Das Kopfkissenbuch der Dame Sei Shonagon ist eines der bedeutendsten literarischen Werke Japans, das noch heute - fast 1000 Jahre später - den Leser zu bezaubern vermag! Es ist eine Art Tagebuch und enthält Aufzeichnungen, die Sei Shonagon während ihrer Musestunden als Hofdame am Heian-Hofe niederschrieb. Sie berichtet darin Klatsch vom Kaiserhof, der viel zum Verständnis der Kultur jener Zeit beiträgt, und schildert das intime Leben und Treiben hinter den Bambusläden und Seidenvorhängen, mit all den lockeren erotischen Formen, die sich in der Hofwelt jener Zeit herausgebildet hatten. Die Heian-Zeit wird in köstlichen, farbenfrohen Miniaturen lebendig!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2015Wie eine belesene Hofdame den ganzen Kaiserpalast elektrisierte
Weltliteratur nicht nur für Herrschende: Sei Shonagons tausend Jahre altes "Kopfkissenbuch" lässt die Welt der fernöstlichen Dichtung neu vor uns erstehen.
Von Andreas Platthaus
Dieses Buch sieht aus und fühlt sich an, wie es heißt. Quadratisch kommt es daher, der Einband weich gepolstert und bezogen mit floral bedrucktem Satin. Die roten Blüten darauf gehören zu einem Pflaumenbaum, natürlich, denn die Verfasserin beginnt eine ihrer Ausführungen mit dem Satz: "Ob blassrosa oder tiefrot, ich mag rote Pflaumenblüten." Und so ist auch am Fuß jeder Seite als Vignette eine solche zu finden. Eine schöne Buchkunst-Spielerei, mit der sich der stolze Preis dieses Werks wohl auch bei denjenigen rechtfertigen lässt, die nicht sofort wissen, was es bedeutet, Sei Shonagons "Kopfkissenbuch" endlich vollständig auf Deutsch zu haben.
Es bedeutet für Liebhaber der japanischen Kultur unendlich viel. Sei Shonagon - ihr wirklicher Name ist nicht überliefert, aber am Kaiserhof wurde sie so genannt -, geboren 966, schrieb in den Jahren um die Jahrtausendwende etwas, das sie selbst als private Reflexionen ansah: "Ich hatte nicht damit gerechnet, dass irgendjemand diese Aufzeichnungen zu Gesicht bekommt, und daher vorgehabt, auch Unschönes und Unangenehmes freiweg aufzuschreiben, so wie es mir in den Sinn kommt." Heute würden wir das, was daraus entstand, am ehesten ein Tagebuch nennen, und man kann den Reiz ermessen, den es bedeutet, tausend Jahre zurückgeführt zu werden, nach Kyoto an den japanischen Kaiserhof der Heian-Zeit, wo die Verfasserin zum Gefolge der Kaiserin gehörte.
Entsprechend intim war ihr Einblick. Es gibt keine vergleichbare Quelle, auch nicht die nahezu gleichzeitig entstandene "Geschichte vom Prinzen Genji" von Murasaki Shikibu, einer weiteren japanischen Hofdame. Auch sie erzählt von den minutiös ausgearbeiteten Regularien und Raffinements in der Kaiserresidenz, bettet diese Betrachtungen aber in einen Roman ein. Sei Shonagon spricht dagegen nicht nur von ihrer Umgebung - dem gerade erst der Minderjährigkeit entwachsenen Kaiser und seiner kaum älteren Gemahlin, all den Hofbeamten und -damen -, sondern vor allem von sich selbst und den eigenen Erlebnissen; und da sie eine ungemein gewitzte und offenherzige Beobachterin ist, bekommen wir ein Sittenbild der farbigsten Art. Die seit Jahrhunderten im Westen gebrauchte Übersetzung "Kopfkissen" für den japanischen Begriff makura des Originaltitels ist zu harmlos - und überdies zu erotisch konnotiert - für einen Text dieses Ranges. Auch wenn Michael Stein, der die Herkulesaufgabe der ersten vollständigen deutschen Übersetzung übernommen hat, am eingeführten Namen festhält, merkt er doch an, dass man mit mehr Recht vom "Sattelbuch" zu sprechen hätte. Und das wäre denn fürwahr ein geeigneter Buchtitel gewesen, denn erst Sei Shonagons Werk gibt uns festen Halt in der japanischen Mentalität.
