Mit sieben Jahren ist es schwer zu verstehen, warum der Vater im Gefängnis sitzt und die Mutter im Haus heimlich Flugblätter druckt. Aber Laura versteht. Auch, als sie nicht mehr in die Schule gehen soll, wegen der unangenehmen Fragen dort. Auch, als sie im Kofferraum eines Wagens zu ihren Großeltern gefahren wird. Und sie weiß, wie man auf der Straße Verfolger erkennt und warum sie unter falschem Namen lebt.Es sind die Jahre der Militärdiktatur in Argentinien. Die Montoneros, eine bewaffnete Widerstandsbewegung, der Lauras Eltern angehören, haben in dem heruntergekommenen Haus am Rande von La Plata eine geheime Druckerpresse eingerichtet. Nach außen rechtfertigt eine Kaninchenzucht die politischen Umtriebe der Bewegung. Ebenso beschützend wie bedrohlich, wird das Kaninchenhaus zum Unterschlupf für das jäh der Normalität entrissene Kind, das mit banger Faszination die Welt der Erwachsenen betritt. Aus der berührenden Sicht eines siebenjährigen Mädchens erzählt die argentinische Autorin Laura Alcoba von einer Kindheit, die zugleich Schrecken und Zauber birgt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.04.2011Revolte in Geschenkpapier
Laura Alcoba beschreibt eine Kindheit im Untergrund
Ein achtjähriges Mädchen, das gerade beginnt, mit Lebenslust eine Welt jenseits der Familie zu erkunden, muss urplötzlich lernen, Grenzen für den Bewegungsdrang im Alltag hinzunehmen. Alle Schritte in der Öffentlichkeit werden akribisch geplant und überwacht; sämtliche Gespräche mit den Nachbarn sind verboten; ein Schulbesuch kann nur mit anderer Identität erfolgen, bis er dann gänzlich verboten wird. Selbst der Kontakt zur Mutter - der Vater sitzt schon im Gefängnis - ist nur unter strengen Auflagen noch möglich.
Wenn junge Eltern sich aufgrund politischer Entwicklungen für ein Leben im Untergrund entscheiden, sind ihre Kinder die Ersten, die an der Last zu tragen haben. Wie können sie die eingestürzte Lebenswelt je wieder aufbauen? Wie kann es gelingen, das Vertrauen in die Welt, das Kinder wie die Luft zum Atmen brauchen, je wieder zu gewinnen? Solchen Fragen geht Laura Alcoba in ihrem Debüt nach. Es trägt etwas verschämt das Genre-Etikett "Roman", vielleicht um durch die Lizenz zur Fiktion eine Erleichterung zu schaffen, beruht aber auf eigenem traumatischem Erleben.
Die Autorin, Jahrgang 1968, stammt aus Argentinien und lebt in Paris, seit sie als Zehnjährige ihrer Mutter ins Exil dorthin folgte. Zuvor durchlitt ihre Familie die Schrecken der Gewaltherrschaft, die mit dem Machtantritt der Militärjunta in Argentinien entfesselt wurden. Verfolgung, Säuberungen, Internierung, Mord, Verrat und Folter - dies war die Tagesordnung, der die Eltern sich zu widersetzen suchten, als sie sich 1975 der Untergrundbewegung der Montoneros anschlossen. Sie produzierten in La Plata eine illegale Tageszeitung, gedruckt in einem konspirativen Haus am Stadtrand, das als Kaninchenzuchtstation getarnt war. Hinter den Ställen stand die Druckerpresse - bis der Ort von der Geheimpolizei ausgehoben und alle Bewohner verschleppt wurden. Der Mutter gelang die Flucht ins Ausland; die Tochter kann ihr etwas später folgen.
So weit die Fakten, denen dieser Text in mühsam tastender Erinnerungsarbeit nachgeht. In kurzen Kapiteln nimmt er die Spur zu einem Kinderleben auf, das umso albtraumhafter wird, je mehr es sich in der Alltäglichkeit zu schützen sucht. Die kleine Laura findet beispielsweise Gefallen an der Aufgabe, die Zeitungspakete vor dem Abtransport mit Geschenkpapier und bunten Bändern auszustatten und auf diese Art zu tarnen. Sie freut sich auf die neue Puppe, die sie sich im Lieblingsladen selbst aussuchen darf, und begreift erst sehr viel später, dass dies das Geschenk zum Abschied vom vertrauen Leben ist. Vieles, was sie von nun an erleben muss, bleibt für sie unbegreiflich, dennoch findet sich Laura mit ihrer neuen Rolle in der widrigen Erwachsenenwelt ab. Das Recht auf Widerspruch bleibt einem Kind von Widerstandskämpfern versagt.
Gerahmt werden die Erinnerungsfragmente von Reiseeindrücken der Autorin, als sie 25 Jahre nach der Flucht das Land wieder besucht und den Orten alten Grauens neu begegnet: "Es gibt keine Worte für die Ergriffenheit, die mich überkam, als ich an diesem von Tod und Zerstörung gezeichneten Ort stand." Das ist nur zu verständlich. Doch für die literarische Verarbeitung ist Ergriffenheit kaum geeignet. Dazu ist es der Erzählung dieses Kinderschicksals nicht zuträglich, dass sie den Rückblick aus der Gegenwart miteinbeziehen will. Denn statt dem kindlichen Blick zuzutrauen, den Schrecken des Erlebten standzuhalten, blickt hier die erwachsene Erzählerin andauernd ihrem jungen Selbst über die Schulter. Das hat etwas Besserwisserisches und unterscheidet diese Flüchtlingsmemoiren von Klassikern des Genres wie Judith Kerrs "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl", auf das der deutsche Titel anspielt. Bei aller Erschütterung über das Schicksal, von dem Laura Alcoba zu berichten hat, wird man ihr Buch als Zeugnis der Zeitgeschichte, nicht als literarisches Ereignis in Erinnerung behalten.
TOBIAS DÖRING
Laura Alcoba: "Das Kaninchenhaus". Roman.
Aus dem Französischen von Angelica Ammar. Insel Verlag, Berlin 2010. 118 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Laura Alcoba beschreibt eine Kindheit im Untergrund
Ein achtjähriges Mädchen, das gerade beginnt, mit Lebenslust eine Welt jenseits der Familie zu erkunden, muss urplötzlich lernen, Grenzen für den Bewegungsdrang im Alltag hinzunehmen. Alle Schritte in der Öffentlichkeit werden akribisch geplant und überwacht; sämtliche Gespräche mit den Nachbarn sind verboten; ein Schulbesuch kann nur mit anderer Identität erfolgen, bis er dann gänzlich verboten wird. Selbst der Kontakt zur Mutter - der Vater sitzt schon im Gefängnis - ist nur unter strengen Auflagen noch möglich.
Wenn junge Eltern sich aufgrund politischer Entwicklungen für ein Leben im Untergrund entscheiden, sind ihre Kinder die Ersten, die an der Last zu tragen haben. Wie können sie die eingestürzte Lebenswelt je wieder aufbauen? Wie kann es gelingen, das Vertrauen in die Welt, das Kinder wie die Luft zum Atmen brauchen, je wieder zu gewinnen? Solchen Fragen geht Laura Alcoba in ihrem Debüt nach. Es trägt etwas verschämt das Genre-Etikett "Roman", vielleicht um durch die Lizenz zur Fiktion eine Erleichterung zu schaffen, beruht aber auf eigenem traumatischem Erleben.
Die Autorin, Jahrgang 1968, stammt aus Argentinien und lebt in Paris, seit sie als Zehnjährige ihrer Mutter ins Exil dorthin folgte. Zuvor durchlitt ihre Familie die Schrecken der Gewaltherrschaft, die mit dem Machtantritt der Militärjunta in Argentinien entfesselt wurden. Verfolgung, Säuberungen, Internierung, Mord, Verrat und Folter - dies war die Tagesordnung, der die Eltern sich zu widersetzen suchten, als sie sich 1975 der Untergrundbewegung der Montoneros anschlossen. Sie produzierten in La Plata eine illegale Tageszeitung, gedruckt in einem konspirativen Haus am Stadtrand, das als Kaninchenzuchtstation getarnt war. Hinter den Ställen stand die Druckerpresse - bis der Ort von der Geheimpolizei ausgehoben und alle Bewohner verschleppt wurden. Der Mutter gelang die Flucht ins Ausland; die Tochter kann ihr etwas später folgen.
So weit die Fakten, denen dieser Text in mühsam tastender Erinnerungsarbeit nachgeht. In kurzen Kapiteln nimmt er die Spur zu einem Kinderleben auf, das umso albtraumhafter wird, je mehr es sich in der Alltäglichkeit zu schützen sucht. Die kleine Laura findet beispielsweise Gefallen an der Aufgabe, die Zeitungspakete vor dem Abtransport mit Geschenkpapier und bunten Bändern auszustatten und auf diese Art zu tarnen. Sie freut sich auf die neue Puppe, die sie sich im Lieblingsladen selbst aussuchen darf, und begreift erst sehr viel später, dass dies das Geschenk zum Abschied vom vertrauen Leben ist. Vieles, was sie von nun an erleben muss, bleibt für sie unbegreiflich, dennoch findet sich Laura mit ihrer neuen Rolle in der widrigen Erwachsenenwelt ab. Das Recht auf Widerspruch bleibt einem Kind von Widerstandskämpfern versagt.
Gerahmt werden die Erinnerungsfragmente von Reiseeindrücken der Autorin, als sie 25 Jahre nach der Flucht das Land wieder besucht und den Orten alten Grauens neu begegnet: "Es gibt keine Worte für die Ergriffenheit, die mich überkam, als ich an diesem von Tod und Zerstörung gezeichneten Ort stand." Das ist nur zu verständlich. Doch für die literarische Verarbeitung ist Ergriffenheit kaum geeignet. Dazu ist es der Erzählung dieses Kinderschicksals nicht zuträglich, dass sie den Rückblick aus der Gegenwart miteinbeziehen will. Denn statt dem kindlichen Blick zuzutrauen, den Schrecken des Erlebten standzuhalten, blickt hier die erwachsene Erzählerin andauernd ihrem jungen Selbst über die Schulter. Das hat etwas Besserwisserisches und unterscheidet diese Flüchtlingsmemoiren von Klassikern des Genres wie Judith Kerrs "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl", auf das der deutsche Titel anspielt. Bei aller Erschütterung über das Schicksal, von dem Laura Alcoba zu berichten hat, wird man ihr Buch als Zeugnis der Zeitgeschichte, nicht als literarisches Ereignis in Erinnerung behalten.
TOBIAS DÖRING
Laura Alcoba: "Das Kaninchenhaus". Roman.
Aus dem Französischen von Angelica Ammar. Insel Verlag, Berlin 2010. 118 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Berührt zeigt sich Sabine Peters von Laura Alcobas autobiografischem Roman "Das Kaninchenhaus". Es geht um das Mädchen Laura, deren oppositionelle Eltern 1975 ins Visier der argentinischen Militärjunta geraten: Der Vater wird verhaftet, die Mutter zieht mit der Tochter zu Freundin Diana, die eine Flugblattdruckerei - als Kaninchenzucht getarnt - besitzt. Laura lebt von nun an in ständiger Angst, mit einem einzigen Wort ihr Leben und das ihrer Mutter aufs Spiel zu setzen. Peters schätzt vor allem Alcobas "klare und dabei behutsame Sprache", die die traumatisierende Kindheit eher andeute als ausschmücke. Alcoba mache eindringlich klar, wie schwer Aufarbeitung von dunkler Vergangenheit für die Opfer sein könne, so die mitfühlende Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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