Jules Vallès, ein Anarchist und Bohemian, widmete seinen Roman Das Kind all jenen, »die in der Schule vor Langeweile umkamen oder zu Haus weinten, die in der Kindheit von ihren Lehrern tyrannisiert oder von ihren Eltern verprügelt wurden«.Erzählt wird darin die durchaus autobiografische Geschichte eines kleinen Jungen, der von seiner Bauernmutter und seinem Lehrervater ständig zum Sündenbock gemacht und emotional und körperlich missbraucht wird. Sein größtes Anliegen ist es jedoch, den sozialen Status der Familie zu verbessern. Allen geschilderten sozialen Abgründen und menschlichen Bösartigkeiten zum Trotz ist Das Kind doch voller Ironie und Humor, gilt vielen gar als eines der witzigsten Bücher der französischen Literatur überhaupt, und wirkt dabei so modern, als sei es aus dem Herzen der Gegenwart geschrieben.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Schriftsteller Jochen Schimmang freut sich in seiner Besprechung sehr, dass Jacques Vallès' naturalistischer Klassiker wiederaufgelegt wird. Der Kommunarde und Herausgeber des "Cri du peuple" erzählt in seiner Trilogie mit knirschenden Zähnen die autobiografisch grundierte Geschichte des Jungen Jacques Vingtras, der in der Provinz als Sohn eines Lehrers und einer Bauerntochter aufwächst, die in ihrem gesellschaftlichen Aufstiegsehrgeiz immer wieder scheitere. Hochkomisch sei diese episodisch erzählte Geschichte, aber stellenweise auch todtraurig, versichert Schimmang, den besonders berührt, dass Vallès seinen Roman allen widmet, die in der Schule vor Langeweile umgekommen und zu Hause von ihren Eltern verprügelt worden seien. Christa Hunscha hat das Werk bereits 1979 übersetzt, bemerkt der Rezensent noch erstaunt, ihre Arbeit ist kein bisschen gealtert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.04.2022Nicht nur Zähneknirschen bei Demütigungen
Ein Klassiker des französischen Naturalismus ist bald wieder auf Deutsch zu haben: Der erste Band der Romantrilogie "Jacques Vingtras" von Jules Vallès ist schon da
Als der Sarg von Jules Vallès am 16. Februar 1885 aus dem Haus getragen wurde, warteten davor etwa zehntausend Menschen, die ihm anschließend das letzte Geleit gaben. Der Autor, nach der Niederschlagung der Pariser Kommune 1871 vor dem Todesurteil ins englische Exil geflohen, aus dem er erst 1880 nach einer Amnestie zurückkehren konnte, zählt in Frankreich zum literarischen Kanon und gilt als führender Vertreter des Naturalismus. Zu seinen Bewunderern (und Konkurrenten) gehörte Émile Zola. Vallès selbst war solchen Zuordnungen und der akademischen Analyse seiner Arbeit gegenüber jedoch gleichgültig: "Ich packe Fetzen meines Lebens und nähe sie mit dem anderer zusammen. Wenn ich Lust habe, so lache ich, wenn demütigende Erinnerungen mir durch Mark und Bein fahren, so knirsche ich mit den Zähnen."
Allerdings gehört dazu auch ein souveräner Umgang mit Ironie, Distanznahme und vorgeblich kindlicher Naivität: "Meine Mutter sagt, man soll Kinder nicht verwöhnen, und sie verprügelt mich jeden Morgen; wenn sie morgens keine Zeit hat, bleibt es bis mittags, selten später als vier Uhr. Fräulein Balandreau macht Salbe drauf."
Jules Vallès hat den ersten, 1879 erschienenen Band seiner Trilogie "Jacques Vingtras" allen gewidmet, "die in der Schule vor Langeweile umkamen oder zu Haus weinten, die in der Kindheit von ihren Lehrern tyrannisiert oder von ihren Eltern verprügelt wurden". Das Kind namens Jacques Vingtras, das hier erzählt - und wie! -, ist die Leibesfrucht eines Grundschullehrers, der sich in ein ungebildetes Bauernmädchen verliebt hatte, das nach der Heirat seinen gesellschaftlichen Ehrgeiz zu verwirklichen trachtet, was auf zum Teil hochkomische Weise misslingt. Überhaupt gilt dieser Roman nicht zu Unrecht als einer der komischsten der französischen Literatur. Todtraurig ist er stellenweise auch.
