Jede Wohnung im Mietshaus am Firozsha-Platz ist für den jungen Kersi wie eine Zauberschachtel, in der sich Schicksale entfalten, mit anderen verbinden, überraschend kreuzen. Da ist der Rechtsanwalt Rustomji, der durch die Kapriolen seiner Wasserleitung zum Märtyrer seiner Verdauung wurde, aber zu geizig ist, einen Klempner zu organisieren. Da ist Najamai, die den einzigen Kühlschrank des Stockwerks besitzt und den Nachbarn darin Platz einräumt, um genauestens über deren Eßgewohnheiten, finanzielle Krisen und geplante Feste informiert zu sein. Da ist die Dienerin Jaakaylee, die einen Geist entdeckt und so erfolgreich Angst davor hat, daß ihm andere im Haus auch begegnen. Kersi ist zu Hause in dieser Welt, in der jeder jeden kennt, und doch träumt er mit seinen Freunden vom Studium im Ausland. Erst als er tatsächlich im kühlen Wohlstand Kanadas lebt, steigt die Erinnerung an den lebhaften, geräuschvollen, engen, stimmenerfüllten Firozsha-Platz in ihm auf - eine Sehnsucht, die ihn nicht mehr verläßt.Wie in einem kostbaren Gewebe sind die Schicksale der Menschen dieses Hauses verbunden, ein Muster, das sich durch die skurrilen, humorvollen, eigenwilligen und höchst individuellen Figuren erst langsam enthüllt. Von wohletablierten Honoratioren bis zu kleinen Dienstboten, die im Grunde alle nichts Schöneres kennen, als genußvoll die Angelegenheiten ihrer Nachbarn zu diskutieren: Rohinton Mistry zeigt die ganze Fülle Indiens.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2000Die Gleichgewichtssucher
Parsen in Bombay: Rohinton Mistrys "Kaleidoskop des Lebens"
Unter den angloindischen Schriftstellern, die es in den letzten zwei Jahrzehnten zu weltweiter Anerkennung gebracht haben, gehört Rohinton Mistry zu den Stillen. Ihm fehlt die aggressive, selbstbezogene Originalität eines Salman Rushdie oder einer Arundhati Roy, die lyrische Intensität von Vikram Seth und die thematische Vielfalt von Amitav Ghosh. Seine drei Bücher sind eindringliche Milieustudien der winzigen religiösen Gemeinde der Parsen, auch Zoroastrier genannt, die aus Persien eingewandert sind. Sie konnten über Jahrhunderte ihre religiöse und gesellschaftliche Identität bewahren und es dabei zu beträchtlichem Wohlstand bringen. Heute wohnt die Mehrzahl in der indischen Metropole Bombay.
Mistry, selbst Parse, wuchs in Bombay auf und wanderte als 23-Jähriger nach Kanada aus, wo er zunächst als Bankangestellter arbeitete. Sein erstes Buch "Das Kaleidoskop des Lebens", im englischen Original 1987 erschienen, ist kein Roman, wie der deutsche Verlag fälschlich ausweist, sondern eine Sammlung von zwölf Erzählungen. Es hat erst nach den Übersetzungen der preisgekrönten großen Romane - "So eine lange Reise" (1994) und "Das Gleichgewicht der Welt" (1999) - den Weg zum deutschen Leser gefunden. Rohinton Mistrys Sprache wirkt ein wenig umständlich und stilistisch konventionell; sie hält nichts von den bizarren, magischen, persiflierenden, sprachspielerischen Mitteln, die für die moderne angloindische Literatur so charakteristisch sind. Das mag ein Grund sein, weshalb ihm bei uns bisher größere Beachtung versagt blieb. Was ihn jedoch auszeichnet, ist ein tiefes Gefühl für das Leben der einfachen Menschen.
Seine Erzählungen sind im mittelständischen parsischen Milieu des Mietwohnungskomplexes Firozsha Baag von Bombay angesiedelt. Jede Erzählung schildert das Leben einer Familie, doch tauchen dieselben Personen in mehreren Erzählungen auf, wodurch sich ein Erzählfaden durch den gesamten Text webt. Da sind die Kinder mit ihren Problemen des Aufwachsens, die ältlichen Ehepaare mit ihren religiösen und gesellschaftlichen Konventionen; die fromme Parsin und ihr grantiger Ehemann, ein Rechtsanwalt; der joviale Arzt und dessen unflätiger Sohn.
Da ist Francis, der Handlanger, der jämmerlich zusammengeschlagen wird, als er eines läppischen Diebstahls überführt wird; die katholische Kinderfrau aus Goa, die ihr Leben lang im Flur übernachtet; der smarte junge Mann, der es schafft, nach New York auszuwandern und von seiner Heimat nur noch mit faszinierter Verachtung spricht.
Mistry flicht seine eigene Jugend und seinen Abschied von Bombay, auch das Leben in Toronto in die Erzählungen hinein. Sie sind mit großem Feingefühl ausbalanciert; die kleinen Eigenheiten und subtilen Bosheiten der Menschen beschreibt Mistry mit Nachsicht. Die Grundstimmung ist die Melancholie. Wie anders kann man auf das unaufhaltsame Verstreichen der Zeit, auf den schleichenden Zerfall, auf die allmählich unerträglich werdenden Verhältnisse der Großstadt und die unfassbare Gemeinheit der Ausbeutung durch die Stärkeren reagieren? Hervorragend in ihrer verhaltenen Leidenschaft die Erzählung "Die Sammler" über zwei ungleiche Briefmarkensammler, einen Arzt und einen scheuen Jungen, die einander brauchen, um ihr seelisches Gleichgewicht zu finden; sie müssen aber wieder auseinander gehen: die Kluft ihrer Ungleichheit bleibt unüberbrückbar. Hier sind, gewissermaßen als Vorübung, jene Probleme und Situationen umrissen, die der Autor in seinen beiden Romanen komplexer und mit epischem Pathos entfaltet. Man möchte Rohinton Mistry größere Beachtung wünschen, weil seine Darstellung des indischen Großstadtlebens ein gerechtes Gleichgewicht zu finden scheint zwischen der Stärke menschlicher Hoffnung und den Versuchungen zu verzweifeln.
