wir noch immer stehen und die wir nicht beantworten können ohne den Blick zurück. Erinnerung, heißt es einmal in diesem Band, sei nie vorgegeben. "Erinnerung ist stets das Ergebnis schöpferischer Arbeit". In Peter von Matt hat die Schweiz, haben alle seine Leser einen Vorarbeiter der erinnernden Erkenntnis, wie man ihn sich besser kaum wünschen kann. Am morgigen Sonntag wird er fünfundsiebzig Jahre alt.

HUBERT SPIEGEL

Peter von Matt: "Das Kalb vor der Gotthardpost". Zur Literatur und Politik der Schweiz.

Hanser Verlag, München 2012. 368 S., geb., 21,90 [Euro].

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"Peter von Matt lesen heisst, mit sich und der Nation ins Gespräch kommen." Guido Kalberer, Tages-Anzeiger, 09.02.12

"Die scharfe Gewitztheit..., die kluge Überschau und die Lust an verblüffenden Pointen macht diese Sammlung von Texten zur Literatur und Politik der Schweiz zu einer Art fröhlicher Wissenschaft, die der gelehrten Auseinandersetzung mit den jeweiligen Gegenständen keinerlei Abbruch tut."
Urs Bugmann, Neue Luzerner Zeitung, 20.02.12

"Von Matts hohe Kunst der Auslegung bewährt sich in diesem Buch nicht nur an Bildern und Texten. Eines der schönsten Kapitel ist ein Porträt des Pilatus, seiner Pysionomie, seiner Geschichte (...) Neu hinzugekonmnmen ist ein fulminanter, fast 100 Seiten langer Einleitungsessay zur "Seelenlage" seiner Nation." Manfred Koch, Neue Zürcher Zeitung, 16.05.12

"Schlicht das Beste, was es zur Befindlichkeit unseres Landes zu lesen gibt." Kathrin Meier-Rust, NZZ am Sonntag, 01.07.12