Produktdetails
- Verlag: Verlag Antje Kunstmann
- Originaltitel: Stuart
- Artikelnr. des Verlages: 97427
- Seitenzahl: 318
- Deutsch
- Abmessung: 215mm x 145mm x 215mm
- Gewicht: 508g
- ISBN-13: 9783888974274
- ISBN-10: 3888974275
- Artikelnr.: 20770987
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.04.2006Sandwiches aus der Hölle
Alexander Masters hat die klischeefreie und witzige Biographie eines Penners geschrieben
Stuart fand die erste Fassung seiner Biographie stinklangweilig. Er wollte lieber etwas "im Stil von Tom Clancy".
Kaum ein Genre ist trotz öffentlichen Zuspruchs so verödet wie die Biographie. Die ewig gleichen Schwarzweißbilder vom Haus der Großeltern, die verwickelten Familienverhältnisse mütterlicherseits, unscharfe Fotos von schielenden Vorfahren, die frühen Jahre, die Irrwege, die Beinahe-Katastrophen, die Weggefährten - jedes aufgeschriebene Leben gleicht dem anderen, und noch die spannendste Figur verlangt vom Leser die unendliche Langmut, die stets erwartbaren und nie überraschenden Dreh- und Angelpunkte des Lebenslaufs wie große Offenbarungen wegzulesen. Vorgetäuschtes Interesse und simulierte Erkenntnis, das sind Disziplinen, in denen Leser von Biographien geschult sind.
Kann auch am Gegenstand liegen: Es werden ja nur die Lebensgeschichten von entweder besonders wertvollen oder besonders diabolischen Menschen aufgeschrieben, nie soll das Vorurteil der Leser allzusehr erschüttert werden oder wenn, dann in nur allzu berechenbaren Richtungen: Der Reiche war früher arm, der Böse wäre beinahe ein Guter geworden, der Fromme war mal ein Sünder, aber für alles gibt es gute Gründe, keine Sorge und gute Nacht.
Alexander Masters hat mit "Das kurze Leben des Stuart Shorter" alles anders gemacht. Er hat die Biographie eines Penners geschrieben. Nicht die eines Clochards mit goldenem Herzen, sondern eines gewalttätigen, drogenabhängigen, unberechenbaren Chaoten. Und er schreibt darüber, wie es ist, so ein Leben aufzuschreiben, das sich gegen die Konventionen des Genres sperrt, und wie die Sandwiches aus der Hölle schmecken, die Stuart ihm bei Arbeitstreffen zubereitet: Speck-Sandwiches, deren obere Brotscheibe die Form von Stuarts Hand angenommen hat und aus denen seitlich Ketchup und Margarine fließen.
In der ersten Szene des Buches steht Stuart im Arbeitszimmer des Autors, in der Hand eine gestreifte Tesco-Plastiktüte, in der die erste Fassung des Manuskripts steckt, das Resultat zweijähriger Arbeit: "Alexander", verkündet Stuart sein Verdikt, "es ist stinklangweilig." Stuart wünschte sich einen Bestseller, eine Geschichte "so im Stil von Tom Clancy", mit Verfolgungsjagden, Geheimagenten und allem Drum und Dran. Und dann gab er dem Autor einen in der Tat genialen Tip: "Erzähl es rückwärts!"
So lernen wir Stuart Shorter gleich als chaotischen, aggressiven, messerbegeisterten Intensivtäter kennen und gehen Jahr um Jahr zurück in ein Leben, das man sich besser als Zeichentrickfilm vorstellen kann: Dauernd saust ein Zehn-Tonnen-Gewicht herunter, öffnet sich eine Falltür in unendliche Tiefen oder explodiert ein fetter Knaller unterm Sessel.
Nichts liegt diesem Buch ferner als sozialromantische Betrachtungen über das gute Herz der armen Seelen. Im Umgang mit Chaos-Pennern wie Stuart rät der Autor eigentlich nur eines: das Weite zu suchen, wenn sie auftauchen.