Wie überfällig war es also, dass der 1948 geborene Michael Stein, der seit Jahrzehnten in Tokio lebt und lehrt, sich dem Ganzen angenommen hat und nicht, wie bislang üblich, den Lesern nur besonders schöne Passagen bietet. Denn erst die gesamten 326 von der Forschung als authentisch anerkannten Abschnitte des nur in späteren japanischen Abschriften unterschiedlichen Umfangs überlieferten Buchs lassen jenen Eindruck entstehen, auf den es der Autorin ankam: eines Spiegels ihrer Welt. Die darf jedoch nicht missverstanden werden als das gesamte Japan vor tausend Jahren. Der Kaiserhof war eine Welt für sich, vom Alltag der Untertanen sorgsam geschieden, und nicht selten verleiht Shonagon ihrer Verachtung für das Leben außerhalb auch deutlich Ausdruck. Doch zugleich geben gerade solche Passagen aus der Arroganz heraus wichtige Auskünfte. So etwa, wenn die Hofdame jungen Frauen bei der Landarbeit zusieht: "Reiskörner schälen und dazu Lieder singen. Wir lachten vor Begeisterung, es war so amüsant!"
Was sich aus dieser herablassenden Bemerkung ablesen lässt, ist nicht Verachtung für körperliche Arbeit, sondern stilisierte Unwissenheit. Es gehörte sich für eine Palastangehörige einfach nicht, etwas von Landarbeit zu verstehen, also stellt Shonagon sich in ihren Aufzeichnungen diesbezüglich bewusst dumm. Tatsächlich waren diese Texte nämlich doch verbreitete Lektüre bei Hofe. Michael Stein vermutet, dass die Notizen in einer heiklen politischen Situation, als die Position der Kaiserin eine Schwächung erfuhr und Shonagon sich dafür entscheiden musste, ihrer Herrin treu zu bleiben oder die Seite zu wechseln, zum Zwecke der Selbstüberprüfung angelegt wurden. In einem Postskriptum zu dem Textkonvolut heißt es: "Ich wollte diese Aufzeichnungen nach Möglichkeit verborgen halten, doch entgegen meinen Absichten sind sie nun allgemein bekanntgeworden." Im Wissen darum darf man bei etlichen Abschnitten eine bereits auf Außenwirkung gerichtete Absicht unterstellen.
Umso wichtiger ist die von Stein in Fußnoten und einem biographischen Personenregister mustergültig besorgte Kommentierung dieses "Tagebuchs", das sich um Chronologie gar nicht schert. Die geschilderten Ereignisse sind jedoch oft über die erhaltenen Annalen jener Epoche datierbar, und der Verzicht auf eine zeitliche Reihenfolge wird ausgeglichen durch einen inneren Zusammenhang der Abschnitte, der thematischen wie rhythmischen Gesetzen gehorcht. Letztere sind in einer Übersetzung nicht zu retten, aber allein die Leistung, die Stein mit der Übertragung und Annotation der zahlreichen Gedichte vollbringt - Shonagon war bei Hofe berühmt-berüchtigt für ihre Fähigkeiten als vorwitzige Stegreifdichterin, die in der hochgeschätzten Kunst der Variation klassischer chinesischer Poesie brillierte -, ist eine Pioniertat. Zusammen mit dem japanischen Kaiserhof entsteht durch seine Arbeit auch die ganze Welt der fernöstlichen Dichtung jener Zeit vor uns neu.
