Vom Globus zum Planeten! Der indische Historiker Dipesh Chakrabarty zählt zu den international einflussreichsten Wissenschaftlern, die sich in den letzten Jahren mit der Bedeutung des Klimawandels auseinandergesetzt haben. Der Klimawandel, so argumentiert er, stellt unsere althergebrachten Vorstellungen von Geschichte, Moderne und Globalisierung grundlegend in Frage. Die Aufgabe besteht daher darin, diese Konzepte auf den Prüfstand zu stellen und überhaupt die Geistes- und Sozialwissenschaften mit neuen Ideen und Begriffen zu versorgen, damit sie den Herausforderungen des Anthropozäns gewachsen sind.
In seinem Buch taucht Chakrabarty tief ein in Geschichte und Philosophie und stellt kühne Überlegungen darüber an, wie das menschliche Denken und Leben zukünftig zu gestalten ist. Insbesondere erklärt er, dass wir zu einem besseren Verständnis sowohl unserer Herkunft als auch unserer Zukunft nur dann gelangen, wenn wir in der Lage sind, uns selbst aus zwei Perspektiven gleichzeitig zu betrachten: einer globalen und einer planetarischen, wobei letztere den Menschen absichtlich dezentriert. Erst auf diese Weise wird es möglich, in geologischen Zeiträumen zu denken sowie ein angemessenes Bild von der menschlichen Handlungsfähigkeit zu gewinnen. Angesichts der drohenden Naturkatastrophen ist es dafür höchste Zeit.
In seinem Buch taucht Chakrabarty tief ein in Geschichte und Philosophie und stellt kühne Überlegungen darüber an, wie das menschliche Denken und Leben zukünftig zu gestalten ist. Insbesondere erklärt er, dass wir zu einem besseren Verständnis sowohl unserer Herkunft als auch unserer Zukunft nur dann gelangen, wenn wir in der Lage sind, uns selbst aus zwei Perspektiven gleichzeitig zu betrachten: einer globalen und einer planetarischen, wobei letztere den Menschen absichtlich dezentriert. Erst auf diese Weise wird es möglich, in geologischen Zeiträumen zu denken sowie ein angemessenes Bild von der menschlichen Handlungsfähigkeit zu gewinnen. Angesichts der drohenden Naturkatastrophen ist es dafür höchste Zeit.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Jens Balzer lernt in Dipesh Chakrabartys "Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter", die Rolle des Menschen auf der Erde besser zu verstehen. Der 1948 in Indien geborene und in den USA tätige Historiker stellt darin die These auf, dass der Klimawandel nicht aufzuhalten sein und fordert die LeserInnen dazu auf, ihre Perspektive auf die Rolle des Menschen auf der Erde radikal zu ändern - von einer humanistischen zu einer planetarischen, erklärt Balzer. Immerhin sei der Mensch nur Nebendarsteller auf dieser Welt. Was man jedoch wirklich umsetzen kann und soll, dazu findet der Rezensent leider keine Antworten, was ihn ratlos aber dennoch heiter-depressiv inspiriert zurücklässt. Das bewegt Balzer auf sonderbare, aber doch berührende Weise, resümiert er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.04.2022Geschichte wird gemacht
Die ökologischen Katastrophen zeigen, wie sehr der Planet Bedingung unseres Lebens ist: Dipesh Chakrabartys Buch über die geohistorische Zeitenwende
Am 17. Januar 2016 nahm sich Rohith Vemula, Doktorand an der University of Hyderabad, das Leben. In seinem Abschiedsbrief schrieb er vom Schicksal als Dalit („Unberührbarer“) in der indischen Gesellschaft. Er sei immer als Mitglied der niedrigsten Kaste wahrgenommen worden, nicht als geistiges Wesen, das sich letztendlich aus „Sternenstaub“ zusammensetze. Und das fast sieben Jahrzehnte nach der rechtlichen Aufhebung des Kastensystems. Der indische Historiker Dipesh Chakrabarty verwendet diesen Abschiedsbrief als ein Brennglas, um die großen Fragen der Gegenwart genauer in den Blick zu nehmen. Am Beispiel seiner Mutter, die – obgleich durchdrungen von den Idealen des modernen demokratischen Indiens – jeden Kontakt mit Dalits peinlichst vermied, zeigt er, wie Vorbewusstes unsere soziale Interaktion stärker prägt als Bewusstes. Die Ächtung des Dalit-Körpers sei nämlich nicht nur eine Form der sozialen Unterdrückung, sondern vor allem eine tief verwurzelte kollektive Verdrängung des Todes und der damit verbundenen Kreatürlichkeit des menschlichen Körpers. Er symbolisiere das, was viele Kulturen ausgrenzen: unsere unauflösbare Verflochtenheit mit dem Werden und Vergehen allen Lebens.