Alexander Masters ist aus sehr eindeutigen Motiven in die Obdachlosenfürsorgeszene geraten: Er wollte das Geld. Der Amerikaner studierte in Cambridge Mathematik und fand einen Job als Pressemitteilungsschreiber bei Wintercomfort, einer karitativen Tee- und Suppenküche für die Obdachlosen der beschaulichen Universitätsstadt. Er freute sich über den schönen Stundenlohn von neun Pfund und darüber, daß er, wenn er morgens früh ankam, von der Klientel der Einrichtung nichts mitbekam. Das änderte sich erst, als eines Tages die Staatsmacht eingriff und die Leiter von Wintercomfort mitnahm. Ruth Wyne und John Brock wurden festgenommen, weil eine Beobachtungskamera aufgezeichnet hatte, wie auf dem Hof der Einrichtung ein Drogendeal lief. Zwar wurden dort keine Drogen toleriert, wer mit so was erwischt wurde, flog raus, aber die Geschehnisse auf dem Hof waren nicht richtig zu kontrollieren. Die beiden wanderten ins Gefängnis, Mitarbeiter, Freunde und Klienten von Wintercomfort organisierten eine Kampagne, um gegen die ungerechte Verurteilung zu protestieren. Und da trat Stuart in Alexanders Leben. Um der Kampagne mehr Überzeugungskraft zu verleihen, reiste Stuart immer mit zu den Protestmeetings, baute sich mit seinem verbeulten Schädel, der langen Narbe am Hals und den "Fuck"-Tattoos auf den Händen vor dem wohlmeinenden, linksliberalen Publikum auf und erklärte, John und Ruth hätten einen Orden dafür verdient, sich tagtäglich mit Typen wie ihm abgeben zu müssen, und das gab jedes Mal standing ovations.
Bei aller Lakonik und offenen Distanz zum Phänomen des kriminellen, drogensüchtigen Stuart Shorter bemüht sich Masters in beeindruckender Weise, dessen Begrifflichkeiten und Weltsicht nachzuvollziehen, und schwankt darin zwischen Staunen, Abscheu und Bewunderung. Stets betont er dabei, wie komplex und unvorhersehbar Stuarts Leben verläuft: Montags kann er noch nicht wissen, ob er donnerstags nicht im Heim, im Knast oder sonstwo endet. Es ist ein Alltag, der zwischen Klebstoff und Heroin, zwischen Selbst- und Fremdzerstörung pendelt, und wenn es einmal abwärtsgeht, dann richtig. Oft sind übrigens ein regelmäßiges Einkommen und eine Wohnung der Ausgangspunkt für die nächstgrößere Katastrophe, weil dann die Erinnerungen hochkommen, oder, wie Stuart es ausdrückt: "Manchmal wird es so schlimm, daß einem nichts Besseres einfällt, als noch einen draufzusetzen."
Stuarts Bruder Gavvy hat sich irgendwann umgebracht, also will Stuart, der auch permanent danach trachtet, aus dem Leben zu gehen, seinen Tod als Mord kaschieren, damit seine Mutter, die tapfere, immer loyale Judith, nicht mit zwei Selbstmorden fertig werden muß. Erst später erfährt der Leser, daß Gavvy sowohl Stuart als auch ihre gemeinsame Schwester und alle möglichen anderen Kinder mißbraucht hat. Stuart hat einen feinen Riecher für Pädophile und ein Grundmißtrauen gegenüber dem "System", den Fürsorgeeinrichtungen, die ihn als Kind, der vor seinem höllischen Elternhaus floh, in Heime steckten und dort anderen Pädophilen zuführten. Das Buch nutzt den chronologischen Rückwärtsgang sehr geschickt, um Überraschungsmomente einzuführen, in denen sich scheinbar paranoide Vorstellungen Stuarts schlicht als wahr erweisen oder vermeintlich treusorgende Erzieher als die eigentlichen Peiniger.
"Das kurze Leben des Stuart Shorter" ist keine Anklage gegen die britische Gesellschaft, New Labour, die Klassengesellschaft oder sonstwas. Wenn überhaupt, dann hatte einer wie Stuart zeitlebens eher zuviel Geld als zuwenig und bekam jedes Mal, wenn er sich dazu aufraffte, danach zu fragen, mehr Hilfe, als er vertragen konnte. Noch bevor die letzte Fassung des Buchs erstellt war, lief Stuart Shorter vor den 23-Uhr-15-Zug nach London. "Das kurze Leben des Stuart Shorter" gewann dann den begehrten "Guardian First Book Award", und man fragt sich, wie Alexander Masters ohne den dreifachen Stuart als Objekt, Lektor und Quälgeist ein zweites Buch schreiben will.
