Durch die Enteignungen nach dem Zweiten Weltkrieg hat die als "bourgeois" verfemte Familie des jungen Fabrikantensohns Clemens aus Schäßburg/Sigishoara in Siebenbürgen alles verloren: Der Vater ist im Gefängnis, die Mutter verschollen, Clemens arbeitet in einer Porzellanfabrik und besucht die Abendschule. Als er der Rumänin Rodica begegnet, sprengt die Liebe alle Grenzen. Doch findet er aus seiner sächsischen Bürgerlichkeit oder siegt die Tradition über das Gefühl?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005Nirgendwo ist Gnadenflor
Ein Panorama aus Miniaturen: Eginald Schlattner bewahrt Siebenbürgen / Von Wolfgang Schneider
Die Geschichte der Siebenbürger Sachsen, die vor achthundertfünfzig Jahren begann, nähert sich ihrem Ende. Eginald Schlattner ist ihr Chronist. Der finale Exodus seiner Kultur, der 1990 einsetzte, brachte ihn zum Schreiben. Sein gefeiertes Romandebüt "Der geköpfte Hahn" (1998) spielt im Sommer 1944, als das mit Hitler verbündete Rumänien im Weltkrieg die Seiten wechselte - ein fatales Datum für die Siebenbürger. In "Rote Handschuhe" (2001) hat Schlattner ein bitteres Kapitel seines eigenen Lebens verarbeitet: 1957 wurde der Vierundzwanzigjährige wegen "Nichtanzeige von Hochverrat" inhaftiert und von der Securitate auf der Folter weichgekocht, bis er in einem Kronstädter Schauprozeß eine Gruppe junger Schriftsteller und sogar seinen eigenen Bruder verriet. Sie wurden zu langjähriger Zwangs- und Lagerarbeit verurteilt.
Seitdem ist Schlattners Leben von Schuld überschattet. Aus dem Gefängnis entlassen, geächtet von Freunden, lebte er als Hilfsarbeiter und studierte schließlich noch einmal Theologie, um als Dorf- und Gefängnispfarrer zu wirken - eine Form der Wiedergutmachung. Wie wohl auch seine Literatur, die zum Eigenwilligsten und Bemerkenswertesten gehört, was in diesen Jahren in deutscher Sprache entstanden ist.
Jetzt hat Schlattner den dritten Band seiner Siebenbürgen-Trilogie vorgelegt, zeitlich das Mittelstück. "Das Klavier im Nebel" stellt die Nachkriegsjahre dar, die Epoche der Enteignung und Kollektivierung. Clemens Rescher heißt die jugendliche Hauptfigur, die sich buchstäblich aus dem Haus ihres Seins geworfen sieht. Sein Vater ist ein Schäßburger Sonnenblumenölhersteller; zuvor schon zur Zwangsarbeit nach Rußland verschleppt, sitzt er nun im Gefängnis. Als die Delegierten der Staatsmacht kamen, um die Schlüssel des frisch verstaatlichten Betriebes in Empfang zu nehmen, verhielt er sich cholerisch und ungefügig.
Auch die Familienvilla muß geräumt werden. Clemens' Mutter ist wie eine Diva aus ihrem Leben herausstolziert - irgendwo an der Küste des Schwarzen Meeres soll sie nun in einer Fabrik Fische sortieren. Seine zigarillorauchende Großmutter, die sich am ehesten auf die Kunst des stilvollen Verarmens versteht, zelebriert ihre Teestunde nun auf einem öffentlichen Platz, was der Partei nicht behagt. Und Clemens selbst? Grandiose Passagen beschreiben, wie der zum Habenichts gewordene Bürgersohn sein Leben als Eremit fristet, sich eine Hütte aus Moos und Laub baut und unter fachkundiger Anleitung eines Hirten aus allen verfügbaren Kräutern Suppe kocht. Eine merkwürdigere bukolische Idylle ist nicht denkbar.
