Gestern noch spielte Joris einen Ritter, der gegen Drachen kampft. Er sammelte Kaulquappen in Einmachglasern und malte lustige Bilder. Heute sitzt der Fünfjahrige vor der Kinderonkologin auf einem Krankenhausbett. Diagnose: Nierentumor. Das Leben von Joris und seiner Mutter Clarissa wird von einem Tag auf den anderen komplett umgekrempelt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Eine kunstvolle, poetische Verbindung von den emotionalen Nöten einer Mutter und ihrem an Krebs erkrankten Kind mit kunsthistorischen Perspektiven kann Kritiker Thomas Combrink in Jannie Regnerus' schmalem Roman lesen. Der fünfjährige Joris muss sich einer letztlich auch erfolgreichen Chemotherapie unterziehen, seine Mutter, Kunsthistorikerin, beschreibt diese emotional beanspruchende Zeit mit einem Metaphernreichtum, bei dem beispielsweise der medikamentenbedingte Haarausfall für ein "Gesicht wie ein Text ohne Interpunktion" sorgt, lobt Combrinck diese intensive Sprache. Für den Rezensenten spiegelt das Buch eine Symbiose von bildender Kunst und poetischer Sprache wider - so unerwartet wie überzeugend funktioniert, lobt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.06.2023Tsunami der Gefühle
Ein Roman über ein krankes Kindes
In dem kurzen Roman "Das Lamm" der niederländischen Autorin Jannie Regnerus geht es um die Krebserkrankung eines Fünfjährigen. Das Buch umspannt den Zeitraum von der Diagnose bis zum erfolgreichen Abschluss der Chemotherapie; es handelt sich um ungefähr ein halbes Jahr. Joris ist danach nicht geheilt, sein Zustand muss auch in der Zukunft medizinisch überprüft werden. Erzählt wird aus den Perspektiven der Mutter Clarissa, einer ehemaligen Kunststudentin, und ihres Sohnes. Beeindruckend ist das durch die unerwarteten Verbindungen, die sich zwischen medizinischen Sachverhalten, alltäglichen Wahrnehmungen und kunsthistorischen Sichtweisen ergeben.
Die ersten deutlichen Anzeichen der Krankheit verdichten sich in dem Satz: "Am nächsten Morgen pinkelt Joris das Zinnoberrot der altniederländischen Maler." Der Hinweis auf die holländische Malerei wird verstärkt durch den Titel des Buchs. Hier geht es einerseits um ein totes Lamm, das Joris am Anfang der Erzählung auf einem Markt in Tunis sieht. Erstmals kommt er dabei mit dem Tod in Berührung. Andererseits taucht das Tier als religiöses Motiv im Zusammenhang mit dem Genter Altar auf, den Mutter und Sohn nach Abschluss der Chemotherapie besuchen. "Agnus dei", das Lamm Gottes, lässt sich auf den fünfjährigen Jungen beziehen, der mit einer lebensbedrohlichen Krankheit konfrontiert ist, in seinem Alter aber noch keinen Begriff von Vergänglichkeit und Tod besitzt. Joris ähnelt in seiner Unschuld dem religiösen Symbol.
Erzählt ist "Das Lamm" chronologisch, entlang der Krankengeschichte des Kindes, in immer wieder neu ansetzenden Abschnitten. Das Interesse für Kunst spiegelt sich in der Gestaltung des Textes wider. Der Roman ist einerseits anschaulich, die wahrnehmbare Welt wird so geschildert, wie wir sie erleben, andererseits sind in den konkreten Details übertragene Vorstellungen enthalten: "Im Garten hinterm Haus steht ein alter Kastanienbaum, dessen Krone bis an das Dach des großen Gebäudes reicht. Alle Fenster der hinteren Fassade, über drei Stockwerke verteilt, bieten Ausblick auf die fleischfarbenen Knospen, die an den Zweigen anschwellen. Hunderte Tumore, die jeden Tag ein bisschen größer und tödlicher werden." Regnerus übersetzt das Bild der Metastasen in den Bereich der Natur.