Das Ganze beginnt in Puy-en-Velay im Département Haute Loire und wird unter der Kapitelüberschrift "Die Befreiung" schließlich in Paris enden. Es handelt sich um eine klassische Coming-of-Age-Geschichte. Dass die Orte und Daten dieses Romans mit denen ihres Autors übereinstimmen und das Buch also durchaus "autofiktional" ist, tut wenig zur Sache, weil es sich hier vor allem um gelungene Literatur handelt. Man weiß, wie unendlich schwer es ist, eine Geschichte wirklich glaubhaft aus der Perspektive eines Kindes (und später Heranwachsenden) zu erzählen. Daran sind manche gescheitert, Vallès nicht.
Das liegt zum einen daran, dass er hier keinen klassischen Entwicklungsroman schreibt, sondern eine Abfolge von höchst lebendigen Szenen auf die Bühne bringt und so nach und nach Bilder der Provinz(en) und der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sein Held aufwächst, entfaltet. Zum anderen kommt Vallès seine außerordentlich sinnliche Schilderungskraft zugute, die auch die Klaviatur der verschiedenen Redeweisen souverän beherrscht. An dieser Stelle ist von dem eher seltenen Fall einer Übersetzung zu berichten, die nicht gealtert ist. Die deutsche Version der viel zu früh gestorbenen Christa Hunscha, die erstmals 1979 bei Zweitausendeins erschien, hat mehr als vierzig Jahre später nicht die geringste Patina angesetzt.
Jacques, dessen Mutter ihre Liebe vorrangig durch Prügel ausdrückt, ist schon früh empfänglich für die erotischen Reize anderer Frauen aus der Nachbarschaft oder der weiteren Verwandtschaft, die ihm jene Wärme geben, die seine eigene Mutter verweigert. Etwa die Cousine Apollonie, genannt Polonie: "Liebe Cousine! Lang und träge, mit hellblauen Augen und Schultern wie Schnee . . . Wenn sie sich anzieht, verschlinge ich sie mit den Augen - ich weiß nicht, warum -, und ich empfinde alles Mögliche, wenn ich zuschaue, wie sie mit den Zähnen ihr herunterfallendes Hemd festhält und es auf ihre runde Schulter zurückschiebt. Sie schläft manchmal in unserem kleinen Zimmer, damit sie die erste auf dem Markt ist, mit ihren Butterblöcken, die fest und weiß sind wie das gemodelte Fleisch ihrer Brüste. Um die Butter von Polonie reißen sich die Leute."
Die Szenenfolge führt von den Eltern und näheren Verwandten über die beiden Gymnasien, die Vingtras besucht und in denen er, angetrieben vom Ehrgeiz des Vaters, der de facto ein Gescheiterter ist, Latein und Griechisch lernt, und orientiert sich an den Umzügen der Familie. An die Stadt St. Étienne wird sich Jacques sehnsüchtig erinnern, sobald er im ihn tief enttäuschenden Nantes angekommen ist: "Kein Geräusch als das der Glocken, und auch während der Woche ist meine Traurigkeit unter diesem klaren Himmel schwerer als unter dem rauchigen Himmel von Saint-Ètienne. Ich liebte den Lärm der Förderwagen, die Nähe der Schmieden, das Feuer der Hochöfen, es gab eine Chronik der Grubenunglücke und der Bergarbeiteraufstände."
Bei manchen Szenen stockt dem Leser der Atem. Denn die Prügel, mit denen das Buch beginnt, werden bis zum Schluss ausgeteilt, und beileibe nicht nur von der Mutter des Jacques Vingtras. Kaum noch erträglich ist das Kapitel "Louisette", in dem auf wenigen Seiten erzählt wird, wie ein kleines Mädchen vom eigenen Vater systematisch zu Tode geprügelt wird. Hier knirscht Vallès nicht nur mit den Zähnen, hier fordert er die Guillotine für den straffrei Davonkommenden, im wahren Leben ein Schulfreund seines Vaters.