Und Stein hat einen Tonfall für Sei Shonagons "Kopfkissenbuch" gefunden, der dessen Entstehungszeit und -situation gerecht wird, ohne archaisch oder exotisch zu klingen. Es genügen in den Palastszenen die Spezifika des seinerzeit gebräuchlichen Kalendariums oder der Architektur (die natürlich jeweils in den aus unerfindlichen Gründen leider senkrecht zum Satzspiegel gedruckten Fußnoten und dem Nachwort erläutert werden) und vor allem die Eleganz von Shonagons durch Stein verliehener Sprache, um aus der prinzipiellen Vieldeutigkeit des Japanischen einen in unseren Ohren höfischen und somit auch vertrauten Klang herauszudestillieren. Nur ein Beispiel: "An einem müßigen, sonnigen Tag um den 20. Tag des 2. Monats saß der Kaiser auf der westlichen Balustrade des Zwischenflügels und spielte Flöte. Herr Fujiwara no Takato, der Leiter des Ministeriums für Militärwesen, weilte als Kaiserlicher Flötenlehrer an seiner Seite; mir fällt leider nur die Allerweltsfloskel ,schlichtweg hinreißend und wundervoll' ein, um zu beschreiben, wie sie zu zweit das Stück Takasago spielten."
Aber auch für katalogartige Auflistungen von Vorlieben und Abneigungen der Autorin, für ironische Spitzen oder kleine Entrüstungen, für neckische Bosheiten oder selbstverliebte Reminiszenzen steht Michael Stein jeweils der richtige Klang zur Verfügung - wie überhaupt das "Kopfkissenbuch" eines jener Werke der Weltliteratur ist, die wie große musikalische Kompositionen angelegt sind, was nicht verwundert angesichts der Bedeutung, die das Musizieren am kaiserlichen Hof von Kyoto hatte. Auch dazu ist dem Buch viel zu entnehmen, wie zu religiösen, offiziösen oder amourösen Praktiken.
Und zugleich sind die Aufzeichnungen geschrieben für Leser - egal, ob Sei Shonagon dabei nur an sich selbst oder auch an andere Höflinge dachte -, die ihr größtes intellektuelles und soziales Vergnügen im strengen Spiel mit literarischen Formen suchten. Als die Autorin von einem Hofbeamten einen Pflaumenzweig, dessen Blüten abgefallen waren, zugesandt bekam, schickte sie als Antwort eine Formulierung aus den Erläuterungen einer berühmten Gedichtsammlung. "Daraufhin ließen sich zahlreiche Privilegierte vor unserer Holztür nieder und rezitierten das betreffende Gedicht." Nie war Literatur so zentral für Herrschaft wie im Japan der Heian-Zeit. Und nie ist Herrschaft wieder zu so herrlicher Literatur geworden wie bei Sei Shonagon.
Sei Shonagon: "Kopfkissenbuch".
Hrsg. und aus dem Japanischen von Michael Stein. Manesse Verlag, München 2015. 383 S., geb., 59,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weltliteratur nicht nur für Herrschende: Sei Shonagons tausend Jahre altes "Kopfkissenbuch" lässt die Welt der fernöstlichen Dichtung neu vor uns erstehen.
Von Andreas Platthaus
Dieses Buch sieht aus und fühlt sich an, wie es heißt. Quadratisch kommt es daher, der Einband weich gepolstert und bezogen mit floral bedrucktem Satin. Die roten Blüten darauf gehören zu einem Pflaumenbaum, natürlich, denn die Verfasserin beginnt eine ihrer Ausführungen mit dem Satz: "Ob blassrosa oder tiefrot, ich mag rote Pflaumenblüten." Und so ist auch am Fuß jeder Seite als Vignette eine solche zu finden. Eine schöne Buchkunst-Spielerei, mit der sich der stolze Preis dieses Werks wohl auch bei denjenigen rechtfertigen lässt, die nicht sofort wissen, was es bedeutet, Sei Shonagons "Kopfkissenbuch" endlich vollständig auf Deutsch zu haben.
Es bedeutet für Liebhaber der japanischen Kultur unendlich viel. Sei Shonagon - ihr wirklicher Name ist nicht überliefert, aber am Kaiserhof wurde sie so genannt -, geboren 966, schrieb in den Jahren um die Jahrtausendwende etwas, das sie selbst als private Reflexionen ansah: "Ich hatte nicht damit gerechnet, dass irgendjemand diese Aufzeichnungen zu Gesicht bekommt, und daher vorgehabt, auch Unschönes und Unangenehmes freiweg aufzuschreiben, so wie es mir in den Sinn kommt." Heute würden wir das, was daraus entstand, am ehesten ein Tagebuch nennen, und man kann den Reiz ermessen, den es bedeutet, tausend Jahre zurückgeführt zu werden, nach Kyoto an den japanischen Kaiserhof der Heian-Zeit, wo die Verfasserin zum Gefolge der Kaiserin gehörte.
