Als Walter Benjamin diesen Aufsatz 1936 im Pariser Exil in französischer Übersetzung publizierte, blieb das erhoffte Echo aus. Inzwischen gehört er zum Kanon der Ästhetik, der Medienwissenschaft und der politischen Theorie. Die Abhandlung, die in ihrem Kern von einer weltgeschichtlichen Krise der Tradition handelt, hat paradoxerweise den Status eines klassischen Textes gewonnen, der selbst zum festen Bestand der Überlieferung gehört. Der Text der vorliegenden Ausgabe wurde am Nachlass überprüft. Besonders interessante Alternativversionen einiger Abschnitte werden im Anhang wiedergegeben. Ein Zeilenkommentar und ein Nachwort geben wertvolle Verständnishilfen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.07.2013Der Blick im Rücken
Walter Benjamins „Kunstwerk“-Aufsatz in einer geglückten Edition
Walter Benjamins Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ ist der am häufigsten zitierte und am intensivsten debattierte Essay in der Geschichte der Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert. Als Taschenbuchausgabe des Suhrkamp-Verlages gehört er zu den meistverkauften theoretischen Texten. Er ist längst zu einem Klassiker der Kultur- und Medientheorie avanciert, Medienwissenschaftler feiern ihn als Pioniertat ihrer Disziplin – ungeachtet dessen, dass Benjamins Medienbegriff nicht mit dem heutigen Gebrauch identisch ist.
Für manche Historiker dagegen wie beispielsweise Hans-Ulrich Wehler ist Benjamin ein Kulturkonservativer, der die scharfe Trennung von Hoch- und Massenkultur reproduziert habe. Der Kult um den Kunstwerkaufsatzes geht offenbar Hand in Hand mit Ignoranz seinem Inhalt gegenüber. Benjamin ist mit Etiketten wie Kulturkonservatismus oder technischem Fortschrittsenthusiasmus schwer zu fangen.
In der „Kritischen Gesamtausgabe“ von Werk und Nachlass Walter Benjamins ist der Kunstwerkaufsatz nun erneut erschienen, und zwar in allen fünf Fassungen und mit gut 400 Seiten Entstehungs- und Publikationsgeschichte, Dokumenten und interpretatorischem Nachwort. Im Gegensatz zu sehr vielen Produkten der akademische Benjamin-Industrie ist dieses Buch alles andere als überflüssig. Und das nicht nur, weil es das Schicksal von Klassikern ist, dass man ihren Inhalt nicht kennt, sondern weil das Nachwort von Burkhardt Lindner zum Besten gehört, was man derzeit über Benjamin lesen kann.
Walter Benjamin begann an diesem Text im September 1935 zu schreiben. Mit großem Stolz verkündete er, „dass es die materialistische Theorie der Kunst, von der man viel hat reden hören, die aber doch niemand mit eigenen Augen gesehen hatte, nun gibt“. In der Tat hatte Benjamin nicht nur neue und sehr eigene Begriffe wie Aura, Apperzeption, Chock oder das Optisch-Unbewusste geprägt, sondern eine neue Deutung der Künste vorgelegt: Er diskutierte nicht wie das Gros seiner Zeitgenossen, ob der Film nach ästhetischen Kriterien Kunst oder wie er in ideologiekritischer Perspektive zu bewerten sei, vielmehr konstatierte er, dass der Film mittels seiner technischen Reproduzierbarkeit das Kunstwerk verändere.
Was hier schlug, war in den Worten Benjamins, „die Schicksalsstunde der Kunst“. Die Möglichkeit technischer Reproduktion, am sichtbarsten am Film, verändere nicht nur das Kunstwerk selbst, sondern auch die sinnliche Wahrnehmung der Rezipienten. Und es waren Wahrnehmungsveränderungen, die nicht allein die Kunst betrafen, sondern die Conditio humana des modernen Menschen.
Von Gewicht sind daher Lindners Anmerkungen zu Benjamins anthropologischem Materialismus. Benjamin ging demnach nicht von einer existenziellen Sinnkrise „des Menschen“ aus wie andere philosophisch-anthropologische Ansätze seiner Zeit. Er orientierte sich an der Wahrnehmungsgeschichte der Menschheit. Die Menschheit, das war für Benjamin nicht primär ein Begriff, in dem sich das Subjekt der Geschichte spiegelte, um mittels seiner Vernunft den Fortschritt zur Freiheit anzustreben, sondern ein kollektiver Erfahrungs- und Erinnerungszusammenhang. In diesem Sinne waren Körperlichkeit und Wahrnehmung Medien. Die Möglichkeit technischer Reproduktion veränderte damit nicht nur die Ästhetik, sondern den Menschen.
Zwei Interventionen der Herausgeber in seit langer Zeit schwelenden Debatten sind bemerkenswert: Um 1968 herum entdeckte die Zeitschrift alternative, sekundiert von Helmut Heißenbüttel und Hannah Arendt im Merkur, dass Max Horkheimer den Kunstwerkaufsatz (und ähnlich Adorno den Baudelaire-Essay im Passagenwerk) „zensiert“ hätte, ihre Machtstellung gegenüber dem in Paris um seine materielle Exsistenz kämpfenden Benjamin ausnutzend.