NILS MINKMAR
Alexander Masters: "Das kurze Leben des Stuart Shorter". Aus dem Englischen von Malte Krutzsch, Kunstmann-Verlag. 320 Seiten, 19,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alexander Masters hat die klischeefreie und witzige Biographie eines Penners geschrieben
Stuart fand die erste Fassung seiner Biographie stinklangweilig. Er wollte lieber etwas "im Stil von Tom Clancy".
Kaum ein Genre ist trotz öffentlichen Zuspruchs so verödet wie die Biographie. Die ewig gleichen Schwarzweißbilder vom Haus der Großeltern, die verwickelten Familienverhältnisse mütterlicherseits, unscharfe Fotos von schielenden Vorfahren, die frühen Jahre, die Irrwege, die Beinahe-Katastrophen, die Weggefährten - jedes aufgeschriebene Leben gleicht dem anderen, und noch die spannendste Figur verlangt vom Leser die unendliche Langmut, die stets erwartbaren und nie überraschenden Dreh- und Angelpunkte des Lebenslaufs wie große Offenbarungen wegzulesen. Vorgetäuschtes Interesse und simulierte Erkenntnis, das sind Disziplinen, in denen Leser von Biographien geschult sind.
Kann auch am Gegenstand liegen: Es werden ja nur die Lebensgeschichten von entweder besonders wertvollen oder besonders diabolischen Menschen aufgeschrieben, nie soll das Vorurteil der Leser allzusehr erschüttert werden oder wenn, dann in nur allzu berechenbaren Richtungen: Der Reiche war früher arm, der Böse wäre beinahe ein Guter geworden, der Fromme war mal ein Sünder, aber für alles gibt es gute Gründe, keine Sorge und gute Nacht.
Alexander Masters hat mit "Das kurze Leben des Stuart Shorter" alles anders gemacht. Er hat die Biographie eines Penners geschrieben. Nicht die eines Clochards mit goldenem Herzen, sondern eines gewalttätigen, drogenabhängigen, unberechenbaren Chaoten. Und er schreibt darüber, wie es ist, so ein Leben aufzuschreiben, das sich gegen die Konventionen des Genres sperrt, und wie die Sandwiches aus der Hölle schmecken, die Stuart ihm bei Arbeitstreffen zubereitet: Speck-Sandwiches, deren obere Brotscheibe die Form von Stuarts Hand angenommen hat und aus denen seitlich Ketchup und Margarine fließen.
In der ersten Szene des Buches steht Stuart im Arbeitszimmer des Autors, in der Hand eine gestreifte Tesco-Plastiktüte, in der die erste Fassung des Manuskripts steckt, das Resultat zweijähriger Arbeit: "Alexander", verkündet Stuart sein Verdikt, "es ist stinklangweilig." Stuart wünschte sich einen Bestseller, eine Geschichte "so im Stil von Tom Clancy", mit Verfolgungsjagden, Geheimagenten und allem Drum und Dran. Und dann gab er dem Autor einen in der Tat genialen Tip: "Erzähl es rückwärts!"
So lernen wir Stuart Shorter gleich als chaotischen, aggressiven, messerbegeisterten Intensivtäter kennen und gehen Jahr um Jahr zurück in ein Leben, das man sich besser als Zeichentrickfilm vorstellen kann: Dauernd saust ein Zehn-Tonnen-Gewicht herunter, öffnet sich eine Falltür in unendliche Tiefen oder explodiert ein fetter Knaller unterm Sessel.
Nichts liegt diesem Buch ferner als sozialromantische Betrachtungen über das gute Herz der armen Seelen. Im Umgang mit Chaos-Pennern wie Stuart rät der Autor eigentlich nur eines: das Weite zu suchen, wenn sie auftauchen.