Der Kommunismus als dezidierte Theorie der industriellen Moderne bricht ein in die ländliche, von uralten Traditionen geprägte Welt der Siebenbürger. Schon dieses Mißverhältnis tendiert zur Groteske. Die weltanschauliche Lufthoheit geht vom Dorfpfarrer unmittelbar zur örtlichen Parteischranze über; Großmütterweisheit und Lehren des Stalinismus geraten hart aneinander. Die Partei kann mit dem durch die Bodenreformen entstehenden Landproletariat nichts anfangen, weil es in den heiligen Schriften von Marx und Lenin nicht vorkommt.
Die Verhältnisse sind jedenfalls zum Tanzen gebracht: Gymnasien werden umfunktioniert zu Hebammenschulen oder Stätten der Polizeihund-Ausbildung. Ehemalige Dienstmägde versuchen sich im Kommandogeben. Proletarier werden zu Politoffizieren, und Ärzte arbeiten als ihre Chauffeure. Gelernt werden muß die Kunst des Klatschens bei Parteiveranstaltungen, richtig instrumentiert nach Anlaß und Person. Das Landvolk aber klatscht so ungestüm, daß das Stalin-Bild an der Wand aus dem Rahmen rutscht und darunter das Konterfei des Königs zum Vorschein kommt. Der "Verantwortliche" kann sich auf ein Leben in den Steinbrüchen gefaßt machen.
Die Menschen versuchen mit Verzweiflung und Witz ihren Platz in den absurden Verhältnissen zu finden. Clemens denkt an ein anständiges Arbeiterleben mit einfachen Bedürfnissen und einfachen Freuden. Die Partei verschafft ihm eine Stelle als Tagelöhner in der Ziegelfabrik; später steigt er auf in die Porzellanherstellung.
Durch den Roman zieht sich das Leitmotiv des Klaviers, das für die bürgerliche Kultur im allgemeinen steht. Auch die Instrumente erleben in jenen Jahren harte Schicksale; sie werden aus den Wohnungen entfernt, in Schuppen, Scheunen und Ställen gelagert, wo sie dann bestenfalls zu ungeahnten Einsatzmöglichkeiten kommen. Auf der Staatsfarm "Roter Stier" etwa wollen die bisher individualistisch von ihren Bauern gehätschelten Kühe unter den Bedingungen der Kollektivierung keine Milch mehr geben. Erst als man den Tieren Mozart vorspielt, läuft es wieder.
Die bukolische Siebenbürger Natur ist der Widerpart des gesellschaftlichen Blödsinns: Kartoffeläcker, Wiesen, Wälder, Sonnenblumenfelder. Es ist eine Natur, die nicht in passagenweisen Naturschilderungen erzählerisch entsorgt wird, sondern allgegenwärtig ist und die Menschenwelt durchdringt: "Man lagerte im grünen Gras und kaute an Akazienblüten, sog den Honig aus den Dolden. Das stillte nicht nur den Hunger, sondern schmeckte auch köstlich."
Köstlich könnte auch die Liebe sein, wenn Clemens' Verhältnisse mit Frauen nicht so merkwürdig unschlüssig blieben. Das gilt für Petra, die resolute Proletariertochter, ebenso wie für Isabella, das Bürgermädchen. Auch das Verhältnis mit der schönen Zigeunerin Carmencita endet abrupt. Schließlich tritt ein Mädchen mit großartigem Namen auf den Plan: Rodica Ingrid Melania Augusta Neagoie. Clemens reist mit ihr quer durchs Land, von einem Verwandten zum nächsten. Gelegentlich übernachtet man in Ställen, wo die Tiere für Gemütlichkeit sorgen: "Kackte die Kuh, spritzte es nicht nur bis zum Bett, es erfüllte auch ein Stoß von Wärme die Kate." Lange scheint es, als wäre diese Liebe der tragende Pfeiler des Romans - da endet sie auf Seite 352 unvermittelt und nicht ganz nachvollziehbar mit einem gewaltigen Blumenstrauß.
Bei allem historischen Übel, das er zu berichten hat, liebt Schlattner doch das Schräge, Skurrile und Burleske; er zeichnet die multikulturelle Welt der Rumänen, Ungarn, Deutschen, Juden und Zigeuner mit seinem höchsteigenen magischen Realismus. Die Sprache ist anschaulich und kraftvoll, rhythmisiert durch einen knappen Duktus. Jeder Satz ist gesättigt mit Konkretion, vertraut mit Dingen und Gewächsen, handwerklichem Wissen und herkömmlichen Gebräuchen. Dazu kommen rumänische Floskeln, die für ethnisches Kolorit sorgen. Manches bleibt haften, wie jenes "strictu necesul", Leitmotiv der Vertreibungen: Stets nur das "Allernötigste" dürfen die Menschen als Handgepäck mitnehmen.
Schlattners literarisches Gedächtnis nimmt sich wie ein unerschöpflicher Ziehbrunnen aus. Ein randvoll schwappender Eimer nach dem anderen wird heraufgeholt. So viel Welthaltigkeit mit Geräuschen, Gerüchen, Farben und Formen war lange nicht in deutschen Romanen. Fast muß man sagen: Es ist zuviel. Schwer, bei der Episodenfülle den Überblick zu behalten; der schier endlose Reigen pittoresker Figuren überfordert auf Dauer den neugierigsten Menschenfreund. Während etwa in den Romanen Thomas Manns, die Schlattner bewundert, eine für die Orientierung hilfreiche Hierarchie stets gewahrt bleibt, zeichnet Schlattner sein reichhaltiges Personal überwiegend aus derselben mittleren Distanz des anekdotischen Erzählens. Sehr viel Sprachkunst ist in diesem Buch, aber leider etwas zuwenig Struktur. "Das Klavier im Nebel" wirkt wie ein phantastisch fabuliertes Werk und ist doch offenbar so tatsachentreu, daß es sich einem romanhaften Handlungsbogen verweigert. Es ist ein gewaltiges Panorama aus lauter Miniaturen.
Die beiden vorhergehenden Bände der Siebenbürgen-Trilogie fanden in der autobiographischen Ich-Form mehr Zusammenhalt. Nun arbeitet Schlattner mit einer Hauptfigur in der dritten Person. Auch dadurch erscheint das Geschehen dezentrierter; die auktoriale Erzählperspektive kann nicht dieselbe Einheit verbürgen wie ein Ich-Erzähler, dessen Anwesenheit schon aus Gründen der Narrationstechnik in jeder Szene notwendig ist.
Nicht ein einzelner, keine Familie und kein Liebespaar, sondern eine ganze Menschengemeinschaft ist Held dieses Buches. Es mündet in einer ergreifenden Deportationsszene: Das Dorf Gnadenflor wird kurz nach der Ernte von Soldaten und Securitate umstellt. Über Nacht haben sich alle Bewohner zur Umsiedlung in die Donausteppe bereitzumachen. Am nächsten Morgen werden sie mit Handgepäck und Hausrat in Viehwaggons verfrachtet. Dramatische Szenen beim Abschied von der Heimat; nur ein Klavier bleibt auf dem Bahnsteig zurück.
Eginald Schlattners Trilogie ist ein Archiv, das die Lebenskultur einer Welt aufbewahrt; ihre Mischung von Schönem und Schrecklichem ist bisweilen atemberaubend. Die Poetik des Autors läßt sich auf einen Satz bringen: "Geschichte trennt, aber Geschichten, die schaffen Nähe."
Eginald Schlattner: "Das Klavier im Nebel". Roman. Zsolnay Verlag, Wien 2005. 526 S., geb., 24,90 [Euro].
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Ein Panorama aus Miniaturen: Eginald Schlattner bewahrt Siebenbürgen / Von Wolfgang Schneider
Die Geschichte der Siebenbürger Sachsen, die vor achthundertfünfzig Jahren begann, nähert sich ihrem Ende. Eginald Schlattner ist ihr Chronist. Der finale Exodus seiner Kultur, der 1990 einsetzte, brachte ihn zum Schreiben. Sein gefeiertes Romandebüt "Der geköpfte Hahn" (1998) spielt im Sommer 1944, als das mit Hitler verbündete Rumänien im Weltkrieg die Seiten wechselte - ein fatales Datum für die Siebenbürger. In "Rote Handschuhe" (2001) hat Schlattner ein bitteres Kapitel seines eigenen Lebens verarbeitet: 1957 wurde der Vierundzwanzigjährige wegen "Nichtanzeige von Hochverrat" inhaftiert und von der Securitate auf der Folter weichgekocht, bis er in einem Kronstädter Schauprozeß eine Gruppe junger Schriftsteller und sogar seinen eigenen Bruder verriet. Sie wurden zu langjähriger Zwangs- und Lagerarbeit verurteilt.
Seitdem ist Schlattners Leben von Schuld überschattet. Aus dem Gefängnis entlassen, geächtet von Freunden, lebte er als Hilfsarbeiter und studierte schließlich noch einmal Theologie, um als Dorf- und Gefängnispfarrer zu wirken - eine Form der Wiedergutmachung. Wie wohl auch seine Literatur, die zum Eigenwilligsten und Bemerkenswertesten gehört, was in diesen Jahren in deutscher Sprache entstanden ist.
Jetzt hat Schlattner den dritten Band seiner Siebenbürgen-Trilogie vorgelegt, zeitlich das Mittelstück. "Das Klavier im Nebel" stellt die Nachkriegsjahre dar, die Epoche der Enteignung und Kollektivierung. Clemens Rescher heißt die jugendliche Hauptfigur, die sich buchstäblich aus dem Haus ihres Seins geworfen sieht. Sein Vater ist ein Schäßburger Sonnenblumenölhersteller; zuvor schon zur Zwangsarbeit nach Rußland verschleppt, sitzt er nun im Gefängnis. Als die Delegierten der Staatsmacht kamen, um die Schlüssel des frisch verstaatlichten Betriebes in Empfang zu nehmen, verhielt er sich cholerisch und ungefügig.
Auch die Familienvilla muß geräumt werden. Clemens' Mutter ist wie eine Diva aus ihrem Leben herausstolziert - irgendwo an der Küste des Schwarzen Meeres soll sie nun in einer Fabrik Fische sortieren. Seine zigarillorauchende Großmutter, die sich am ehesten auf die Kunst des stilvollen Verarmens versteht, zelebriert ihre Teestunde nun auf einem öffentlichen Platz, was der Partei nicht behagt. Und Clemens selbst? Grandiose Passagen beschreiben, wie der zum Habenichts gewordene Bürgersohn sein Leben als Eremit fristet, sich eine Hütte aus Moos und Laub baut und unter fachkundiger Anleitung eines Hirten aus allen verfügbaren Kräutern Suppe kocht. Eine merkwürdigere bukolische Idylle ist nicht denkbar.
Der Kommunismus als dezidierte Theorie der industriellen Moderne bricht ein in die ländliche, von uralten Traditionen geprägte Welt der Siebenbürger. Schon dieses Mißverhältnis tendiert zur Groteske. Die weltanschauliche Lufthoheit geht vom Dorfpfarrer unmittelbar zur örtlichen Parteischranze über; Großmütterweisheit und Lehren des Stalinismus geraten hart aneinander. Die Partei kann mit dem durch die Bodenreformen entstehenden Landproletariat nichts anfangen, weil es in den heiligen Schriften von Marx und Lenin nicht vorkommt.