Mit leichter künstlerischer Hand wird wenige Sätze später diese Vorstellung erweitert. Da geht es um von dem Jungen gesammelte Kaulquappen, deren Wachstum ebenfalls an einen Tumor erinnert: "Es sind nicht nur die Geschwüre im Baum, es ist auch der Froschlaich, den Joris höchstselbst aus einem Wassergraben gefischt hat und der seit Tagen in einem Einweckglas auf dem Tisch vor sich hin wuchert und sich vermehrt."
"Das Lamm" ist ein Roman von hoher emotionaler Dringlichkeit; kaum Schlimmeres ist vorstellbar als der Verlust des eigenen Kindes. Gleichzeitig wird der Tsunami der Gefühle in die Wahrnehmung der Außenwelt verschoben. Zwar ist das Buch personal geschildert, mit Sympathie für die Protagonisten, allerdings gewinnt der Text durch die Distanz, welche die Erzählinstanz zu den Figuren hat. Dieser Abstand bewirkt eine Verlangsamung des Tempos, in dem berichtet wird. Dadurch wird der unmittelbare Ausdruck der Gefühle gemildert. Das Buch ist kein Klagegesang, kein Lamento, sondern eher poetische Analyse einer bedrückenden Situation.
In dieser Schilderung hätte die Darstellung des Vaters von Joris verstärkt werden können. Er wird nur am Rande erwähnt, gehört aber zur Familie und hat Kontakt zu seinem Kind. Wie auch die Mutter leidet er mit seinem Sohn. Selbst der Großvater, dessen Beerdigung am Ende beschrieben wird, scheint für das Buch wichtiger zu sein als der Vater. Vielleicht ist der tatsächliche Held des schmalen Romans die Sprache - und das Ausdrucksvermögen der Autorin Jannie Regnerus, welche die Krankheit in poetologische Vergleiche kleiden kann. Als dem Jungen die Haare ausfallen, heißt es: "Seine Augenbrauen und Wimpern lösen sich allmählich in nichts auf, so daß sich sein Gesicht wie ein Text ohne Interpunktion 'liest'. Keine schwarzen Borsten, die sich zu Fragezeichen krümmen oder vor lauter Schreck hoch auf die Stirn klettern." THOMAS COMBRINK
Jannie Regnerus: "Das Lamm". Roman.
Aus dem Niederländischen von Ulrich Faure. Weidle Verlag, Bonn 2023.
108 S., br., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Roman über ein krankes Kindes
In dem kurzen Roman "Das Lamm" der niederländischen Autorin Jannie Regnerus geht es um die Krebserkrankung eines Fünfjährigen. Das Buch umspannt den Zeitraum von der Diagnose bis zum erfolgreichen Abschluss der Chemotherapie; es handelt sich um ungefähr ein halbes Jahr. Joris ist danach nicht geheilt, sein Zustand muss auch in der Zukunft medizinisch überprüft werden. Erzählt wird aus den Perspektiven der Mutter Clarissa, einer ehemaligen Kunststudentin, und ihres Sohnes. Beeindruckend ist das durch die unerwarteten Verbindungen, die sich zwischen medizinischen Sachverhalten, alltäglichen Wahrnehmungen und kunsthistorischen Sichtweisen ergeben.
Die ersten deutlichen Anzeichen der Krankheit verdichten sich in dem Satz: "Am nächsten Morgen pinkelt Joris das Zinnoberrot der altniederländischen Maler." Der Hinweis auf die holländische Malerei wird verstärkt durch den Titel des Buchs. Hier geht es einerseits um ein totes Lamm, das Joris am Anfang der Erzählung auf einem Markt in Tunis sieht. Erstmals kommt er dabei mit dem Tod in Berührung. Andererseits taucht das Tier als religiöses Motiv im Zusammenhang mit dem Genter Altar auf, den Mutter und Sohn nach Abschluss der Chemotherapie besuchen. "Agnus dei", das Lamm Gottes, lässt sich auf den fünfjährigen Jungen beziehen, der mit einer lebensbedrohlichen Krankheit konfrontiert ist, in seinem Alter aber noch keinen Begriff von Vergänglichkeit und Tod besitzt. Joris ähnelt in seiner Unschuld dem religiösen Symbol.
Erzählt ist "Das Lamm" chronologisch, entlang der Krankengeschichte des Kindes, in immer wieder neu ansetzenden Abschnitten. Das Interesse für Kunst spiegelt sich in der Gestaltung des Textes wider. Der Roman ist einerseits anschaulich, die wahrnehmbare Welt wird so geschildert, wie wir sie erleben, andererseits sind in den konkreten Details übertragene Vorstellungen enthalten: "Im Garten hinterm Haus steht ein alter Kastanienbaum, dessen Krone bis an das Dach des großen Gebäudes reicht. Alle Fenster der hinteren Fassade, über drei Stockwerke verteilt, bieten Ausblick auf die fleischfarbenen Knospen, die an den Zweigen anschwellen. Hunderte Tumore, die jeden Tag ein bisschen größer und tödlicher werden." Regnerus übersetzt das Bild der Metastasen in den Bereich der Natur.
Mit leichter künstlerischer Hand wird wenige Sätze später diese Vorstellung erweitert. Da geht es um von dem Jungen gesammelte Kaulquappen, deren Wachstum ebenfalls an einen Tumor erinnert: "Es sind nicht nur die Geschwüre im Baum, es ist auch der Froschlaich, den Joris höchstselbst aus einem Wassergraben gefischt hat und der seit Tagen in einem Einweckglas auf dem Tisch vor sich hin wuchert und sich vermehrt."
"Das Lamm" ist ein Roman von hoher emotionaler Dringlichkeit; kaum Schlimmeres ist vorstellbar als der Verlust des eigenen Kindes. Gleichzeitig wird der Tsunami der Gefühle in die Wahrnehmung der Außenwelt verschoben. Zwar ist das Buch personal geschildert, mit Sympathie für die Protagonisten, allerdings gewinnt der Text durch die Distanz, welche die Erzählinstanz zu den Figuren hat. Dieser Abstand bewirkt eine Verlangsamung des Tempos, in dem berichtet wird. Dadurch wird der unmittelbare Ausdruck der Gefühle gemildert. Das Buch ist kein Klagegesang, kein Lamento, sondern eher poetische Analyse einer bedrückenden Situation.
In dieser Schilderung hätte die Darstellung des Vaters von Joris verstärkt werden können. Er wird nur am Rande erwähnt, gehört aber zur Familie und hat Kontakt zu seinem Kind. Wie auch die Mutter leidet er mit seinem Sohn. Selbst der Großvater, dessen Beerdigung am Ende beschrieben wird, scheint für das Buch wichtiger zu sein als der Vater. Vielleicht ist der tatsächliche Held des schmalen Romans die Sprache - und das Ausdrucksvermögen der Autorin Jannie Regnerus, welche die Krankheit in poetologische Vergleiche kleiden kann. Als dem Jungen die Haare ausfallen, heißt es: "Seine Augenbrauen und Wimpern lösen sich allmählich in nichts auf, so daß sich sein Gesicht wie ein Text ohne Interpunktion 'liest'. Keine schwarzen Borsten, die sich zu Fragezeichen krümmen oder vor lauter Schreck hoch auf die Stirn klettern." THOMAS COMBRINK
Jannie Regnerus: "Das Lamm". Roman.
Aus dem Niederländischen von Ulrich Faure. Weidle Verlag, Bonn 2023.
108 S., br., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main