Entsprechend intim war ihr Einblick. Es gibt keine vergleichbare Quelle, auch nicht die nahezu gleichzeitig entstandene "Geschichte vom Prinzen Genji" von Murasaki Shikibu, einer weiteren japanischen Hofdame. Auch sie erzählt von den minutiös ausgearbeiteten Regularien und Raffinements in der Kaiserresidenz, bettet diese Betrachtungen aber in einen Roman ein. Sei Shonagon spricht dagegen nicht nur von ihrer Umgebung - dem gerade erst der Minderjährigkeit entwachsenen Kaiser und seiner kaum älteren Gemahlin, all den Hofbeamten und -damen -, sondern vor allem von sich selbst und den eigenen Erlebnissen; und da sie eine ungemein gewitzte und offenherzige Beobachterin ist, bekommen wir ein Sittenbild der farbigsten Art. Die seit Jahrhunderten im Westen gebrauchte Übersetzung "Kopfkissen" für den japanischen Begriff makura des Originaltitels ist zu harmlos - und überdies zu erotisch konnotiert - für einen Text dieses Ranges. Auch wenn Michael Stein, der die Herkulesaufgabe der ersten vollständigen deutschen Übersetzung übernommen hat, am eingeführten Namen festhält, merkt er doch an, dass man mit mehr Recht vom "Sattelbuch" zu sprechen hätte. Und das wäre denn fürwahr ein geeigneter Buchtitel gewesen, denn erst Sei Shonagons Werk gibt uns festen Halt in der japanischen Mentalität.
Wie überfällig war es also, dass der 1948 geborene Michael Stein, der seit Jahrzehnten in Tokio lebt und lehrt, sich dem Ganzen angenommen hat und nicht, wie bislang üblich, den Lesern nur besonders schöne Passagen bietet. Denn erst die gesamten 326 von der Forschung als authentisch anerkannten Abschnitte des nur in späteren japanischen Abschriften unterschiedlichen Umfangs überlieferten Buchs lassen jenen Eindruck entstehen, auf den es der Autorin ankam: eines Spiegels ihrer Welt. Die darf jedoch nicht missverstanden werden als das gesamte Japan vor tausend Jahren. Der Kaiserhof war eine Welt für sich, vom Alltag der Untertanen sorgsam geschieden, und nicht selten verleiht Shonagon ihrer Verachtung für das Leben außerhalb auch deutlich Ausdruck. Doch zugleich geben gerade solche Passagen aus der Arroganz heraus wichtige Auskünfte. So etwa, wenn die Hofdame jungen Frauen bei der Landarbeit zusieht: "Reiskörner schälen und dazu Lieder singen. Wir lachten vor Begeisterung, es war so amüsant!"
Was sich aus dieser herablassenden Bemerkung ablesen lässt, ist nicht Verachtung für körperliche Arbeit, sondern stilisierte Unwissenheit. Es gehörte sich für eine Palastangehörige einfach nicht, etwas von Landarbeit zu verstehen, also stellt Shonagon sich in ihren Aufzeichnungen diesbezüglich bewusst dumm. Tatsächlich waren diese Texte nämlich doch verbreitete Lektüre bei Hofe. Michael Stein vermutet, dass die Notizen in einer heiklen politischen Situation, als die Position der Kaiserin eine Schwächung erfuhr und Shonagon sich dafür entscheiden musste, ihrer Herrin treu zu bleiben oder die Seite zu wechseln, zum Zwecke der Selbstüberprüfung angelegt wurden. In einem Postskriptum zu dem Textkonvolut heißt es: "Ich wollte diese Aufzeichnungen nach Möglichkeit verborgen halten, doch entgegen meinen Absichten sind sie nun allgemein bekanntgeworden." Im Wissen darum darf man bei etlichen Abschnitten eine bereits auf Außenwirkung gerichtete Absicht unterstellen.