Alexander Masters ist aus sehr eindeutigen Motiven in die Obdachlosenfürsorgeszene geraten: Er wollte das Geld. Der Amerikaner studierte in Cambridge Mathematik und fand einen Job als Pressemitteilungsschreiber bei Wintercomfort, einer karitativen Tee- und Suppenküche für die Obdachlosen der beschaulichen Universitätsstadt. Er freute sich über den schönen Stundenlohn von neun Pfund und darüber, daß er, wenn er morgens früh ankam, von der Klientel der Einrichtung nichts mitbekam. Das änderte sich erst, als eines Tages die Staatsmacht eingriff und die Leiter von Wintercomfort mitnahm. Ruth Wyne und John Brock wurden festgenommen, weil eine Beobachtungskamera aufgezeichnet hatte, wie auf dem Hof der Einrichtung ein Drogendeal lief. Zwar wurden dort keine Drogen toleriert, wer mit so was erwischt wurde, flog raus, aber die Geschehnisse auf dem Hof waren nicht richtig zu kontrollieren. Die beiden wanderten ins Gefängnis, Mitarbeiter, Freunde und Klienten von Wintercomfort organisierten eine Kampagne, um gegen die ungerechte Verurteilung zu protestieren. Und da trat Stuart in Alexanders Leben. Um der Kampagne mehr Überzeugungskraft zu verleihen, reiste Stuart immer mit zu den Protestmeetings, baute sich mit seinem verbeulten Schädel, der langen Narbe am Hals und den "Fuck"-Tattoos auf den Händen vor dem wohlmeinenden, linksliberalen Publikum auf und erklärte, John und Ruth hätten einen Orden dafür verdient, sich tagtäglich mit Typen wie ihm abgeben zu müssen, und das gab jedes Mal standing ovations.
Bei aller Lakonik und offenen Distanz zum Phänomen des kriminellen, drogensüchtigen Stuart Shorter bemüht sich Masters in beeindruckender Weise, dessen Begrifflichkeiten und Weltsicht nachzuvollziehen, und schwankt darin zwischen Staunen, Abscheu und Bewunderung. Stets betont er dabei, wie komplex und unvorhersehbar Stuarts Leben verläuft: Montags kann er noch nicht wissen, ob er donnerstags nicht im Heim, im Knast oder sonstwo endet. Es ist ein Alltag, der zwischen Klebstoff und Heroin, zwischen Selbst- und Fremdzerstörung pendelt, und wenn es einmal abwärtsgeht, dann richtig. Oft sind übrigens ein regelmäßiges Einkommen und eine Wohnung der Ausgangspunkt für die nächstgrößere Katastrophe, weil dann die Erinnerungen hochkommen, oder, wie Stuart es ausdrückt: "Manchmal wird es so schlimm, daß einem nichts Besseres einfällt, als noch einen draufzusetzen."
Stuarts Bruder Gavvy hat sich irgendwann umgebracht, also will Stuart, der auch permanent danach trachtet, aus dem Leben zu gehen, seinen Tod als Mord kaschieren, damit seine Mutter, die tapfere, immer loyale Judith, nicht mit zwei Selbstmorden fertig werden muß. Erst später erfährt der Leser, daß Gavvy sowohl Stuart als auch ihre gemeinsame Schwester und alle möglichen anderen Kinder mißbraucht hat. Stuart hat einen feinen Riecher für Pädophile und ein Grundmißtrauen gegenüber dem "System", den Fürsorgeeinrichtungen, die ihn als Kind, der vor seinem höllischen Elternhaus floh, in Heime steckten und dort anderen Pädophilen zuführten. Das Buch nutzt den chronologischen Rückwärtsgang sehr geschickt, um Überraschungsmomente einzuführen, in denen sich scheinbar paranoide Vorstellungen Stuarts schlicht als wahr erweisen oder vermeintlich treusorgende Erzieher als die eigentlichen Peiniger.
"Das kurze Leben des Stuart Shorter" ist keine Anklage gegen die britische Gesellschaft, New Labour, die Klassengesellschaft oder sonstwas. Wenn überhaupt, dann hatte einer wie Stuart zeitlebens eher zuviel Geld als zuwenig und bekam jedes Mal, wenn er sich dazu aufraffte, danach zu fragen, mehr Hilfe, als er vertragen konnte. Noch bevor die letzte Fassung des Buchs erstellt war, lief Stuart Shorter vor den 23-Uhr-15-Zug nach London. "Das kurze Leben des Stuart Shorter" gewann dann den begehrten "Guardian First Book Award", und man fragt sich, wie Alexander Masters ohne den dreifachen Stuart als Objekt, Lektor und Quälgeist ein zweites Buch schreiben will.