Dem „Empört Euch!“ von damals halten die Herausgeber ein „Entspannt Euch!“ entgegen. Denn von „Erpressung“ zu reden sei „nicht hilfreich“: Benjamin habe von vornherein gewusst, dass Horkheimer die Zeitschrift für Sozialforschung (ZfS) als ein wissenschaftliches Organ betrachtet habe, dessen Linie und theoretische Ausrichtung dieser letztlich allein bestimmte. Und er habe sich wiederum vorbehalten, an anderem Ort eine deutsche Fassung des in der ZfS in Französisch erscheinenden Textes ohne Rücksprache mit Horkheimer zu publizieren; dies zeige die Entstehung der fünften Fassung.
In Sachen Brecht wartet der Band sogar mit einer neuen Erkenntnis auf. Ausgehend von heftigen Formulierungen Brechts über den Begriff der Aura in dessen Arbeitsjournal hatte Rolf Tiedemann 1980 im Apparat des ersten Bandes der „Gesammelten Schriften“ Benjamins angenommen, Brecht habe den Kunstwerkaufsatz abgelehnt. Nun wird gezeigt, dass sich Brechts Kritik gar nicht auf den Text von 1935, sondern auf Gespräche mit Benjamin im Sommer 1938 bezog. Benjamin hatte inzwischen das Konzept der Aura verändert. Nicht mehr wie 1935 als „Ferne, so nah sie sein mag“, als Einmaligkeit und kultisches Überbleibsel eines Kunstwerkes, sondern als anthropologisches Modell reziproken Blickaufschlages und der Blickerwiderung präsentierte Benjamin nun seine Auratheorie. Brechts Notiz lautete: „er sagt: wenn man einen blick auf sich gerichtet fühlt, auch im rücken, erwidert man ihn (!). die erwartung, daß, was man anblickt, einen selber anblickt, verschafft die aura.“ Solches hielt Brecht für „Mystik“, nicht aber den Kunstwerkaufsatz.
Man sieht: Den Kunstwerkaufsatz zu studieren heißt, auf Entdeckungsreise zu gehen. Man darf sich nur nicht daran stören, dass er ein Klassiker geworden ist.
JÖRG SPÄTER
Benjamin diskutierte nicht, ob
der Film Kunst sei, sondern wie
er die Wahrnehmung verändert
Mit Fotografie und Film schlug für ihn „die Schicksalsstunde der Kunst“: Walter Benjamin.
FOTO: EFFIGIE/BILDERBERG
Walter Benjamin:
Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Hrsg. von Burkhardt Lindner unter Mitarbeit von Simone Broll und Jessica Nitsche. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 722 Seiten,
39,95 Euro.
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Walter Benjamins „Kunstwerk“-Aufsatz in einer geglückten Edition
Walter Benjamins Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ ist der am häufigsten zitierte und am intensivsten debattierte Essay in der Geschichte der Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert. Als Taschenbuchausgabe des Suhrkamp-Verlages gehört er zu den meistverkauften theoretischen Texten. Er ist längst zu einem Klassiker der Kultur- und Medientheorie avanciert, Medienwissenschaftler feiern ihn als Pioniertat ihrer Disziplin – ungeachtet dessen, dass Benjamins Medienbegriff nicht mit dem heutigen Gebrauch identisch ist.
Für manche Historiker dagegen wie beispielsweise Hans-Ulrich Wehler ist Benjamin ein Kulturkonservativer, der die scharfe Trennung von Hoch- und Massenkultur reproduziert habe. Der Kult um den Kunstwerkaufsatzes geht offenbar Hand in Hand mit Ignoranz seinem Inhalt gegenüber. Benjamin ist mit Etiketten wie Kulturkonservatismus oder technischem Fortschrittsenthusiasmus schwer zu fangen.
In der „Kritischen Gesamtausgabe“ von Werk und Nachlass Walter Benjamins ist der Kunstwerkaufsatz nun erneut erschienen, und zwar in allen fünf Fassungen und mit gut 400 Seiten Entstehungs- und Publikationsgeschichte, Dokumenten und interpretatorischem Nachwort. Im Gegensatz zu sehr vielen Produkten der akademische Benjamin-Industrie ist dieses Buch alles andere als überflüssig. Und das nicht nur, weil es das Schicksal von Klassikern ist, dass man ihren Inhalt nicht kennt, sondern weil das Nachwort von Burkhardt Lindner zum Besten gehört, was man derzeit über Benjamin lesen kann.