Umso wichtiger ist die von Stein in Fußnoten und einem biographischen Personenregister mustergültig besorgte Kommentierung dieses "Tagebuchs", das sich um Chronologie gar nicht schert. Die geschilderten Ereignisse sind jedoch oft über die erhaltenen Annalen jener Epoche datierbar, und der Verzicht auf eine zeitliche Reihenfolge wird ausgeglichen durch einen inneren Zusammenhang der Abschnitte, der thematischen wie rhythmischen Gesetzen gehorcht. Letztere sind in einer Übersetzung nicht zu retten, aber allein die Leistung, die Stein mit der Übertragung und Annotation der zahlreichen Gedichte vollbringt - Shonagon war bei Hofe berühmt-berüchtigt für ihre Fähigkeiten als vorwitzige Stegreifdichterin, die in der hochgeschätzten Kunst der Variation klassischer chinesischer Poesie brillierte -, ist eine Pioniertat. Zusammen mit dem japanischen Kaiserhof entsteht durch seine Arbeit auch die ganze Welt der fernöstlichen Dichtung jener Zeit vor uns neu.
Und Stein hat einen Tonfall für Sei Shonagons "Kopfkissenbuch" gefunden, der dessen Entstehungszeit und -situation gerecht wird, ohne archaisch oder exotisch zu klingen. Es genügen in den Palastszenen die Spezifika des seinerzeit gebräuchlichen Kalendariums oder der Architektur (die natürlich jeweils in den aus unerfindlichen Gründen leider senkrecht zum Satzspiegel gedruckten Fußnoten und dem Nachwort erläutert werden) und vor allem die Eleganz von Shonagons durch Stein verliehener Sprache, um aus der prinzipiellen Vieldeutigkeit des Japanischen einen in unseren Ohren höfischen und somit auch vertrauten Klang herauszudestillieren. Nur ein Beispiel: "An einem müßigen, sonnigen Tag um den 20. Tag des 2. Monats saß der Kaiser auf der westlichen Balustrade des Zwischenflügels und spielte Flöte. Herr Fujiwara no Takato, der Leiter des Ministeriums für Militärwesen, weilte als Kaiserlicher Flötenlehrer an seiner Seite; mir fällt leider nur die Allerweltsfloskel ,schlichtweg hinreißend und wundervoll' ein, um zu beschreiben, wie sie zu zweit das Stück Takasago spielten."
Aber auch für katalogartige Auflistungen von Vorlieben und Abneigungen der Autorin, für ironische Spitzen oder kleine Entrüstungen, für neckische Bosheiten oder selbstverliebte Reminiszenzen steht Michael Stein jeweils der richtige Klang zur Verfügung - wie überhaupt das "Kopfkissenbuch" eines jener Werke der Weltliteratur ist, die wie große musikalische Kompositionen angelegt sind, was nicht verwundert angesichts der Bedeutung, die das Musizieren am kaiserlichen Hof von Kyoto hatte. Auch dazu ist dem Buch viel zu entnehmen, wie zu religiösen, offiziösen oder amourösen Praktiken.
Und zugleich sind die Aufzeichnungen geschrieben für Leser - egal, ob Sei Shonagon dabei nur an sich selbst oder auch an andere Höflinge dachte -, die ihr größtes intellektuelles und soziales Vergnügen im strengen Spiel mit literarischen Formen suchten. Als die Autorin von einem Hofbeamten einen Pflaumenzweig, dessen Blüten abgefallen waren, zugesandt bekam, schickte sie als Antwort eine Formulierung aus den Erläuterungen einer berühmten Gedichtsammlung. "Daraufhin ließen sich zahlreiche Privilegierte vor unserer Holztür nieder und rezitierten das betreffende Gedicht." Nie war Literatur so zentral für Herrschaft wie im Japan der Heian-Zeit. Und nie ist Herrschaft wieder zu so herrlicher Literatur geworden wie bei Sei Shonagon.
Sei Shonagon: "Kopfkissenbuch".
Hrsg. und aus dem Japanischen von Michael Stein. Manesse Verlag, München 2015. 383 S., geb., 59,95 [Euro].
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