MARTIN KÄMPCHEN
Rohinton Mistry: "Das Kaleidoskop des Lebens". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Matthias Müller. Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt 1999. 287 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Parsen in Bombay: Rohinton Mistrys "Kaleidoskop des Lebens"
Unter den angloindischen Schriftstellern, die es in den letzten zwei Jahrzehnten zu weltweiter Anerkennung gebracht haben, gehört Rohinton Mistry zu den Stillen. Ihm fehlt die aggressive, selbstbezogene Originalität eines Salman Rushdie oder einer Arundhati Roy, die lyrische Intensität von Vikram Seth und die thematische Vielfalt von Amitav Ghosh. Seine drei Bücher sind eindringliche Milieustudien der winzigen religiösen Gemeinde der Parsen, auch Zoroastrier genannt, die aus Persien eingewandert sind. Sie konnten über Jahrhunderte ihre religiöse und gesellschaftliche Identität bewahren und es dabei zu beträchtlichem Wohlstand bringen. Heute wohnt die Mehrzahl in der indischen Metropole Bombay.
Mistry, selbst Parse, wuchs in Bombay auf und wanderte als 23-Jähriger nach Kanada aus, wo er zunächst als Bankangestellter arbeitete. Sein erstes Buch "Das Kaleidoskop des Lebens", im englischen Original 1987 erschienen, ist kein Roman, wie der deutsche Verlag fälschlich ausweist, sondern eine Sammlung von zwölf Erzählungen. Es hat erst nach den Übersetzungen der preisgekrönten großen Romane - "So eine lange Reise" (1994) und "Das Gleichgewicht der Welt" (1999) - den Weg zum deutschen Leser gefunden. Rohinton Mistrys Sprache wirkt ein wenig umständlich und stilistisch konventionell; sie hält nichts von den bizarren, magischen, persiflierenden, sprachspielerischen Mitteln, die für die moderne angloindische Literatur so charakteristisch sind. Das mag ein Grund sein, weshalb ihm bei uns bisher größere Beachtung versagt blieb. Was ihn jedoch auszeichnet, ist ein tiefes Gefühl für das Leben der einfachen Menschen.
Seine Erzählungen sind im mittelständischen parsischen Milieu des Mietwohnungskomplexes Firozsha Baag von Bombay angesiedelt. Jede Erzählung schildert das Leben einer Familie, doch tauchen dieselben Personen in mehreren Erzählungen auf, wodurch sich ein Erzählfaden durch den gesamten Text webt. Da sind die Kinder mit ihren Problemen des Aufwachsens, die ältlichen Ehepaare mit ihren religiösen und gesellschaftlichen Konventionen; die fromme Parsin und ihr grantiger Ehemann, ein Rechtsanwalt; der joviale Arzt und dessen unflätiger Sohn.
Da ist Francis, der Handlanger, der jämmerlich zusammengeschlagen wird, als er eines läppischen Diebstahls überführt wird; die katholische Kinderfrau aus Goa, die ihr Leben lang im Flur übernachtet; der smarte junge Mann, der es schafft, nach New York auszuwandern und von seiner Heimat nur noch mit faszinierter Verachtung spricht.
Mistry flicht seine eigene Jugend und seinen Abschied von Bombay, auch das Leben in Toronto in die Erzählungen hinein. Sie sind mit großem Feingefühl ausbalanciert; die kleinen Eigenheiten und subtilen Bosheiten der Menschen beschreibt Mistry mit Nachsicht. Die Grundstimmung ist die Melancholie. Wie anders kann man auf das unaufhaltsame Verstreichen der Zeit, auf den schleichenden Zerfall, auf die allmählich unerträglich werdenden Verhältnisse der Großstadt und die unfassbare Gemeinheit der Ausbeutung durch die Stärkeren reagieren? Hervorragend in ihrer verhaltenen Leidenschaft die Erzählung "Die Sammler" über zwei ungleiche Briefmarkensammler, einen Arzt und einen scheuen Jungen, die einander brauchen, um ihr seelisches Gleichgewicht zu finden; sie müssen aber wieder auseinander gehen: die Kluft ihrer Ungleichheit bleibt unüberbrückbar. Hier sind, gewissermaßen als Vorübung, jene Probleme und Situationen umrissen, die der Autor in seinen beiden Romanen komplexer und mit epischem Pathos entfaltet. Man möchte Rohinton Mistry größere Beachtung wünschen, weil seine Darstellung des indischen Großstadtlebens ein gerechtes Gleichgewicht zu finden scheint zwischen der Stärke menschlicher Hoffnung und den Versuchungen zu verzweifeln.
MARTIN KÄMPCHEN
Rohinton Mistry: "Das Kaleidoskop des Lebens". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Matthias Müller. Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt 1999. 287 S., geb., 38,- DM.
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