An einem Frühlingstag im April landet Benjamin Merz mit dem Flugzeug in Catania. Merz ist Ethnologe, und er möchte die Lebensgewohnheiten der Menschen in Mandlica, einer kleinen Stadt an der Südküste Siziliens, erkunden. Er freut sich auf das Frage- und Antwortspiel, auf das er sich gründlich vorbereitet, damit er mit den Einheimischen ins Gespräch kommt. Allerdings muss er große Hemmungen überwinden, um diese Gespräche auch tatsächlich zu führen. Denn Benjamin Merz ist zwar ein kluger Ethnologe, aber ihm fällt es ungeheuer schwer, das zu tun, worauf seine ganze Arbeit aufbaut: Fragen zu stellen. Und das hat seinen Grund.
Aufgewachsen ist Benjamin Merz mit vier weitaus älteren Brüdern. Seine Kinderjahre verbrachte er in einer aufgezwungenen Spracharmut. Seine älteren Brüder gaben in der Familie den Ton an, und er als Nachkömmling war schon häufig alleine damit überfordert, zu verstehen, worüber gesprochen wurde. Selbst einfachste Verständnisfragen traute er sich dann nicht zu stellen, und später musste er sich das Fragen mühsam antrainieren. Dafür kann er aber ausgezeichnet zuhören. Und diese Fähigkeit macht ihn in Mandlica, der Stadt der Dolci, zu einem begehrten Gesprächspartner - insbesondere bei den Frauen. Sie beginnen ihm Familiengeheimnisse und verborgenste Liebeswünsche anzuvertrauen ...
Mit dem Roman »Das Kind, das nicht fragte« schreibt Hanns-Josef Ortheil an dem großen autobiographischen Selbsterforschungsprojekt seiner Kinder- und Jugendjahre weiter. Nach »Die Erfindung des Lebens« und »Die Moselreise« setzt sich der Autor auch in diesem Roman mit dem großen Themenkomplex des Zusammenhangs von Verstummen und Sprechen, Fragen und Selbstfindung auseinander.
Aufgewachsen ist Benjamin Merz mit vier weitaus älteren Brüdern. Seine Kinderjahre verbrachte er in einer aufgezwungenen Spracharmut. Seine älteren Brüder gaben in der Familie den Ton an, und er als Nachkömmling war schon häufig alleine damit überfordert, zu verstehen, worüber gesprochen wurde. Selbst einfachste Verständnisfragen traute er sich dann nicht zu stellen, und später musste er sich das Fragen mühsam antrainieren. Dafür kann er aber ausgezeichnet zuhören. Und diese Fähigkeit macht ihn in Mandlica, der Stadt der Dolci, zu einem begehrten Gesprächspartner - insbesondere bei den Frauen. Sie beginnen ihm Familiengeheimnisse und verborgenste Liebeswünsche anzuvertrauen ...
Mit dem Roman »Das Kind, das nicht fragte« schreibt Hanns-Josef Ortheil an dem großen autobiographischen Selbsterforschungsprojekt seiner Kinder- und Jugendjahre weiter. Nach »Die Erfindung des Lebens« und »Die Moselreise« setzt sich der Autor auch in diesem Roman mit dem großen Themenkomplex des Zusammenhangs von Verstummen und Sprechen, Fragen und Selbstfindung auseinander.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.2013Benjamin und seine übermächtigen Brüder
Nicht über das Leben schreiben, sondern schreiben, um zu leben: Hanns-Josef Ortheil setzt die Reihe seiner autobiographisch geprägten Romane fort und erzählt in "Das Kind, das nicht fragte" die Geschichte eines Nachkömmlings, der nach Sizilien flieht.