NILS MINKMAR
Alexander Masters: "Das kurze Leben des Stuart Shorter". Aus dem Englischen von Malte Krutzsch, Kunstmann-Verlag. 320 Seiten, 19,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Ein merkwürdiges Buch sei das, findet Sebastian Domsch: In England erschien "Das kurze Leben des Obdachlosen Stuart Shorter" als Biografie , in Deutschland nun trägt es den Untertitel Roman auf den Deckeln - mit einem paradoxen Effekt: "Als Romanfigur ist Stuart unglaubwürdig, als unwahrscheinliches Subjekt einer Biografie ist er unglaublich." Denn Stuart nervt, wo er nur kann: Den Rezensenten sowieso, aber auch den Autor Alexander Masters, der nicht ohne sozialpädagogische Absichten die Geschichte des schwierigen Freundes und Obdachlosen Stuart rückwärts berichtend bis in die Kindheit ergründen will. Und dabei immer wieder an dessen wiederborstigen Dummheiten zu scheitern droht. Genau dies rettet das Buch allerdings vor der "Betroffenheitsfalle", findet Domsch. In seinen besten Momenten entstehe so das ruppiges Porträt eines Außernseiters, der den Leser "durch seine noch im Verlierertum charismatische Art gefangen nimmt und für kurze Zeit verzaubern" kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.06.2006In der Umlaufbahn um seine schwarze Wut
Und Schnitt: Alexander Masters über „Das kurze Leben des Stuart Shorter” - eine Lebensverwüstungsgeschichte
Das kann ja heiter werden. Da sitzt der Protagonist des Buches im Wohnzimmer des Autors, kramt aus einer gestreiften Plastiktüte das Manuskript hervor und sagt dann, das sei alles stinklangweilig und zu glatt. Zwei Jahre hat sich Alexander Masters zu dem Zeitpunkt an dem Text und an Stuart selbst die Stirn blutig gerieben, an dessen brutaler Lebensgeschichte genauso wie an seinen Gewaltausbrüchen, seiner Vorliebe für Selbstverstümmelung und drastisch krasse Ausdrücke. Und als er ihn jetzt im Sessel fläzen sieht, mit den billigen Tattoos, der schlechten Haut, die aus modriger Kleidung rausschaut, bezeichnet er ihn im Geiste als „Ex-Penner, Ex-Junkie und Psychopath”. Reizender Abend. Stuart aber sagt ihm unbeirrt, er solle das alles anders machen, „mehr so wie ne Mordgeschichte. Wer, was hat den Jungen umgebracht, der ich mal war? Verstehst Du? Schreib es rückwärts.”
Zumindest diesen Tipp von Stuart nimmt Alexander Masters auf, er erzählt dessen Leben rückwärts (im Original, für das Masters den Guardian First Book Award erhielt, heißt das Buch „Stuart. A Story backwards”), und so ähnelt diese Biografie insofern einer Mordgeschichte, als man von Anfang an weiß, dass Stuart Shorter sterben wird und dass es in seinem Leben jemanden gab, der ihn als Kind missbraucht haben muss. Obwohl man deshalb beim Lesen alle neu auftauchenden Personen misstrauisch in Augenschein nimmt, ist es dann doch ein Schock zu erfahren, wer am Anfang dieser Lebensverwüstungsgeschichte steht. Und als auf der vorletzten Seite der Nachtzug von London nach Kings Lynn angerauscht kommt und seinen zertrümmerten Körper über die Gleise der Hochlandbahn wirbelt, durchzuckt einen das wie jäher Hitzeschmerz, und man ist erstaunt, wie sehr Stuart einem doch ans Herz gewachsen ist über die 313 Seiten. Was insofern erstaunlich ist, als Alexander Masters keinen Hehl daraus macht, dass Shorter oftmals ein ekelhafter Widerling war.
Es gibt die ganz unten. Und es gibt, nochmal viele Stockwerke darunter, Stuart, den Paria unter Parias: Als er im vierten Untergeschoss eines Parkhauses gefunden wurde, „wo er wie ein zweiter Kaspar Hauser in der Ecke kauerte, wollten die anderen Obdachlosen nichts mit ihm zu tun haben.” Verständlich: Wenn er sich in eine Umlaufbahn um seine schwarze Wut schießt, ist kein Halten mehr, er wird dann gewalttätig, gegen andere, gegen sich selbst oder gegen seinen kleinen Sohn, den er mit einem Messer bedroht. Warum, weiß er auch nicht so genau: „Es dauert manchmal Monate, bis man richtig darüber nachdenken und es so sehen kann, wie es war. Denn wenn es passiert, lebt man in einer anderen Welt, der Kopf ist nicht im Normalzustand.”