Walter Benjamin begann an diesem Text im September 1935 zu schreiben. Mit großem Stolz verkündete er, „dass es die materialistische Theorie der Kunst, von der man viel hat reden hören, die aber doch niemand mit eigenen Augen gesehen hatte, nun gibt“. In der Tat hatte Benjamin nicht nur neue und sehr eigene Begriffe wie Aura, Apperzeption, Chock oder das Optisch-Unbewusste geprägt, sondern eine neue Deutung der Künste vorgelegt: Er diskutierte nicht wie das Gros seiner Zeitgenossen, ob der Film nach ästhetischen Kriterien Kunst oder wie er in ideologiekritischer Perspektive zu bewerten sei, vielmehr konstatierte er, dass der Film mittels seiner technischen Reproduzierbarkeit das Kunstwerk verändere.
Was hier schlug, war in den Worten Benjamins, „die Schicksalsstunde der Kunst“. Die Möglichkeit technischer Reproduktion, am sichtbarsten am Film, verändere nicht nur das Kunstwerk selbst, sondern auch die sinnliche Wahrnehmung der Rezipienten. Und es waren Wahrnehmungsveränderungen, die nicht allein die Kunst betrafen, sondern die Conditio humana des modernen Menschen.
Von Gewicht sind daher Lindners Anmerkungen zu Benjamins anthropologischem Materialismus. Benjamin ging demnach nicht von einer existenziellen Sinnkrise „des Menschen“ aus wie andere philosophisch-anthropologische Ansätze seiner Zeit. Er orientierte sich an der Wahrnehmungsgeschichte der Menschheit. Die Menschheit, das war für Benjamin nicht primär ein Begriff, in dem sich das Subjekt der Geschichte spiegelte, um mittels seiner Vernunft den Fortschritt zur Freiheit anzustreben, sondern ein kollektiver Erfahrungs- und Erinnerungszusammenhang. In diesem Sinne waren Körperlichkeit und Wahrnehmung Medien. Die Möglichkeit technischer Reproduktion veränderte damit nicht nur die Ästhetik, sondern den Menschen.
Zwei Interventionen der Herausgeber in seit langer Zeit schwelenden Debatten sind bemerkenswert: Um 1968 herum entdeckte die Zeitschrift alternative, sekundiert von Helmut Heißenbüttel und Hannah Arendt im Merkur, dass Max Horkheimer den Kunstwerkaufsatz (und ähnlich Adorno den Baudelaire-Essay im Passagenwerk) „zensiert“ hätte, ihre Machtstellung gegenüber dem in Paris um seine materielle Exsistenz kämpfenden Benjamin ausnutzend.
Dem „Empört Euch!“ von damals halten die Herausgeber ein „Entspannt Euch!“ entgegen. Denn von „Erpressung“ zu reden sei „nicht hilfreich“: Benjamin habe von vornherein gewusst, dass Horkheimer die Zeitschrift für Sozialforschung (ZfS) als ein wissenschaftliches Organ betrachtet habe, dessen Linie und theoretische Ausrichtung dieser letztlich allein bestimmte. Und er habe sich wiederum vorbehalten, an anderem Ort eine deutsche Fassung des in der ZfS in Französisch erscheinenden Textes ohne Rücksprache mit Horkheimer zu publizieren; dies zeige die Entstehung der fünften Fassung.
In Sachen Brecht wartet der Band sogar mit einer neuen Erkenntnis auf. Ausgehend von heftigen Formulierungen Brechts über den Begriff der Aura in dessen Arbeitsjournal hatte Rolf Tiedemann 1980 im Apparat des ersten Bandes der „Gesammelten Schriften“ Benjamins angenommen, Brecht habe den Kunstwerkaufsatz abgelehnt. Nun wird gezeigt, dass sich Brechts Kritik gar nicht auf den Text von 1935, sondern auf Gespräche mit Benjamin im Sommer 1938 bezog. Benjamin hatte inzwischen das Konzept der Aura verändert. Nicht mehr wie 1935 als „Ferne, so nah sie sein mag“, als Einmaligkeit und kultisches Überbleibsel eines Kunstwerkes, sondern als anthropologisches Modell reziproken Blickaufschlages und der Blickerwiderung präsentierte Benjamin nun seine Auratheorie. Brechts Notiz lautete: „er sagt: wenn man einen blick auf sich gerichtet fühlt, auch im rücken, erwidert man ihn (!). die erwartung, daß, was man anblickt, einen selber anblickt, verschafft die aura.“ Solches hielt Brecht für „Mystik“, nicht aber den Kunstwerkaufsatz.
Man sieht: Den Kunstwerkaufsatz zu studieren heißt, auf Entdeckungsreise zu gehen. Man darf sich nur nicht daran stören, dass er ein Klassiker geworden ist.
JÖRG SPÄTER
Benjamin diskutierte nicht, ob
der Film Kunst sei, sondern wie
er die Wahrnehmung verändert
Mit Fotografie und Film schlug für ihn „die Schicksalsstunde der Kunst“: Walter Benjamin.
FOTO: EFFIGIE/BILDERBERG
Walter Benjamin:
Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Hrsg. von Burkhardt Lindner unter Mitarbeit von Simone Broll und Jessica Nitsche. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 722 Seiten,
39,95 Euro.
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