Er hat mittlerweile eine beachtliche Fülle von Büchern geschrieben, wurde mit einer Menge Preise ausgezeichnet, wirkte zwölf Jahre lang als Assistent am Deutschen Institut der Universität Mainz, errang zuvor den Doktortitel für eine Arbeit über die geschichtsphilosophische Theorie des Romans: Hanns-Josef Ortheil, seit 1988 Schriftsteller im Hauptberuf. Seine vielfältige Karriere ist nicht zuletzt deshalb so bemerkenswert, weil ihm zu Beginn seines Lebens ein Unheil die Gabe zu rauben schien, ohne die ein Schaffender seiner Art nicht denkbar ist - die Sprache. Ortheil, 1951 in Köln geboren, war der jüngste von fünf Söhnen und der einzige, der seinen Eltern nicht durch den Tod entrissen wurde.
Einer der Brüder starb am Ende des Zweiten Weltkriegs, von einem Granatsplitter getroffen, in den Armen der Mutter. Die reagierte darauf mit einer Aphasie, also mit dem Verlust des Sprechvermögens. Von ihr konnte der Spätling den Gebrauch von Wörtern nicht lernen. Ebenso wenig aber vom Vater, den der Sohn 1994 in seinem autobiographischen Essay "Das Element des Elephanten" als "schweigsam" und "in sich vergrübelt" schilderte. Ein stummer Knabe wuchs da heran, von den Ärzten, denen er präsentiert wurde, vorschnell als Autist eingeordnet.
Wie konnte aus einem derartig Behinderten ein Wortmeister werden? Ortheil fand einen anderen Weg zur Sprache, dessen Etappen waren das Lesen und, daraus entwickelt, das Schreiben. In einem Essay namens "Weiterschreiben", Teil des 1990 erschienenen Bandes "Schauprozesse", bekundete der Autor, dass Literatur für ihn vor allem autobiographischen Charakter aufweisen müsse, um zu dem zu werden, was er brauche: nämlich Befreiung. Ihm diene "das Schreiben nicht als Repräsentanz, sondern als Herstellung des Lebens". Wie wichtig er das nahm, bezeugen vornehmlich drei seiner Hauptwerke, die Erzählung "Hecke" (1983) sowie die Romane "Schwerenöter" (1987) und "Abschied von den Kriegsteilnehmern" (1992).
Zu denen gesellt sich nun ein neuer Roman mit dem Titel "Das Kind, das nicht fragte". Wer davon eine weitere Auseinandersetzung des Autors mit dem Fluch seiner Jugendtage erwartet, wird sich bestätigt sehen. Wiederum wird uns ein Mensch vorgeführt, der auf eine qualvoll stumme Kindheit zurückblicken muss und auf harte Kämpfe um wenigstens kleine Anteile an der sogenannten Normalität. Benjamin Merz heißt diese Hauptfigur, ein Mann Ende dreißig, von Beruf Ethnologe und in seinem Fach zugleich Forscher und Lehrer. Eine erfolgreiche Persönlichkeit eigentlich. Dies jedoch nur oberflächlich, denn Benjamins Seele trägt die Spuren früher Ängste, einstiger Bedrohungen seines normalen Hineinreifens in ganz gewöhnliche Lebensumstände. Also alles genau wie bei Ortheil?
Diesmal nicht. Ein wesentlicher Unterschied prägt schon die Zeichnung der Familie. Zwar ist Benjamin, ganz wie sein Schöpfer, der jüngste von fünf Brüdern, doch anders als bei den Ortheils sind bei den Merzens alle Söhne noch am Leben. Jeder der vier Großen ist zum braven Bürger gereift, vielleicht könnte man sie sogar Spießbürger nennen. Als solche überzeugen sie ihre Mitwelt, sowohl privat wie beruflich. Alle vier sind der Meinung, der kleine Bruder habe leider nicht das Zeug dazu, sich an ihnen ein Beispiel zu nehmen. Ob in diesem Urteil ein Stück Wahrheit steckt oder nur Verleumdung, kann der Romanleser schlecht ermitteln. Er begegnet nämlich auf keiner der Buchseiten den Auftrumpfern als Personen, auch Benjamin tut das nicht. Den rufen die Großen nur manchmal an, und weil der Leser zwangsläufig Zeuge ist, bekommt er die Unfreundlichkeit ihrer Äußerungen mit und begreift, wie belastend diese Geschwister für das Kind Benjamin gewesen sein müssen.
Aber sind und waren die Brüder wirklich so, wie Benjamin sie schildert? Er ist ja nicht nur Hauptperson, sondern auch Erzähler des Romans. Das heißt, wir sehen die Welt, wie sie war, wie sie ist, wie sie sein wird, allein durch seine Augen, sind allein von seinem Urteil abhängig. Wäre es nicht möglich, dass er für alles, was ihn je störte und bedrückte, Schuldige gesucht und die vier dazu ernannt hat? Immerhin geht es ihm dringend darum, den Sumpf der Vergangenheit hinter sich zu lassen und seine Schritte künftig nur noch aufwärtszulenken. Von genau solchem Streben handelt schließlich der gesamte Roman, und da Benjamin nicht allzu viel berichtet, was das Gelingen seiner Karriere zwangsläufig erscheinen lässt, bietet sich die Abwendung von den Brüdern an und damit der Sieg über sie und die Welt, für die sie stehen.
Doch, wie schon gesagt, sie kommen selten vor, wir wissen zu wenig von ihnen und müssen uns mit Urteilen zurückhalten. Die Handlung wird nämlich im Wesentlichen von den Bewohnern der Landschaft bestritten, in die Benjamin Merz sich zurückgezogen hat. Das ist Sizilien, darin ein kleines Städtchen im äußersten Süden, es heißt Mandlica. Ähnlichkeiten mit dem vom Spätbarock geprägten Modica liegen auf der Hand. Der deutsche Ethnologe möchte die Lebensart, die Gewohnheiten und Besonderheiten der dortigen Menschen erkunden. Offenbar weiß der Romanschöpfer Hanns-Josef Ortheil über diese Weltgegend sehr gut Bescheid, denn sein Buch versorgt uns mit unendlich vielen und sehr genauen Auskünften über jenes Stückchen Europa, über dessen Historie bis weit in die Antike hinein, über dessen Kunst- und Literaturgeschichte und das sizilianische Alltagsleben in der Gegenwart. Einem so kundigen Berichterstatter vertraut man sich gern an, lässt sich willig von ihm belehren. Und weil der Autor ja seinen Benjamin reden lässt, ist man durchaus bereit, diesen als Vortragskünstler zu akzeptieren und ihm zuzutrauen, dass er später seine Studenten mit dem Ertrag seiner Studien beglücken und dadurch selbst glücklich werden kann.
Doch bis zu diesem fernen Ziel entwickelt sich der Roman nicht. Das Glück, das Benjamin erfährt, ist von anderer Art und erreicht ihn noch vor dem Abschluss seiner Forschungen. Es gelingt ihm nämlich, die Sympathie der Sizilianer zu erringen, schließlich eine neue Heimat bei ihnen zu finden. Als Wichtigste unter seinen Sympathisanten erweist sich Paula, eine gebürtige Deutsche, die aber Sizilien innig liebt, Benjamin ebenso innig lieben lernt und ihm beibringt, all die wunderbare Zuneigung aus tiefstem Herzen zu erwidern. So wird ihm der größte Triumph zuteil, den er sich als Kind hätte wünschen können, wäre er damals schon reif genug gewesen, solche Wünsche auszudenken: Ein ganzes Inselvolk zollt ihm Anerkennung, sieht in ihm einen Helden der Wissenschaft und der menschlichen Beziehungen, hilft ihm, alles auszuradieren, was auf den ersten Seiten seiner Lebensgeschichte je gestört hat. Er braucht nicht einmal mehr die Begegnung mit den Brüdern, um seinen wundersamen Sieg über sie zu genießen.
Übrigens kommen die, wenn es so weit ist, auch gar nicht mehr vor. Und das lässt uns noch einmal nachdenken über die Position des Romanhelden: Wenn die Brüder einen so fatalen Einfluss auf den Jüngsten ausübten, reicht es dann, sich ihnen geographisch zu entziehen? Bedeutet das etwa, dass Benjamin die Begegnung mit ihnen nach wie vor scheut, sich einem realen Geltungsstreit nicht stellen möchte? Die Leute, unter denen er künftig daheim sein wird, sehen ja eine ganz andere Persönlichkeit in ihm als die Gefährten seiner Jugend. Um diese Sizilianer zu überzeugen, bedarf es keiner Kämpfe, und solche Gewissheit ist natürlich verlockend. Die Frage ist nur, ob Benjamin Merz sich selbst glauben kann, ob er dort angelangt ist, wo er immer sein wollte, oder ob die Romanhandlung ihn am Ende wieder absetzt, wo sie ihn zu Beginn aufgriff.
SABINE BRANDT
Hanns-Josef Ortheil: "Das Kind, das nicht fragte". Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2012. 428 S., geb., 21,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nicht über das Leben schreiben, sondern schreiben, um zu leben: Hanns-Josef Ortheil setzt die Reihe seiner autobiographisch geprägten Romane fort und erzählt in "Das Kind, das nicht fragte" die Geschichte eines Nachkömmlings, der nach Sizilien flieht.
Er hat mittlerweile eine beachtliche Fülle von Büchern geschrieben, wurde mit einer Menge Preise ausgezeichnet, wirkte zwölf Jahre lang als Assistent am Deutschen Institut der Universität Mainz, errang zuvor den Doktortitel für eine Arbeit über die geschichtsphilosophische Theorie des Romans: Hanns-Josef Ortheil, seit 1988 Schriftsteller im Hauptberuf. Seine vielfältige Karriere ist nicht zuletzt deshalb so bemerkenswert, weil ihm zu Beginn seines Lebens ein Unheil die Gabe zu rauben schien, ohne die ein Schaffender seiner Art nicht denkbar ist - die Sprache. Ortheil, 1951 in Köln geboren, war der jüngste von fünf Söhnen und der einzige, der seinen Eltern nicht durch den Tod entrissen wurde.
Einer der Brüder starb am Ende des Zweiten Weltkriegs, von einem Granatsplitter getroffen, in den Armen der Mutter. Die reagierte darauf mit einer Aphasie, also mit dem Verlust des Sprechvermögens. Von ihr konnte der Spätling den Gebrauch von Wörtern nicht lernen. Ebenso wenig aber vom Vater, den der Sohn 1994 in seinem autobiographischen Essay "Das Element des Elephanten" als "schweigsam" und "in sich vergrübelt" schilderte. Ein stummer Knabe wuchs da heran, von den Ärzten, denen er präsentiert wurde, vorschnell als Autist eingeordnet.
Wie konnte aus einem derartig Behinderten ein Wortmeister werden? Ortheil fand einen anderen Weg zur Sprache, dessen Etappen waren das Lesen und, daraus entwickelt, das Schreiben. In einem Essay namens "Weiterschreiben", Teil des 1990 erschienenen Bandes "Schauprozesse", bekundete der Autor, dass Literatur für ihn vor allem autobiographischen Charakter aufweisen müsse, um zu dem zu werden, was er brauche: nämlich Befreiung. Ihm diene "das Schreiben nicht als Repräsentanz, sondern als Herstellung des Lebens". Wie wichtig er das nahm, bezeugen vornehmlich drei seiner Hauptwerke, die Erzählung "Hecke" (1983) sowie die Romane "Schwerenöter" (1987) und "Abschied von den Kriegsteilnehmern" (1992).
Zu denen gesellt sich nun ein neuer Roman mit dem Titel "Das Kind, das nicht fragte". Wer davon eine weitere Auseinandersetzung des Autors mit dem Fluch seiner Jugendtage erwartet, wird sich bestätigt sehen. Wiederum wird uns ein Mensch vorgeführt, der auf eine qualvoll stumme Kindheit zurückblicken muss und auf harte Kämpfe um wenigstens kleine Anteile an der sogenannten Normalität. Benjamin Merz heißt diese Hauptfigur, ein Mann Ende dreißig, von Beruf Ethnologe und in seinem Fach zugleich Forscher und Lehrer. Eine erfolgreiche Persönlichkeit eigentlich. Dies jedoch nur oberflächlich, denn Benjamins Seele trägt die Spuren früher Ängste, einstiger Bedrohungen seines normalen Hineinreifens in ganz gewöhnliche Lebensumstände. Also alles genau wie bei Ortheil?
Diesmal nicht. Ein wesentlicher Unterschied prägt schon die Zeichnung der Familie. Zwar ist Benjamin, ganz wie sein Schöpfer, der jüngste von fünf Brüdern, doch anders als bei den Ortheils sind bei den Merzens alle Söhne noch am Leben. Jeder der vier Großen ist zum braven Bürger gereift, vielleicht könnte man sie sogar Spießbürger nennen. Als solche überzeugen sie ihre Mitwelt, sowohl privat wie beruflich. Alle vier sind der Meinung, der kleine Bruder habe leider nicht das Zeug dazu, sich an ihnen ein Beispiel zu nehmen. Ob in diesem Urteil ein Stück Wahrheit steckt oder nur Verleumdung, kann der Romanleser schlecht ermitteln. Er begegnet nämlich auf keiner der Buchseiten den Auftrumpfern als Personen, auch Benjamin tut das nicht. Den rufen die Großen nur manchmal an, und weil der Leser zwangsläufig Zeuge ist, bekommt er die Unfreundlichkeit ihrer Äußerungen mit und begreift, wie belastend diese Geschwister für das Kind Benjamin gewesen sein müssen.
Aber sind und waren die Brüder wirklich so, wie Benjamin sie schildert? Er ist ja nicht nur Hauptperson, sondern auch Erzähler des Romans. Das heißt, wir sehen die Welt, wie sie war, wie sie ist, wie sie sein wird, allein durch seine Augen, sind allein von seinem Urteil abhängig. Wäre es nicht möglich, dass er für alles, was ihn je störte und bedrückte, Schuldige gesucht und die vier dazu ernannt hat? Immerhin geht es ihm dringend darum, den Sumpf der Vergangenheit hinter sich zu lassen und seine Schritte künftig nur noch aufwärtszulenken. Von genau solchem Streben handelt schließlich der gesamte Roman, und da Benjamin nicht allzu viel berichtet, was das Gelingen seiner Karriere zwangsläufig erscheinen lässt, bietet sich die Abwendung von den Brüdern an und damit der Sieg über sie und die Welt, für die sie stehen.
Doch, wie schon gesagt, sie kommen selten vor, wir wissen zu wenig von ihnen und müssen uns mit Urteilen zurückhalten. Die Handlung wird nämlich im Wesentlichen von den Bewohnern der Landschaft bestritten, in die Benjamin Merz sich zurückgezogen hat. Das ist Sizilien, darin ein kleines Städtchen im äußersten Süden, es heißt Mandlica. Ähnlichkeiten mit dem vom Spätbarock geprägten Modica liegen auf der Hand. Der deutsche Ethnologe möchte die Lebensart, die Gewohnheiten und Besonderheiten der dortigen Menschen erkunden. Offenbar weiß der Romanschöpfer Hanns-Josef Ortheil über diese Weltgegend sehr gut Bescheid, denn sein Buch versorgt uns mit unendlich vielen und sehr genauen Auskünften über jenes Stückchen Europa, über dessen Historie bis weit in die Antike hinein, über dessen Kunst- und Literaturgeschichte und das sizilianische Alltagsleben in der Gegenwart. Einem so kundigen Berichterstatter vertraut man sich gern an, lässt sich willig von ihm belehren. Und weil der Autor ja seinen Benjamin reden lässt, ist man durchaus bereit, diesen als Vortragskünstler zu akzeptieren und ihm zuzutrauen, dass er später seine Studenten mit dem Ertrag seiner Studien beglücken und dadurch selbst glücklich werden kann.
Doch bis zu diesem fernen Ziel entwickelt sich der Roman nicht. Das Glück, das Benjamin erfährt, ist von anderer Art und erreicht ihn noch vor dem Abschluss seiner Forschungen. Es gelingt ihm nämlich, die Sympathie der Sizilianer zu erringen, schließlich eine neue Heimat bei ihnen zu finden. Als Wichtigste unter seinen Sympathisanten erweist sich Paula, eine gebürtige Deutsche, die aber Sizilien innig liebt, Benjamin ebenso innig lieben lernt und ihm beibringt, all die wunderbare Zuneigung aus tiefstem Herzen zu erwidern. So wird ihm der größte Triumph zuteil, den er sich als Kind hätte wünschen können, wäre er damals schon reif genug gewesen, solche Wünsche auszudenken: Ein ganzes Inselvolk zollt ihm Anerkennung, sieht in ihm einen Helden der Wissenschaft und der menschlichen Beziehungen, hilft ihm, alles auszuradieren, was auf den ersten Seiten seiner Lebensgeschichte je gestört hat. Er braucht nicht einmal mehr die Begegnung mit den Brüdern, um seinen wundersamen Sieg über sie zu genießen.
Übrigens kommen die, wenn es so weit ist, auch gar nicht mehr vor. Und das lässt uns noch einmal nachdenken über die Position des Romanhelden: Wenn die Brüder einen so fatalen Einfluss auf den Jüngsten ausübten, reicht es dann, sich ihnen geographisch zu entziehen? Bedeutet das etwa, dass Benjamin die Begegnung mit ihnen nach wie vor scheut, sich einem realen Geltungsstreit nicht stellen möchte? Die Leute, unter denen er künftig daheim sein wird, sehen ja eine ganz andere Persönlichkeit in ihm als die Gefährten seiner Jugend. Um diese Sizilianer zu überzeugen, bedarf es keiner Kämpfe, und solche Gewissheit ist natürlich verlockend. Die Frage ist nur, ob Benjamin Merz sich selbst glauben kann, ob er dort angelangt ist, wo er immer sein wollte, oder ob die Romanhandlung ihn am Ende wieder absetzt, wo sie ihn zu Beginn aufgriff.
SABINE BRANDT
Hanns-Josef Ortheil: "Das Kind, das nicht fragte". Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2012. 428 S., geb., 21,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sabine Brandt ist fasziniert von diesem Autor: Hanns-Josef Ortheil wuchs in einer Familie auf, die ihm das Sprechen denkbar schwer machte; der Mutter hatte der Tod einer ihrer Söhne buchstäblich die Sprache verschlagen, der Vater war ohnehin schweigsam, berichtet die Rezensentin. Als Kind galt Ortheil deshalb noch als Autist, jetzt ist er ein erfolgreicher Schriftsteller. Seine Bücher sind zumeist autobiografisch, weiß Brandt, und auch "Das Kind, das nicht fragte" scheint sich erneut an seinem eigenen Leben zu orientieren: auch Benjamin Merz hat "eine qualvoll stumme Kindheit" und sehnt sich nach gewöhnliche Lebensumständen, die sich ihm aber stets zu entziehen drohen. Trotzdem wird aus ihm später ein recht erfolgreicher Ethnologe und Lehrer, der dem Leser die eigene Geschichte ausbreitet, erklärt die Rezensentin. Dass die Brüder später im Roman keine Rolle mehr spielen, macht Brandt stutzig. Wie verlässlich waren Merz' Ausführungen über deren Unwesen, wie viel Glauben will man diesem Erzähler überhaupt schenken, fragt sie sich. Diese Brechungen machen Ortheils Buch zwar eventuell weniger biografisch, aber gewiss nicht weniger lesenswert, beteuert die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein italienischer Liebestraum und ein wunderbares Mittel gegen deutsche Winterdepressionen." Christel Freitag / NDR Kultur
"Eine liebevoll erzählte Geschichte über Familienhierarchien und falsch gestellte Lebensgleise, aber auch ein Roman über Neubeginn und Lebensfreude. Das macht das Buch sympathisch und lesenswert."