Ein Leben aus Schnipseln
„Filmriss” wäre hier ein falscher Ausdruck, weil er impliziert, dass es vor und nach dem Riss ein kontinuierlich ablaufendes Leben gibt, erzählbar wie eine gutgegliederte fiktionale Handlung. Stuarts Leben oder seine Erinnerung daran ähnelt eher einem Haufen überbelichteter, angesengter, oder im Leimkonsum zerstörter Filmschnipsel. Alexander Masters ist sein Cutter, der die erzählten Szenen sehr gekonnt mit allgemeinem dokumentarischem Material über Obdachlosigkeit, Strafvollzug und Drogenkonsum zur nüchternen Chronologie einer Lebenskatastrophe montiert. Und, um kurz beim Film zu bleiben: Nie macht Masters aus Shorter einen tragischen Helden im Sinne des unschuldigen Opfers eines fiesen Systems, wie man das aus dem moralischen Hell-Dunkel der Ken-Loach-Filme kennt. Eher erinnert seine betont reservierte Darstellung an die Filme der Brüder Dardenne, die ungeheuerliche Dinge in einer einfachen kühlen Bildsprache erzählen, als zeichneten sie einfach nur auf, was da ist.
Masters geriert sich selbst nie als Klassenkämpfer oder Sozialromantiker. Er kommt aus New York, hat zu dem Zeitpunkt, da er vor einem Discount-Bilderrahmen-Shop in Cambridge über Stuart stolpert, einen Doktor in Physik gemacht und arbeitet der guten Bezahlung wegen als Pressereferent in einem Obdachlosenasyl. Er war immer froh, in seinem Büro nichts von all den Bewohnern mitzubekommen, die er anfangs nur „Klienten” nennt. Aber dann werden die Einrichtungsleiter festgenommen, weil sie angeblich auf dem Hof der Unterkunft den Verkauf von Heroin geduldet haben. Bei der Kampagne für die Freilassung der beiden fällt Masters der Obdachlose vom Discount-Shop auf, der all den moderat empörten Mittelschichtlern, die so gerne engagiert wären, aber nicht recht wissen, wie das geht, pragmatisch und trocken erklärt, wie man jemanden im Gefängnis tatsächlich unterstützt: nicht durch Steinewerfen, denn dann wird den beiden nur ihr Lohn gekürzt. Sondern durch Besuche und Briefe.
Drei Jahre hat Masters daraufhin mit Stuart verbracht, hat ihn immer und immer wieder besucht, seis im Krankenhaus, wo ihm der Arzt eröffnet, dass sie ihm aufgrund seiner heroingeschwächten Venen den Herzschrittmacher erst beim dritten Versuch haben einsetzen können, seis in der kleinen Sozialwohnung, die Stuart irgendwann tatsächlich ergattert, und in der er, nachdem er mal wieder ein Kapitel gelesen hat, in dem seine so prägnanten wie kruden Anekdoten über Sonderschulerlebnisse und das Leimschnüffeln in eine plane Textfläche auf weißem Papier eingehegt wurden, erklärt: „Das läuft anders als beim Rest der Welt. Was passiert, hängt nicht zusammen wie bei euch anderen. Jeder Tag ist wie kein Tag, und gleichzeitig ist er hundert verschiedene Tage.”
Masters weiß, dass Stuart und seine Verhaltensweisen ihm unerklärlich fern bleiben: „Es ist, als könne man seine Vergangenheit, indem man sie aufschreibt, nur benennen, nicht aber heraufbeschwören.” Das stimmt auch insofern, als „Das kurze Leben des Stuart Shorter” nicht so sehr durch schriftstellerische Brillanz besticht - nur selten gelingt es Masters, im Text die Umwelt der Obdachlosen so sinnlich „heraufzubeschwören”, dass man den ganzen Boden-Satz zu riechen meint, die aufgequollenen Pappkartons, auf denen er schläft, die versifften, pilzig-schwammigen Möbel in der Wohnung . . . Shorter selbst hat dagegen in seinem ungeordneten Erzählen oft eine beeindruckende Prägnanz, etwa wenn er das Elend des immer wiederkehrenden Missbrauchs durch verschiedene Heimleiter und Sozialarbeiter en passant zusammenfasst: „Ich erinnere mich nicht an das Gesicht, nur an die Bewegung.”
Verkeilte Freunde
Die große Stärke dieser Biografie ist vielmehr der lakonische, politisch unkorrekte Ton, sind die teils boshaften Dialoge, mit denen sich die beiden ungleichen Freunde beharken und in denen sie sich manchmal verkeilen wie zwei erschöpfte Sparringspartner. Zum anderen wird durch Masters umfangreiche Sozialrecherche aus dieser Biographie das Buch einer ganzen Generation - ein stilles Pamphlet über Armut und die sozialen Ränder im 21. Jahrhundert.