Der Erzähler selbst dagegen ist in dem Augenblick "befreit", als er stärker geworden ist als seine Eltern. Sein Weg führt ihn nach Paris, und Vallès hat in den beiden folgenden Bänden, "Die Bildung" und "Die Revolte", seinen Helden weiter begleitet. Der März Verlag wird erfreulicherweise in den kommenden Jahren auch diese beiden Bände wieder veröffentlichen. JOCHEN SCHIMMANG
Jules Vallès: "Jacques Vingtras". Roman. Bd. 1: Das Kind.
Aus dem Französischen und mit Anmerkungen von Christa Hunscha. März Verlag, Berlin 2022. 347 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Klassiker des französischen Naturalismus ist bald wieder auf Deutsch zu haben: Der erste Band der Romantrilogie "Jacques Vingtras" von Jules Vallès ist schon da
Als der Sarg von Jules Vallès am 16. Februar 1885 aus dem Haus getragen wurde, warteten davor etwa zehntausend Menschen, die ihm anschließend das letzte Geleit gaben. Der Autor, nach der Niederschlagung der Pariser Kommune 1871 vor dem Todesurteil ins englische Exil geflohen, aus dem er erst 1880 nach einer Amnestie zurückkehren konnte, zählt in Frankreich zum literarischen Kanon und gilt als führender Vertreter des Naturalismus. Zu seinen Bewunderern (und Konkurrenten) gehörte Émile Zola. Vallès selbst war solchen Zuordnungen und der akademischen Analyse seiner Arbeit gegenüber jedoch gleichgültig: "Ich packe Fetzen meines Lebens und nähe sie mit dem anderer zusammen. Wenn ich Lust habe, so lache ich, wenn demütigende Erinnerungen mir durch Mark und Bein fahren, so knirsche ich mit den Zähnen."
Allerdings gehört dazu auch ein souveräner Umgang mit Ironie, Distanznahme und vorgeblich kindlicher Naivität: "Meine Mutter sagt, man soll Kinder nicht verwöhnen, und sie verprügelt mich jeden Morgen; wenn sie morgens keine Zeit hat, bleibt es bis mittags, selten später als vier Uhr. Fräulein Balandreau macht Salbe drauf."
Jules Vallès hat den ersten, 1879 erschienenen Band seiner Trilogie "Jacques Vingtras" allen gewidmet, "die in der Schule vor Langeweile umkamen oder zu Haus weinten, die in der Kindheit von ihren Lehrern tyrannisiert oder von ihren Eltern verprügelt wurden". Das Kind namens Jacques Vingtras, das hier erzählt - und wie! -, ist die Leibesfrucht eines Grundschullehrers, der sich in ein ungebildetes Bauernmädchen verliebt hatte, das nach der Heirat seinen gesellschaftlichen Ehrgeiz zu verwirklichen trachtet, was auf zum Teil hochkomische Weise misslingt. Überhaupt gilt dieser Roman nicht zu Unrecht als einer der komischsten der französischen Literatur. Todtraurig ist er stellenweise auch.
Das Ganze beginnt in Puy-en-Velay im Département Haute Loire und wird unter der Kapitelüberschrift "Die Befreiung" schließlich in Paris enden. Es handelt sich um eine klassische Coming-of-Age-Geschichte. Dass die Orte und Daten dieses Romans mit denen ihres Autors übereinstimmen und das Buch also durchaus "autofiktional" ist, tut wenig zur Sache, weil es sich hier vor allem um gelungene Literatur handelt. Man weiß, wie unendlich schwer es ist, eine Geschichte wirklich glaubhaft aus der Perspektive eines Kindes (und später Heranwachsenden) zu erzählen. Daran sind manche gescheitert, Vallès nicht.