Die Verhältnisse sind jedenfalls zum Tanzen gebracht: Gymnasien werden umfunktioniert zu Hebammenschulen oder Stätten der Polizeihund-Ausbildung. Ehemalige Dienstmägde versuchen sich im Kommandogeben. Proletarier werden zu Politoffizieren, und Ärzte arbeiten als ihre Chauffeure. Gelernt werden muß die Kunst des Klatschens bei Parteiveranstaltungen, richtig instrumentiert nach Anlaß und Person. Das Landvolk aber klatscht so ungestüm, daß das Stalin-Bild an der Wand aus dem Rahmen rutscht und darunter das Konterfei des Königs zum Vorschein kommt. Der "Verantwortliche" kann sich auf ein Leben in den Steinbrüchen gefaßt machen.
Die Menschen versuchen mit Verzweiflung und Witz ihren Platz in den absurden Verhältnissen zu finden. Clemens denkt an ein anständiges Arbeiterleben mit einfachen Bedürfnissen und einfachen Freuden. Die Partei verschafft ihm eine Stelle als Tagelöhner in der Ziegelfabrik; später steigt er auf in die Porzellanherstellung.
Durch den Roman zieht sich das Leitmotiv des Klaviers, das für die bürgerliche Kultur im allgemeinen steht. Auch die Instrumente erleben in jenen Jahren harte Schicksale; sie werden aus den Wohnungen entfernt, in Schuppen, Scheunen und Ställen gelagert, wo sie dann bestenfalls zu ungeahnten Einsatzmöglichkeiten kommen. Auf der Staatsfarm "Roter Stier" etwa wollen die bisher individualistisch von ihren Bauern gehätschelten Kühe unter den Bedingungen der Kollektivierung keine Milch mehr geben. Erst als man den Tieren Mozart vorspielt, läuft es wieder.
Die bukolische Siebenbürger Natur ist der Widerpart des gesellschaftlichen Blödsinns: Kartoffeläcker, Wiesen, Wälder, Sonnenblumenfelder. Es ist eine Natur, die nicht in passagenweisen Naturschilderungen erzählerisch entsorgt wird, sondern allgegenwärtig ist und die Menschenwelt durchdringt: "Man lagerte im grünen Gras und kaute an Akazienblüten, sog den Honig aus den Dolden. Das stillte nicht nur den Hunger, sondern schmeckte auch köstlich."
Köstlich könnte auch die Liebe sein, wenn Clemens' Verhältnisse mit Frauen nicht so merkwürdig unschlüssig blieben. Das gilt für Petra, die resolute Proletariertochter, ebenso wie für Isabella, das Bürgermädchen. Auch das Verhältnis mit der schönen Zigeunerin Carmencita endet abrupt. Schließlich tritt ein Mädchen mit großartigem Namen auf den Plan: Rodica Ingrid Melania Augusta Neagoie. Clemens reist mit ihr quer durchs Land, von einem Verwandten zum nächsten. Gelegentlich übernachtet man in Ställen, wo die Tiere für Gemütlichkeit sorgen: "Kackte die Kuh, spritzte es nicht nur bis zum Bett, es erfüllte auch ein Stoß von Wärme die Kate." Lange scheint es, als wäre diese Liebe der tragende Pfeiler des Romans - da endet sie auf Seite 352 unvermittelt und nicht ganz nachvollziehbar mit einem gewaltigen Blumenstrauß.
Bei allem historischen Übel, das er zu berichten hat, liebt Schlattner doch das Schräge, Skurrile und Burleske; er zeichnet die multikulturelle Welt der Rumänen, Ungarn, Deutschen, Juden und Zigeuner mit seinem höchsteigenen magischen Realismus. Die Sprache ist anschaulich und kraftvoll, rhythmisiert durch einen knappen Duktus. Jeder Satz ist gesättigt mit Konkretion, vertraut mit Dingen und Gewächsen, handwerklichem Wissen und herkömmlichen Gebräuchen. Dazu kommen rumänische Floskeln, die für ethnisches Kolorit sorgen. Manches bleibt haften, wie jenes "strictu necesul", Leitmotiv der Vertreibungen: Stets nur das "Allernötigste" dürfen die Menschen als Handgepäck mitnehmen.
Schlattners literarisches Gedächtnis nimmt sich wie ein unerschöpflicher Ziehbrunnen aus. Ein randvoll schwappender Eimer nach dem anderen wird heraufgeholt. So viel Welthaltigkeit mit Geräuschen, Gerüchen, Farben und Formen war lange nicht in deutschen Romanen. Fast muß man sagen: Es ist zuviel. Schwer, bei der Episodenfülle den Überblick zu behalten; der schier endlose Reigen pittoresker Figuren überfordert auf Dauer den neugierigsten Menschenfreund. Während etwa in den Romanen Thomas Manns, die Schlattner bewundert, eine für die Orientierung hilfreiche Hierarchie stets gewahrt bleibt, zeichnet Schlattner sein reichhaltiges Personal überwiegend aus derselben mittleren Distanz des anekdotischen Erzählens. Sehr viel Sprachkunst ist in diesem Buch, aber leider etwas zuwenig Struktur. "Das Klavier im Nebel" wirkt wie ein phantastisch fabuliertes Werk und ist doch offenbar so tatsachentreu, daß es sich einem romanhaften Handlungsbogen verweigert. Es ist ein gewaltiges Panorama aus lauter Miniaturen.
Die beiden vorhergehenden Bände der Siebenbürgen-Trilogie fanden in der autobiographischen Ich-Form mehr Zusammenhalt. Nun arbeitet Schlattner mit einer Hauptfigur in der dritten Person. Auch dadurch erscheint das Geschehen dezentrierter; die auktoriale Erzählperspektive kann nicht dieselbe Einheit verbürgen wie ein Ich-Erzähler, dessen Anwesenheit schon aus Gründen der Narrationstechnik in jeder Szene notwendig ist.
Nicht ein einzelner, keine Familie und kein Liebespaar, sondern eine ganze Menschengemeinschaft ist Held dieses Buches. Es mündet in einer ergreifenden Deportationsszene: Das Dorf Gnadenflor wird kurz nach der Ernte von Soldaten und Securitate umstellt. Über Nacht haben sich alle Bewohner zur Umsiedlung in die Donausteppe bereitzumachen. Am nächsten Morgen werden sie mit Handgepäck und Hausrat in Viehwaggons verfrachtet. Dramatische Szenen beim Abschied von der Heimat; nur ein Klavier bleibt auf dem Bahnsteig zurück.
Eginald Schlattners Trilogie ist ein Archiv, das die Lebenskultur einer Welt aufbewahrt; ihre Mischung von Schönem und Schrecklichem ist bisweilen atemberaubend. Die Poetik des Autors läßt sich auf einen Satz bringen: "Geschichte trennt, aber Geschichten, die schaffen Nähe."
Eginald Schlattner: "Das Klavier im Nebel". Roman. Zsolnay Verlag, Wien 2005. 526 S., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als "Archiv, das die Lebenskultur einer Welt aufbewahrt" hat Rezensent Wolfgang Schneider den dritten Band der Roman-Trilogie über die Geschichte der Siebenbürger-Sachsen gelesen. Der vorliegende Band ist Schneider zufolge eigentlich das Mittelstück der Trilogie und handelt von den Jahren nach 1945, der Epoche von Enteignung und Kollektivierung. Als Leitmotiv zieht sich aus Sicht des Rezensenten das Motiv des Klaviers als Symbol für die bürgerliche Kultur durch den Roman. Viel historisches Übel werde darin geschildert. Auch zeichne Eginald Schlattner die multikulturelle Welt aus Rumänen, Ungarn, Juden, Deutschen und Zigeunern nach. Dabei liebe dieser Autor besonders das "Schräge, Skurrile und Burleske". Insgesamt nimmt sich Schnatters literarisches Gedächtnis für den Rezensenten wie ein unendlich tiefer Brunnen. Manchmal ist es ihm allerdings des Guten fast zuviel, und er bekennt Schwierigkeiten, im pittoresken Überfluss die Übersicht zu behalten. Doch kann Schneider die Sprachkunst Schlattners gar nicht hoch genug halten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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