ALEX RÜHLE
ALEXANDER MASTERS: Das kurze Leben des Stuart Shorter. Aus dem Englischen von Malte Krutzsch. Kunstmann, München 2006, 319 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Und Schnitt: Alexander Masters über „Das kurze Leben des Stuart Shorter” - eine Lebensverwüstungsgeschichte
Das kann ja heiter werden. Da sitzt der Protagonist des Buches im Wohnzimmer des Autors, kramt aus einer gestreiften Plastiktüte das Manuskript hervor und sagt dann, das sei alles stinklangweilig und zu glatt. Zwei Jahre hat sich Alexander Masters zu dem Zeitpunkt an dem Text und an Stuart selbst die Stirn blutig gerieben, an dessen brutaler Lebensgeschichte genauso wie an seinen Gewaltausbrüchen, seiner Vorliebe für Selbstverstümmelung und drastisch krasse Ausdrücke. Und als er ihn jetzt im Sessel fläzen sieht, mit den billigen Tattoos, der schlechten Haut, die aus modriger Kleidung rausschaut, bezeichnet er ihn im Geiste als „Ex-Penner, Ex-Junkie und Psychopath”. Reizender Abend. Stuart aber sagt ihm unbeirrt, er solle das alles anders machen, „mehr so wie ne Mordgeschichte. Wer, was hat den Jungen umgebracht, der ich mal war? Verstehst Du? Schreib es rückwärts.”
Zumindest diesen Tipp von Stuart nimmt Alexander Masters auf, er erzählt dessen Leben rückwärts (im Original, für das Masters den Guardian First Book Award erhielt, heißt das Buch „Stuart. A Story backwards”), und so ähnelt diese Biografie insofern einer Mordgeschichte, als man von Anfang an weiß, dass Stuart Shorter sterben wird und dass es in seinem Leben jemanden gab, der ihn als Kind missbraucht haben muss. Obwohl man deshalb beim Lesen alle neu auftauchenden Personen misstrauisch in Augenschein nimmt, ist es dann doch ein Schock zu erfahren, wer am Anfang dieser Lebensverwüstungsgeschichte steht. Und als auf der vorletzten Seite der Nachtzug von London nach Kings Lynn angerauscht kommt und seinen zertrümmerten Körper über die Gleise der Hochlandbahn wirbelt, durchzuckt einen das wie jäher Hitzeschmerz, und man ist erstaunt, wie sehr Stuart einem doch ans Herz gewachsen ist über die 313 Seiten. Was insofern erstaunlich ist, als Alexander Masters keinen Hehl daraus macht, dass Shorter oftmals ein ekelhafter Widerling war.
Es gibt die ganz unten. Und es gibt, nochmal viele Stockwerke darunter, Stuart, den Paria unter Parias: Als er im vierten Untergeschoss eines Parkhauses gefunden wurde, „wo er wie ein zweiter Kaspar Hauser in der Ecke kauerte, wollten die anderen Obdachlosen nichts mit ihm zu tun haben.” Verständlich: Wenn er sich in eine Umlaufbahn um seine schwarze Wut schießt, ist kein Halten mehr, er wird dann gewalttätig, gegen andere, gegen sich selbst oder gegen seinen kleinen Sohn, den er mit einem Messer bedroht. Warum, weiß er auch nicht so genau: „Es dauert manchmal Monate, bis man richtig darüber nachdenken und es so sehen kann, wie es war. Denn wenn es passiert, lebt man in einer anderen Welt, der Kopf ist nicht im Normalzustand.”
Ein Leben aus Schnipseln
„Filmriss” wäre hier ein falscher Ausdruck, weil er impliziert, dass es vor und nach dem Riss ein kontinuierlich ablaufendes Leben gibt, erzählbar wie eine gutgegliederte fiktionale Handlung. Stuarts Leben oder seine Erinnerung daran ähnelt eher einem Haufen überbelichteter, angesengter, oder im Leimkonsum zerstörter Filmschnipsel. Alexander Masters ist sein Cutter, der die erzählten Szenen sehr gekonnt mit allgemeinem dokumentarischem Material über Obdachlosigkeit, Strafvollzug und Drogenkonsum zur nüchternen Chronologie einer Lebenskatastrophe montiert. Und, um kurz beim Film zu bleiben: Nie macht Masters aus Shorter einen tragischen Helden im Sinne des unschuldigen Opfers eines fiesen Systems, wie man das aus dem moralischen Hell-Dunkel der Ken-Loach-Filme kennt. Eher erinnert seine betont reservierte Darstellung an die Filme der Brüder Dardenne, die ungeheuerliche Dinge in einer einfachen kühlen Bildsprache erzählen, als zeichneten sie einfach nur auf, was da ist.