Das liegt zum einen daran, dass er hier keinen klassischen Entwicklungsroman schreibt, sondern eine Abfolge von höchst lebendigen Szenen auf die Bühne bringt und so nach und nach Bilder der Provinz(en) und der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sein Held aufwächst, entfaltet. Zum anderen kommt Vallès seine außerordentlich sinnliche Schilderungskraft zugute, die auch die Klaviatur der verschiedenen Redeweisen souverän beherrscht. An dieser Stelle ist von dem eher seltenen Fall einer Übersetzung zu berichten, die nicht gealtert ist. Die deutsche Version der viel zu früh gestorbenen Christa Hunscha, die erstmals 1979 bei Zweitausendeins erschien, hat mehr als vierzig Jahre später nicht die geringste Patina angesetzt.
Jacques, dessen Mutter ihre Liebe vorrangig durch Prügel ausdrückt, ist schon früh empfänglich für die erotischen Reize anderer Frauen aus der Nachbarschaft oder der weiteren Verwandtschaft, die ihm jene Wärme geben, die seine eigene Mutter verweigert. Etwa die Cousine Apollonie, genannt Polonie: "Liebe Cousine! Lang und träge, mit hellblauen Augen und Schultern wie Schnee . . . Wenn sie sich anzieht, verschlinge ich sie mit den Augen - ich weiß nicht, warum -, und ich empfinde alles Mögliche, wenn ich zuschaue, wie sie mit den Zähnen ihr herunterfallendes Hemd festhält und es auf ihre runde Schulter zurückschiebt. Sie schläft manchmal in unserem kleinen Zimmer, damit sie die erste auf dem Markt ist, mit ihren Butterblöcken, die fest und weiß sind wie das gemodelte Fleisch ihrer Brüste. Um die Butter von Polonie reißen sich die Leute."
Die Szenenfolge führt von den Eltern und näheren Verwandten über die beiden Gymnasien, die Vingtras besucht und in denen er, angetrieben vom Ehrgeiz des Vaters, der de facto ein Gescheiterter ist, Latein und Griechisch lernt, und orientiert sich an den Umzügen der Familie. An die Stadt St. Étienne wird sich Jacques sehnsüchtig erinnern, sobald er im ihn tief enttäuschenden Nantes angekommen ist: "Kein Geräusch als das der Glocken, und auch während der Woche ist meine Traurigkeit unter diesem klaren Himmel schwerer als unter dem rauchigen Himmel von Saint-Ètienne. Ich liebte den Lärm der Förderwagen, die Nähe der Schmieden, das Feuer der Hochöfen, es gab eine Chronik der Grubenunglücke und der Bergarbeiteraufstände."
Bei manchen Szenen stockt dem Leser der Atem. Denn die Prügel, mit denen das Buch beginnt, werden bis zum Schluss ausgeteilt, und beileibe nicht nur von der Mutter des Jacques Vingtras. Kaum noch erträglich ist das Kapitel "Louisette", in dem auf wenigen Seiten erzählt wird, wie ein kleines Mädchen vom eigenen Vater systematisch zu Tode geprügelt wird. Hier knirscht Vallès nicht nur mit den Zähnen, hier fordert er die Guillotine für den straffrei Davonkommenden, im wahren Leben ein Schulfreund seines Vaters.
Der Erzähler selbst dagegen ist in dem Augenblick "befreit", als er stärker geworden ist als seine Eltern. Sein Weg führt ihn nach Paris, und Vallès hat in den beiden folgenden Bänden, "Die Bildung" und "Die Revolte", seinen Helden weiter begleitet. Der März Verlag wird erfreulicherweise in den kommenden Jahren auch diese beiden Bände wieder veröffentlichen. JOCHEN SCHIMMANG
Jules Vallès: "Jacques Vingtras". Roman. Bd. 1: Das Kind.
Aus dem Französischen und mit Anmerkungen von Christa Hunscha. März Verlag, Berlin 2022. 347 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Dieser Roman gilt nicht zu Unrecht als einer der komischsten der französischen Literatur. Todtraurig ist er stellenweise auch.« Jochen Schimmang Frankfurter Allgemeine Zeitung