Diese Verflochtenheit zu erkennen und anzuerkennen, sei mittlerweile eine Überlebensfrage für die Menschheit geworden, schreibt Chakrabarty in seinem neuen Buch „Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter“. Der Doktorand Rohith Vemula wiederhole genau die Verdrängungen, aus denen er sich zu befreien versuche, wenn er Anerkennung als geistiges Wesen und „Sternenstaub“ einfordert. Wir müssten im Zeitalter einer dauerhaften biosphärischen Krise die Blickrichtung umkehren: Die Unberührbaren dürften nicht die entkörperlichten Leitvorstellungen der oberen Kasten und der westlichen Kulturen annehmen. Letztere müssten vielmehr verstehen, dass wir als Menschen immer auch auf nicht menschliches Leben angewiesen sind, mit dem uns eine lange Geschichte der Koevolution verbindet.
Chakrabarty sieht eine geohistorischen Zeitenwende. Die kollektive Wirkmacht demografischer und technologischer Entwicklungen in der Menschheitsgeschichte sowie deren enorme Intensivierung durch fossile Industrialisierung haben den Homo sapiens zu einem geologischen Akteur gemacht. Teil dieser vermeintlichen Erfolgsgeschichte war es, sich als geistiges Wesen aus „Sternenstaub“ zu betrachten und durch hohe Abstraktionsleistungen die Natur beherrschbarer zu machen.
Doch unsere „Erdentfremdung“, wie es Hannah Arendt nannte, unsere Begeisterung für die von uns geschaffenen künstlichen Welten, hat uns ignorant gemacht. Ignorant gegenüber unserer Leiblichkeit und unserer Erdhaftigkeit – oder im Jargon der Gegenwart gesprochen: gegenüber unserer biosphärischen Identität. Je mehr wir „die Erde im Streben nach dem weltlichen Gedeihen einer großen Zahl von Menschen ‚bearbeiten‘, desto häufiger begegnen wir dem Planeten“.
Der Begriff „Planet“ ist für Chakrabarty der Gegenbegriff zum „Globus“, also zur vernetzten Technosphäre, wie sie die Globalisierung des Kapitalismus geschaffen hat. Der Planet ist das, was zum Vorschein kommt, wenn wir die chemischen Makrozyklen und Erdsysteme so verändern, dass unsere eigenen Lebensbedingungen prekär werden. Der Planet ist unsere verdrängte biosphärische Identität – das, was wir unter unserer frenetischen Globalisierung verstecken. Die ökologischen Katastrophen des Globus zeigen, wie sehr der Planet die Bedingung unseres Lebens ist. Das klingt fast nach Heidegger.
Überhaupt ist es faszinierend zu sehen, mit welcher geistigen Wendigkeit der Postkolonialismus-Theoretiker Chakrabarty, der einst antrat, Europa zu „provinzialisieren“, gerade deutsche Denktraditionen befragt, um über unsere Geschichtlichkeit im Anthropozän nachzudenken. Das Ergebnis versteht er als Vorarbeit zu einer „philosophischen Anthropologie“ für unser „planetarisches Zeitalter“, das geprägt sei durch ein neues „Klima der Geschichte“: Wir könnten uns nicht mehr hinter den Fassaden der Menschengeschichte verstecken, sondern müssten uns darüber klar werden, dass wir Teil der Geschichte des Lebens und der Erdgeschichte sind. Die Großwetterlage für unser Geschichtsempfinden hat sich radikal verändert.
Das kränkt nun einerseits die narzisstische Vorstellung, dass sich menschliche Geschichte quasi außerhalb der Naturgeschichte vollziehe. Andererseits zwingt es uns zu der Erkenntnis, dass wir tief in die Geschichte des Lebens eingreifen, nicht zuletzt durch Artenausrottung und Klimawandel. Beide Punkte seien auch blinde Flecken in der marxistischen Kritik, so Chakrabarty. Diese bleibe anthropozentrisch und verweigere den Blick auf die Biosphäre als das, was sie ist: unsere unhintergehbare Lebensbedingung, die uns aber stets fremd und unverfügbar bleibe. Für ein Verständnis der Rolle, die der Kapitalismus bei der Beschleunigung der fossilen Industrialisierung spiele, sei die marxistische Kritik jedoch weiterhin unabdingbar.
Als entscheidende ethische Kategorie führt Chakrabarty hier das „Gedeihen“ (flourishing) ein. Unser politisches Denken im Anthropozän könne nicht mehr, wie im klassischen Utilitarismus, auf das größte Glück der größten Zahl oder, wie im aufklärerischen Humanismus, auf das mündige Individuum gegründet werden. Politik heute bedeute, „den Zusammenhang zwischen menschlichen und anderen Lebensformen und deren enge Verknüpfung mit den Erdsystemprozessen“ zu verstehen und zu vermitteln. Daraus ergebe sich als neues Ziel politischen Handelns die „Bewohnbarkeit“ (habitability) der Biosphäre für menschliches Leben.
Diese Bewohnbarkeit ist paradoxerweise jedoch an unsere Fähigkeit geknüpft, gerade auch nicht menschliches Leben zum Gegenstand der Sorge zu machen. Diese Perspektive ist auch eine Kritik am Mantra der Nachhaltigkeit, die ja immer nur auf die Perpetuierung bereits bestehender Strukturen abzielt. Wir sollten vielmehr schmerzhaft erkennen, wie sehr unsere Freiheitsideale mit diesen Strukturen verquickt sind – mit der rasant beschleunigten Verfeuerung fossiler Brennstoffe und ihren enkeluntauglichen Folgen.
Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine hat vielfältige Ursachen. Eine davon ist, dass er das fossile Zeitalter um jeden Preis verlängern möchte. Deutschland hat das Spiel aus Blindheit und Gier viel zu lange mitgespielt. Es gibt wenige Historiker, die die globalgeschichtlichen und postkolonialen Dimensionen des fossilen Wahns so feinsinnig zu reflektieren vermögen wie Chakrabarty. Sein neues Buch ist das Ergebnis von 15 Jahren intensiven Nachdenkens darüber, in welche Situation der Mensch im Anthropozän gestellt ist. Es bietet tiefe Einblicke, der tiefste ist allerdings auch der einfachste: Wir sind alle Dalit-Körper, nicht Brahmanen. Wenn wir es also nicht schaffen, das zu verstehen und unsere Kultur auf ein Miteinander mit anderen Geschöpfen auszurichten, wird sie scheitern.
BERNHARD MALKMUS
Wir könnten uns nicht mehr
hinter den Fassaden der
Menschengeschichte verstecken
Es gibt nur wenige, die die
Dimensionen des fossilen Wahns
so zu reflektieren vermögen
Dipesh Chakrabarty:
Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter. Aus dem Englischen von Christine Pries.
Suhrkamp, Berlin 2022.
445 Seiten, 32 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die ökologischen Katastrophen zeigen, wie sehr der Planet Bedingung unseres Lebens ist: Dipesh Chakrabartys Buch über die geohistorische Zeitenwende
Am 17. Januar 2016 nahm sich Rohith Vemula, Doktorand an der University of Hyderabad, das Leben. In seinem Abschiedsbrief schrieb er vom Schicksal als Dalit („Unberührbarer“) in der indischen Gesellschaft. Er sei immer als Mitglied der niedrigsten Kaste wahrgenommen worden, nicht als geistiges Wesen, das sich letztendlich aus „Sternenstaub“ zusammensetze. Und das fast sieben Jahrzehnte nach der rechtlichen Aufhebung des Kastensystems. Der indische Historiker Dipesh Chakrabarty verwendet diesen Abschiedsbrief als ein Brennglas, um die großen Fragen der Gegenwart genauer in den Blick zu nehmen. Am Beispiel seiner Mutter, die – obgleich durchdrungen von den Idealen des modernen demokratischen Indiens – jeden Kontakt mit Dalits peinlichst vermied, zeigt er, wie Vorbewusstes unsere soziale Interaktion stärker prägt als Bewusstes. Die Ächtung des Dalit-Körpers sei nämlich nicht nur eine Form der sozialen Unterdrückung, sondern vor allem eine tief verwurzelte kollektive Verdrängung des Todes und der damit verbundenen Kreatürlichkeit des menschlichen Körpers. Er symbolisiere das, was viele Kulturen ausgrenzen: unsere unauflösbare Verflochtenheit mit dem Werden und Vergehen allen Lebens.
Diese Verflochtenheit zu erkennen und anzuerkennen, sei mittlerweile eine Überlebensfrage für die Menschheit geworden, schreibt Chakrabarty in seinem neuen Buch „Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter“. Der Doktorand Rohith Vemula wiederhole genau die Verdrängungen, aus denen er sich zu befreien versuche, wenn er Anerkennung als geistiges Wesen und „Sternenstaub“ einfordert. Wir müssten im Zeitalter einer dauerhaften biosphärischen Krise die Blickrichtung umkehren: Die Unberührbaren dürften nicht die entkörperlichten Leitvorstellungen der oberen Kasten und der westlichen Kulturen annehmen. Letztere müssten vielmehr verstehen, dass wir als Menschen immer auch auf nicht menschliches Leben angewiesen sind, mit dem uns eine lange Geschichte der Koevolution verbindet.
Chakrabarty sieht eine geohistorischen Zeitenwende. Die kollektive Wirkmacht demografischer und technologischer Entwicklungen in der Menschheitsgeschichte sowie deren enorme Intensivierung durch fossile Industrialisierung haben den Homo sapiens zu einem geologischen Akteur gemacht. Teil dieser vermeintlichen Erfolgsgeschichte war es, sich als geistiges Wesen aus „Sternenstaub“ zu betrachten und durch hohe Abstraktionsleistungen die Natur beherrschbarer zu machen.
Doch unsere „Erdentfremdung“, wie es Hannah Arendt nannte, unsere Begeisterung für die von uns geschaffenen künstlichen Welten, hat uns ignorant gemacht. Ignorant gegenüber unserer Leiblichkeit und unserer Erdhaftigkeit – oder im Jargon der Gegenwart gesprochen: gegenüber unserer biosphärischen Identität. Je mehr wir „die Erde im Streben nach dem weltlichen Gedeihen einer großen Zahl von Menschen ‚bearbeiten‘, desto häufiger begegnen wir dem Planeten“.
Der Begriff „Planet“ ist für Chakrabarty der Gegenbegriff zum „Globus“, also zur vernetzten Technosphäre, wie sie die Globalisierung des Kapitalismus geschaffen hat. Der Planet ist das, was zum Vorschein kommt, wenn wir die chemischen Makrozyklen und Erdsysteme so verändern, dass unsere eigenen Lebensbedingungen prekär werden. Der Planet ist unsere verdrängte biosphärische Identität – das, was wir unter unserer frenetischen Globalisierung verstecken. Die ökologischen Katastrophen des Globus zeigen, wie sehr der Planet die Bedingung unseres Lebens ist. Das klingt fast nach Heidegger.
Überhaupt ist es faszinierend zu sehen, mit welcher geistigen Wendigkeit der Postkolonialismus-Theoretiker Chakrabarty, der einst antrat, Europa zu „provinzialisieren“, gerade deutsche Denktraditionen befragt, um über unsere Geschichtlichkeit im Anthropozän nachzudenken. Das Ergebnis versteht er als Vorarbeit zu einer „philosophischen Anthropologie“ für unser „planetarisches Zeitalter“, das geprägt sei durch ein neues „Klima der Geschichte“: Wir könnten uns nicht mehr hinter den Fassaden der Menschengeschichte verstecken, sondern müssten uns darüber klar werden, dass wir Teil der Geschichte des Lebens und der Erdgeschichte sind. Die Großwetterlage für unser Geschichtsempfinden hat sich radikal verändert.
Das kränkt nun einerseits die narzisstische Vorstellung, dass sich menschliche Geschichte quasi außerhalb der Naturgeschichte vollziehe. Andererseits zwingt es uns zu der Erkenntnis, dass wir tief in die Geschichte des Lebens eingreifen, nicht zuletzt durch Artenausrottung und Klimawandel. Beide Punkte seien auch blinde Flecken in der marxistischen Kritik, so Chakrabarty. Diese bleibe anthropozentrisch und verweigere den Blick auf die Biosphäre als das, was sie ist: unsere unhintergehbare Lebensbedingung, die uns aber stets fremd und unverfügbar bleibe. Für ein Verständnis der Rolle, die der Kapitalismus bei der Beschleunigung der fossilen Industrialisierung spiele, sei die marxistische Kritik jedoch weiterhin unabdingbar.
Als entscheidende ethische Kategorie führt Chakrabarty hier das „Gedeihen“ (flourishing) ein. Unser politisches Denken im Anthropozän könne nicht mehr, wie im klassischen Utilitarismus, auf das größte Glück der größten Zahl oder, wie im aufklärerischen Humanismus, auf das mündige Individuum gegründet werden. Politik heute bedeute, „den Zusammenhang zwischen menschlichen und anderen Lebensformen und deren enge Verknüpfung mit den Erdsystemprozessen“ zu verstehen und zu vermitteln. Daraus ergebe sich als neues Ziel politischen Handelns die „Bewohnbarkeit“ (habitability) der Biosphäre für menschliches Leben.
Diese Bewohnbarkeit ist paradoxerweise jedoch an unsere Fähigkeit geknüpft, gerade auch nicht menschliches Leben zum Gegenstand der Sorge zu machen. Diese Perspektive ist auch eine Kritik am Mantra der Nachhaltigkeit, die ja immer nur auf die Perpetuierung bereits bestehender Strukturen abzielt. Wir sollten vielmehr schmerzhaft erkennen, wie sehr unsere Freiheitsideale mit diesen Strukturen verquickt sind – mit der rasant beschleunigten Verfeuerung fossiler Brennstoffe und ihren enkeluntauglichen Folgen.
Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine hat vielfältige Ursachen. Eine davon ist, dass er das fossile Zeitalter um jeden Preis verlängern möchte. Deutschland hat das Spiel aus Blindheit und Gier viel zu lange mitgespielt. Es gibt wenige Historiker, die die globalgeschichtlichen und postkolonialen Dimensionen des fossilen Wahns so feinsinnig zu reflektieren vermögen wie Chakrabarty. Sein neues Buch ist das Ergebnis von 15 Jahren intensiven Nachdenkens darüber, in welche Situation der Mensch im Anthropozän gestellt ist. Es bietet tiefe Einblicke, der tiefste ist allerdings auch der einfachste: Wir sind alle Dalit-Körper, nicht Brahmanen. Wenn wir es also nicht schaffen, das zu verstehen und unsere Kultur auf ein Miteinander mit anderen Geschöpfen auszurichten, wird sie scheitern.
BERNHARD MALKMUS
Wir könnten uns nicht mehr
hinter den Fassaden der
Menschengeschichte verstecken
Es gibt nur wenige, die die
Dimensionen des fossilen Wahns
so zu reflektieren vermögen
Dipesh Chakrabarty:
Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter. Aus dem Englischen von Christine Pries.
Suhrkamp, Berlin 2022.
445 Seiten, 32 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.06.2022Zurücktreten in die Zeitraumtiefe
Die Klimakrise als Antrieb einer großen Vereinfachung: Dipesh Chakrabarty möchte den Menschen auf sein richtiges Zwergenmaß zurechtgestutzt sehen.
Die große Aufmerksamkeit, die dieses Buch seit dem Erscheinen der amerikanischen Originalausgabe 2021 gefunden hat, verdankt sich vorwiegend der Prominenz seines Autors. Denn man sollte sich von seinem Titel nicht in die Irre leiten lassen und sich vergegenwärtigen, was es alles nicht ist. Es ist keine Geschichte des Klimas, auch keine der Klimaforschung. Es ist weder ein Aufruf zur Rettung der Welt noch eine Zusammenstellung und Bewertung von Daten, die eine solche Rettung erforderlich machen. Auch klima- und umwelthistorische Analysen sucht man vergeblich, obwohl Dipesh Chakrabarty in Chicago als Professor für Geschichte und südasiatische Sprachen und Zivilisationen tätig ist.
Wenn das Buch interessant und vielleicht sogar wichtig ist, dann als Entwicklung eines philosophischen Arguments: Chakrabarty hält es für zwingend geboten, dass wir - das lesende und denkende Publikum und erst recht Historikerinnen und Historiker "vom Fach" - unser Verhältnis zur Geschichte und überhaupt zu uns selbst radikal ändern. Angesichts multipler Umweltkatastrophen, die viele unterschiedliche Arten von Leben auf der Erde bedrohen, sollen wir vom Menschen weg denken: "planetarisch" und in gigantischen Zeiträumen, die jede menschliche Erfahrungsmöglichkeit übersteigen. Das Buch ist ein Appell zu einer posthumanistischen Wende; es predigt eine Umkehr, die mehr verlangt, als die Heizung zu drosseln, auf Sojaburger umzusteigen und mit dem Rad in Urlaub zu fahren.
Dass ausgerechnet Dipesh Chakrabarty eine solche Kehre propagiert, noch dazu mit dem Segen des berühmten Bruno Latour (das Buch endet mit einem Gespräch zwischen den beiden), verleiht der Sache ein besonderes Gewicht. Denn Chakrabarty hat im Jahr 2000 ein Buch publiziert (es wurde niemals vollständig ins Deutsche übersetzt), das unendlich oft zitiert worden ist und eine Fülle von Forschungsprojekten angeregt hat: "Provincializing Europe: Postcolonial Thought und Historical Difference". Keine Kritik des Eurozentrismus kann an diesem Werk vorbeigehen, wenngleich kaum ein Weg von Chakrabartys feinsinnigen Analysen - mit viel Marx und Heidegger im Hintergrund - zu rabiaten Forderungen in der Gegenwart führt, Europa, oder zumindest seine Kultur, zu "canceln".
Chakrabarty hätte seinen Ruhm im Olymp der postkolonialen Meisterdenker in Ruhe genießen können, hätte er nicht 2009 eine persönliche Kehre vollzogen und sich mit dem Aufsatz "Das Klima der Geschichte: Vier Thesen" an die Spitze der Klima-Apokalyptik gesetzt. Aus dem niemals ganz linientreuen Postkolonialisten wurde der schreibende Umweltaktivist, aus der Nemesis des Eurozentrismus die Geißel des Anthropozentrismus.
In revidierter Form bilden die mittlerweile kanonischen "Vier Thesen" das fundierende erste Kapitel von Chakrabartys neuer Essaysammlung "Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter". Die übrigen sieben Kapitel wurden bereits zwischen 2014 und 2018 separat veröffentlicht. Sie sind für das Arrangement als Buch nur unvollkommen aufeinander abgestimmt worden, sodass sich die zentralen Aussagen ziemlich oft wiederholen und Weitschweifigkeit die Geduld des Lesers strapaziert.
Da sich der Ton einer Bußpredigt nicht über vierhundert Seiten durchhalten lässt, offeriert der Historiker und Philosoph großzügig seine Lesefrüchte aus der Klima- und Umweltliteratur. Als Amateur dringt er nicht direkt zu fachwissenschaftlichen Publikationen vor, sondern bezieht sich mit Vorliebe auf popularisierende Synthesen, mit denen sich Forschende aus Astrophysik, Astrobiologie, Geologie, Klimaforschung und vor allem Earth System Science (die es Chakrabarty besonders angetan hat), an ein breiteres Publikum wenden. Sie repräsentieren das neue Denken, für das Chakrabarty wirbt. Das alte, von dem er sich abgrenzt, findet er bei Klassikern des politischen Denkens von Kant bis zu Hannah Arendt und dem späten Carl Schmitt, der für ihn allerdings schon an der Schwelle zu tieferer Einsicht stand. Auch die heutige Globalgeschichte sieht er auf dem Holzweg.
Chakrabartys Selbstkorrektur verdient größten Respekt. Wo andere Postkolonialisten ungerührt an Überzeugungen der Neunzigerjahre festhalten, hat er buchstäblich das Terrain gewechselt. Im Grunde wiederholt er die Schachzüge von "Provincializing Europe" auf höherer Ebene. Wurde in dem Buch von 2000 Europa auf Normalmaß zurückgestutzt und der selbsterzeugte Mythos seiner Überlegenheit und Vorbildlichkeit entzaubert, so trifft die Dezentrierung nunmehr die menschliche Gattung insgesamt. Die Menschen könnten keine höheren moralischen Ansprüche geltend machen als andere Lebewesen. Mensch und Virus, so möchte man aktualisierend hinzufügen, begegnen sich auf normativer Augenhöhe, und beide Seiten haben das gleiche Recht, den anderen umzubringen, so gut es geht.
Man sollte, sagt Chakrabarty, auch den üblichen Begriff von "Umwelt" in Zweifel ziehen. Ist er nicht eine "anthropozentrische" Verzerrung? Selbst die ebenso unschuldig klingende "Nachhaltigkeit" sei vom Menschen her gedacht und werde den Bedürfnissen anderer Lebewesen nicht ausreichend gerecht. Lieber solle man von "Bewohnbarkeit" (habitability) sprechen: der "Zukunftsfähigkeit" des Planeten Erde für "komplexes vielzelliges Leben im Allgemeinen". Damit erledigen sich Denkweisen, die bis vor Kurzem noch unangefochten waren: die Behandlung der Natur als passive Kulisse, vor der sich das historische Geschehen abspielt; überhaupt eine strikte Trennung zwischen Natur und Kultur; die Auffassung, wie stark kaschiert auch immer, vom Recht der Menschen auf Ausbeutung ihrer Mitlebewesen; die vier Schritte aneinanderreihende Epochenunterscheidung zwischen anorganischer Erdgeschichte seit dem Urknall, Geschichte des Lebens vor dem Menschen, vorzivilisatorischer "Ur- und Frühgeschichte" der Spezies Homo sapiens und schließlich der Geschichte der "Zivilisation" der letzten 10 000 Jahre, für die allein sich die Geschichtsschreibung bisher zuständig fühlte.
Dipesh Chakrabarty empfiehlt also eine - wohl eher gedankenexperimentelle als weltanschauliche - Verzwergung des Menschen in der Breite der Natur ebenso wie in der Tiefe der Zeit, horizontal wie vertikal. Nachdem in den letzten Jahren eine liebevoll ausgetüftelte "Mikrogeschichte" von Individuen, Familien und kleinen Gruppen als der Goldstandard der Forschung galt, auch in der Globalgeschichte, wirbt er nun für das extreme Gegenteil: in der Konfrontation mit dem drohenden Untergang so "groß" wie möglich zu denken. Die Konsequenzen dieser Volte spielt der kühl argumentierende Theoretiker eher herunter. Denn die nun wiederbelebte Totalität war das größte Schreckbild sowohl für die Kritische Theorie (das Frankfurter Original, nicht das amerikanische Remake gleichen Namens) als auch für den Postmodernismus. Soll nun das Ganze das Wahre geworden sein?
Auch die Abkehr vom "Globalen" im Namen des viel umfassenderen "Planetarischen" kann Schwindelgefühle auslösen. Waren große Teile der Sozialwissenschaften bisher stolz darauf, ein habituelles Denken in nationalen Kategorien zugunsten globaler Vielfalt überwunden zu haben, so erklärt ihnen jetzt der Denker aus Chicago, auch dies sei noch viel zu eng. Die gewohnten Differenzierungen zwischen nationalen Gesellschaften, zwischen Klassen und Kulturen verlören an Bedeutung angesichts der allgegenwärtigen Bedrohung, die von den Klima-und Umweltkrisen für die Menschheit insgesamt ausgeht. Mit einem Streich entfallen so jene Differenzierungen, die grundsätzlich Wissenschaft ausmachen. Für einige davon haben Postmodernismus und Postkolonialismus gestritten. Race, neben "Gewalt" die Zentralkategorie des gegenwärtigen Postkolonialismus, kommt in Chakrabartys Register gar nicht vor (dem der amerikanischen Ausgabe, das in der Übersetzung fehlt). Da wurde ein tiefer Bruch vollzogen.
Chakrabartys Forderung schließlich, die Geschichtsschreibung solle nicht in der "Menschenzeit" von Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten denken, sondern in "geologischen" Zeiträumen bis zurück zur Entstehung des Universums, wird vielleicht philosophische Herzen höherschlagen lassen, jedoch Empiriker wenig begeistern. Die "Tiefenzeit", wie sie schon im frühen neunzehnten Jahrhundert entdeckt wurde, bleibt bei Astrophysik und Geologie in besseren Händen. Und was wäre politisch durch imaginäre Zeitreisen in Richtung Urknall gewonnen? Wenn sich der klimapolitische Zeithorizont zusehends verengt, sollte sich auch die Kulturtheorie nicht von Gegenwart und naher Zukunft ablenken lassen. JÜRGEN OSTERHAMMEL
Dipesh Chakrabarty: "Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter".
Aus dem Englischen von Christine Pries. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 444 S., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Klimakrise als Antrieb einer großen Vereinfachung: Dipesh Chakrabarty möchte den Menschen auf sein richtiges Zwergenmaß zurechtgestutzt sehen.
Die große Aufmerksamkeit, die dieses Buch seit dem Erscheinen der amerikanischen Originalausgabe 2021 gefunden hat, verdankt sich vorwiegend der Prominenz seines Autors. Denn man sollte sich von seinem Titel nicht in die Irre leiten lassen und sich vergegenwärtigen, was es alles nicht ist. Es ist keine Geschichte des Klimas, auch keine der Klimaforschung. Es ist weder ein Aufruf zur Rettung der Welt noch eine Zusammenstellung und Bewertung von Daten, die eine solche Rettung erforderlich machen. Auch klima- und umwelthistorische Analysen sucht man vergeblich, obwohl Dipesh Chakrabarty in Chicago als Professor für Geschichte und südasiatische Sprachen und Zivilisationen tätig ist.
Wenn das Buch interessant und vielleicht sogar wichtig ist, dann als Entwicklung eines philosophischen Arguments: Chakrabarty hält es für zwingend geboten, dass wir - das lesende und denkende Publikum und erst recht Historikerinnen und Historiker "vom Fach" - unser Verhältnis zur Geschichte und überhaupt zu uns selbst radikal ändern. Angesichts multipler Umweltkatastrophen, die viele unterschiedliche Arten von Leben auf der Erde bedrohen, sollen wir vom Menschen weg denken: "planetarisch" und in gigantischen Zeiträumen, die jede menschliche Erfahrungsmöglichkeit übersteigen. Das Buch ist ein Appell zu einer posthumanistischen Wende; es predigt eine Umkehr, die mehr verlangt, als die Heizung zu drosseln, auf Sojaburger umzusteigen und mit dem Rad in Urlaub zu fahren.
Dass ausgerechnet Dipesh Chakrabarty eine solche Kehre propagiert, noch dazu mit dem Segen des berühmten Bruno Latour (das Buch endet mit einem Gespräch zwischen den beiden), verleiht der Sache ein besonderes Gewicht. Denn Chakrabarty hat im Jahr 2000 ein Buch publiziert (es wurde niemals vollständig ins Deutsche übersetzt), das unendlich oft zitiert worden ist und eine Fülle von Forschungsprojekten angeregt hat: "Provincializing Europe: Postcolonial Thought und Historical Difference". Keine Kritik des Eurozentrismus kann an diesem Werk vorbeigehen, wenngleich kaum ein Weg von Chakrabartys feinsinnigen Analysen - mit viel Marx und Heidegger im Hintergrund - zu rabiaten Forderungen in der Gegenwart führt, Europa, oder zumindest seine Kultur, zu "canceln".
Chakrabarty hätte seinen Ruhm im Olymp der postkolonialen Meisterdenker in Ruhe genießen können, hätte er nicht 2009 eine persönliche Kehre vollzogen und sich mit dem Aufsatz "Das Klima der Geschichte: Vier Thesen" an die Spitze der Klima-Apokalyptik gesetzt. Aus dem niemals ganz linientreuen Postkolonialisten wurde der schreibende Umweltaktivist, aus der Nemesis des Eurozentrismus die Geißel des Anthropozentrismus.
In revidierter Form bilden die mittlerweile kanonischen "Vier Thesen" das fundierende erste Kapitel von Chakrabartys neuer Essaysammlung "Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter". Die übrigen sieben Kapitel wurden bereits zwischen 2014 und 2018 separat veröffentlicht. Sie sind für das Arrangement als Buch nur unvollkommen aufeinander abgestimmt worden, sodass sich die zentralen Aussagen ziemlich oft wiederholen und Weitschweifigkeit die Geduld des Lesers strapaziert.
Da sich der Ton einer Bußpredigt nicht über vierhundert Seiten durchhalten lässt, offeriert der Historiker und Philosoph großzügig seine Lesefrüchte aus der Klima- und Umweltliteratur. Als Amateur dringt er nicht direkt zu fachwissenschaftlichen Publikationen vor, sondern bezieht sich mit Vorliebe auf popularisierende Synthesen, mit denen sich Forschende aus Astrophysik, Astrobiologie, Geologie, Klimaforschung und vor allem Earth System Science (die es Chakrabarty besonders angetan hat), an ein breiteres Publikum wenden. Sie repräsentieren das neue Denken, für das Chakrabarty wirbt. Das alte, von dem er sich abgrenzt, findet er bei Klassikern des politischen Denkens von Kant bis zu Hannah Arendt und dem späten Carl Schmitt, der für ihn allerdings schon an der Schwelle zu tieferer Einsicht stand. Auch die heutige Globalgeschichte sieht er auf dem Holzweg.
Chakrabartys Selbstkorrektur verdient größten Respekt. Wo andere Postkolonialisten ungerührt an Überzeugungen der Neunzigerjahre festhalten, hat er buchstäblich das Terrain gewechselt. Im Grunde wiederholt er die Schachzüge von "Provincializing Europe" auf höherer Ebene. Wurde in dem Buch von 2000 Europa auf Normalmaß zurückgestutzt und der selbsterzeugte Mythos seiner Überlegenheit und Vorbildlichkeit entzaubert, so trifft die Dezentrierung nunmehr die menschliche Gattung insgesamt. Die Menschen könnten keine höheren moralischen Ansprüche geltend machen als andere Lebewesen. Mensch und Virus, so möchte man aktualisierend hinzufügen, begegnen sich auf normativer Augenhöhe, und beide Seiten haben das gleiche Recht, den anderen umzubringen, so gut es geht.
Man sollte, sagt Chakrabarty, auch den üblichen Begriff von "Umwelt" in Zweifel ziehen. Ist er nicht eine "anthropozentrische" Verzerrung? Selbst die ebenso unschuldig klingende "Nachhaltigkeit" sei vom Menschen her gedacht und werde den Bedürfnissen anderer Lebewesen nicht ausreichend gerecht. Lieber solle man von "Bewohnbarkeit" (habitability) sprechen: der "Zukunftsfähigkeit" des Planeten Erde für "komplexes vielzelliges Leben im Allgemeinen". Damit erledigen sich Denkweisen, die bis vor Kurzem noch unangefochten waren: die Behandlung der Natur als passive Kulisse, vor der sich das historische Geschehen abspielt; überhaupt eine strikte Trennung zwischen Natur und Kultur; die Auffassung, wie stark kaschiert auch immer, vom Recht der Menschen auf Ausbeutung ihrer Mitlebewesen; die vier Schritte aneinanderreihende Epochenunterscheidung zwischen anorganischer Erdgeschichte seit dem Urknall, Geschichte des Lebens vor dem Menschen, vorzivilisatorischer "Ur- und Frühgeschichte" der Spezies Homo sapiens und schließlich der Geschichte der "Zivilisation" der letzten 10 000 Jahre, für die allein sich die Geschichtsschreibung bisher zuständig fühlte.
Dipesh Chakrabarty empfiehlt also eine - wohl eher gedankenexperimentelle als weltanschauliche - Verzwergung des Menschen in der Breite der Natur ebenso wie in der Tiefe der Zeit, horizontal wie vertikal. Nachdem in den letzten Jahren eine liebevoll ausgetüftelte "Mikrogeschichte" von Individuen, Familien und kleinen Gruppen als der Goldstandard der Forschung galt, auch in der Globalgeschichte, wirbt er nun für das extreme Gegenteil: in der Konfrontation mit dem drohenden Untergang so "groß" wie möglich zu denken. Die Konsequenzen dieser Volte spielt der kühl argumentierende Theoretiker eher herunter. Denn die nun wiederbelebte Totalität war das größte Schreckbild sowohl für die Kritische Theorie (das Frankfurter Original, nicht das amerikanische Remake gleichen Namens) als auch für den Postmodernismus. Soll nun das Ganze das Wahre geworden sein?
Auch die Abkehr vom "Globalen" im Namen des viel umfassenderen "Planetarischen" kann Schwindelgefühle auslösen. Waren große Teile der Sozialwissenschaften bisher stolz darauf, ein habituelles Denken in nationalen Kategorien zugunsten globaler Vielfalt überwunden zu haben, so erklärt ihnen jetzt der Denker aus Chicago, auch dies sei noch viel zu eng. Die gewohnten Differenzierungen zwischen nationalen Gesellschaften, zwischen Klassen und Kulturen verlören an Bedeutung angesichts der allgegenwärtigen Bedrohung, die von den Klima-und Umweltkrisen für die Menschheit insgesamt ausgeht. Mit einem Streich entfallen so jene Differenzierungen, die grundsätzlich Wissenschaft ausmachen. Für einige davon haben Postmodernismus und Postkolonialismus gestritten. Race, neben "Gewalt" die Zentralkategorie des gegenwärtigen Postkolonialismus, kommt in Chakrabartys Register gar nicht vor (dem der amerikanischen Ausgabe, das in der Übersetzung fehlt). Da wurde ein tiefer Bruch vollzogen.
Chakrabartys Forderung schließlich, die Geschichtsschreibung solle nicht in der "Menschenzeit" von Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten denken, sondern in "geologischen" Zeiträumen bis zurück zur Entstehung des Universums, wird vielleicht philosophische Herzen höherschlagen lassen, jedoch Empiriker wenig begeistern. Die "Tiefenzeit", wie sie schon im frühen neunzehnten Jahrhundert entdeckt wurde, bleibt bei Astrophysik und Geologie in besseren Händen. Und was wäre politisch durch imaginäre Zeitreisen in Richtung Urknall gewonnen? Wenn sich der klimapolitische Zeithorizont zusehends verengt, sollte sich auch die Kulturtheorie nicht von Gegenwart und naher Zukunft ablenken lassen. JÜRGEN OSTERHAMMEL
Dipesh Chakrabarty: "Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter".
Aus dem Englischen von Christine Pries. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 444 S., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Chakrabarty weist in großer Kenntnis aller Vorläufer ... in [eine] Richtung, die auf nichts weniger hinausläuft als auf eine Revision aller früheren Historiografie der Weltgeschichte und nicht allein für die Geschichtsschreibung und die Klimaforschung unbedingt lesenswert ist.« Claus Leggewie Frankfurter Rundschau 20220518