Masters geriert sich selbst nie als Klassenkämpfer oder Sozialromantiker. Er kommt aus New York, hat zu dem Zeitpunkt, da er vor einem Discount-Bilderrahmen-Shop in Cambridge über Stuart stolpert, einen Doktor in Physik gemacht und arbeitet der guten Bezahlung wegen als Pressereferent in einem Obdachlosenasyl. Er war immer froh, in seinem Büro nichts von all den Bewohnern mitzubekommen, die er anfangs nur „Klienten” nennt. Aber dann werden die Einrichtungsleiter festgenommen, weil sie angeblich auf dem Hof der Unterkunft den Verkauf von Heroin geduldet haben. Bei der Kampagne für die Freilassung der beiden fällt Masters der Obdachlose vom Discount-Shop auf, der all den moderat empörten Mittelschichtlern, die so gerne engagiert wären, aber nicht recht wissen, wie das geht, pragmatisch und trocken erklärt, wie man jemanden im Gefängnis tatsächlich unterstützt: nicht durch Steinewerfen, denn dann wird den beiden nur ihr Lohn gekürzt. Sondern durch Besuche und Briefe.
Drei Jahre hat Masters daraufhin mit Stuart verbracht, hat ihn immer und immer wieder besucht, seis im Krankenhaus, wo ihm der Arzt eröffnet, dass sie ihm aufgrund seiner heroingeschwächten Venen den Herzschrittmacher erst beim dritten Versuch haben einsetzen können, seis in der kleinen Sozialwohnung, die Stuart irgendwann tatsächlich ergattert, und in der er, nachdem er mal wieder ein Kapitel gelesen hat, in dem seine so prägnanten wie kruden Anekdoten über Sonderschulerlebnisse und das Leimschnüffeln in eine plane Textfläche auf weißem Papier eingehegt wurden, erklärt: „Das läuft anders als beim Rest der Welt. Was passiert, hängt nicht zusammen wie bei euch anderen. Jeder Tag ist wie kein Tag, und gleichzeitig ist er hundert verschiedene Tage.”
Masters weiß, dass Stuart und seine Verhaltensweisen ihm unerklärlich fern bleiben: „Es ist, als könne man seine Vergangenheit, indem man sie aufschreibt, nur benennen, nicht aber heraufbeschwören.” Das stimmt auch insofern, als „Das kurze Leben des Stuart Shorter” nicht so sehr durch schriftstellerische Brillanz besticht - nur selten gelingt es Masters, im Text die Umwelt der Obdachlosen so sinnlich „heraufzubeschwören”, dass man den ganzen Boden-Satz zu riechen meint, die aufgequollenen Pappkartons, auf denen er schläft, die versifften, pilzig-schwammigen Möbel in der Wohnung . . . Shorter selbst hat dagegen in seinem ungeordneten Erzählen oft eine beeindruckende Prägnanz, etwa wenn er das Elend des immer wiederkehrenden Missbrauchs durch verschiedene Heimleiter und Sozialarbeiter en passant zusammenfasst: „Ich erinnere mich nicht an das Gesicht, nur an die Bewegung.”
Verkeilte Freunde
Die große Stärke dieser Biografie ist vielmehr der lakonische, politisch unkorrekte Ton, sind die teils boshaften Dialoge, mit denen sich die beiden ungleichen Freunde beharken und in denen sie sich manchmal verkeilen wie zwei erschöpfte Sparringspartner. Zum anderen wird durch Masters umfangreiche Sozialrecherche aus dieser Biographie das Buch einer ganzen Generation - ein stilles Pamphlet über Armut und die sozialen Ränder im 21. Jahrhundert.
ALEX RÜHLE
ALEXANDER MASTERS: Das kurze Leben des Stuart Shorter. Aus dem Englischen von Malte Krutzsch. Kunstmann, München 2006, 319 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH