Der Nr.-1-Bestseller aus Frankreich - der neue gefeierte Roman von Leïla Slimani. Über das Leben in der Fremde, eine unkonventionelle Liebe und eine Welt im Umbruch.
Mathilde, eine junge Elsässerin, verliebt sich am Ende des Zweiten Weltkriegs in Amine Belhaj, einen marokkanischen Offizier im Dienst der französischen Armee. Die beiden heiraten und lassen sich in der Nähe von Meknès nieder, am Fuß des Atlas-Gebirges, auf einem abgelegenen Hof, den Amine von seinem Vater geerbt hat. Während er versucht, dem steinigen Boden einen kargen Ertrag abzutrotzen, zieht Mathilde die beiden Kinder groß. Voller Freiheitsdrang hatte sie den Aufbruch in ein neues, unbekanntes Leben gewagt und muss doch bald ernüchternde Erfahrungen machen: den alltäglichen Rassismus der französischen Kolonialgesellschaft, in der eine Ehe zwischen einem Araber und einer Französin nicht vorgesehen ist, die patriarchalischen Traditionen der Einheimischen, das Unverständnis des eigenen Mannes. Aber Mathilde gibt nicht auf. Sie kämpft um Anerkennung und ihr Leben im Land der Anderen.
Mathilde, eine junge Elsässerin, verliebt sich am Ende des Zweiten Weltkriegs in Amine Belhaj, einen marokkanischen Offizier im Dienst der französischen Armee. Die beiden heiraten und lassen sich in der Nähe von Meknès nieder, am Fuß des Atlas-Gebirges, auf einem abgelegenen Hof, den Amine von seinem Vater geerbt hat. Während er versucht, dem steinigen Boden einen kargen Ertrag abzutrotzen, zieht Mathilde die beiden Kinder groß. Voller Freiheitsdrang hatte sie den Aufbruch in ein neues, unbekanntes Leben gewagt und muss doch bald ernüchternde Erfahrungen machen: den alltäglichen Rassismus der französischen Kolonialgesellschaft, in der eine Ehe zwischen einem Araber und einer Französin nicht vorgesehen ist, die patriarchalischen Traditionen der Einheimischen, das Unverständnis des eigenen Mannes. Aber Mathilde gibt nicht auf. Sie kämpft um Anerkennung und ihr Leben im Land der Anderen.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Von Erfahrungen in und mit anderen Kulturen erzählen viele zeitgenössische Romane, meint Rezensent Stefan Michalzik, ungewöhnlich an Leila Slimanis Roman aber ist unter anderem die Richtung der Auswanderungsbewegung: Ihr neuer Roman spielt in den Vierzigern, eine junge, lebenshungrige Französin namens Mathilde zieht frisch verheiratet mit ihrem Ehemann, einem marokkanischen Offizier in das sogenannte französische "Protektorat". Schnell stellt sie fest, dass sie auch hier nicht von jenen "häuslichen Pflichten" befreit sein wird, vor denen sie geflohen ist. Mehr noch: Ihr Mann stellt sich bald als regelrechter Patriarch heraus, das Leben auf dem Land in Marokko ist härter als gedacht, zudem haben die beiden sowohl in Frankreich als auch in der neuen Heimat zunehmend mit rassistischer Diskriminierung zu kämpfen - umso stärker, je mehr sich die Auseinandersetzungen mit den Besatzern aufgrund der Unabhängigkeitsbestrebungen häufen, resümiert Michalzik. Slimani erzählt davon schlicht, diskret und mit aller gebotener Differenziertheit. Das Gesellschaftliche verwebt sie geschickt und leichthändig mit dem Persönlichen, so Michalzik. Ein Roman, der gerade in seiner Nüchternheit "fulminant" wirkt, schließt der angetane Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.05.2021Von der Freiheit
Den Posten als französische Kulturministerin soll Leïla Slimani ausgeschlagen haben. Lieber schreibt
sie Bücher, die zu Bestsellern werden. So wie ihr neuer Roman „Das Land der Anderen“
VON BIRTHE MÜHLHOFF
Der „Zitrangenbaum“ ist ein wiederkehrendes Bild in „Das Land der Anderen“, dem neuen Roman der französisch-marokkanischen Bestsellerautorin Leïla Slimani. Der Marokkaner Amine und seine aus dem Elsass stammende Frau Mathilde betreiben darin eine Farm bei Meknès im Norden Marokkos. Um die gemeinsame Tochter zu bespaßen, pfropft Amine einen Zitronenzweig auf einen Orangenbaum: „Wir sind wie dein Baum, halb Zitrone, halb Orange. Wir gehören zu keiner Seite.“ Die Früchte sind bitter und ungenießbar.
Der Roman erzählt, wie Mathilde und Amine im Jahr 1944 aufeinandertreffen, als die französische Armee, in der es Amine zum Offizier gebracht hat, das Elsass befreit. Bei Bier und Wurst, die Amine nicht anrührt, lernen sie sich kennen. Sie heiraten, und Mathilde kommt mit nach Marokko, wo sie zwei Kinder bekommen und eine kleine Farm hochziehen, auf dem Land von Amines Vater. Auch er diente bereits in der Kolonialarmee als Übersetzer. Ab 1953 jedoch regt sich in Marokko, wie im benachbarten Algerien, die Unabhängigkeitsbewegung, und das Paar sitzt plötzlich zwischen den Stühlen: Mathilde wird von den französischen Siedlern wegen ihrer Heirat mit einem Einheimischen verachtet; Amine gibt in der Öffentlichkeit vor, kein Problem mit Frankreich zu haben, da er für das Land sein Leben riskiert hat, doch „sobald sie alleine waren, verbarrikadierte er sich hinter seinem Schweigen und litt unter der Schmach, dass er feige gewesen war und sein Volk verriet“.
Immer häufiger kommt es zu Attentaten, es gibt Gewalt von beiden Seiten, die französischen Siedler sehen keinen Grund, auf ihre Privilegien zu verzichten. Die aufgeheizte Stimmung erfasst auch die junge Familie: Omar, der stets im Schatten seines großen Bruders Amine stand, entflammt für den Nationalismus. Amines umwerfend hübsche kleine Schwester Selma nutzt die Abwesenheit ihrer älteren Brüder, um sich in Bars und Cafés herumzutreiben. Manchmal hätte sie nicht übel Lust, ihrer traditionsverhafteten Mutter Mouilala und auch Yasmine, der Dienerin, den Kopf zu waschen. „In Selmas Augen waren beide Frauen gleichermaßen Sklavinnen, ganz egal, ob die eine die andere auf dem Markt gekauft hatte.“
Bezieht sich der Titel des Romans auf Amines Frankreich oder Mathildes Marokko? Oder auf die angrenzenden Ländereien des Nachbarn, eines Franzosen, der reiche Erträge einfährt – nicht etwa weil er fleißiger wäre, sondern weil sich die weißen Siedler die besten Böden unter den Nagel gerissen haben? In Marokko gewaltsam unterdrückt, im Elsass mit Kaffeekränzchen ins Abseits gedrängt, haben die Frauen so wenig zu sagen, dass mit „den Anderen“ auch die Männer gemeint sein können.
Leïla Slimani kam 1981 im marokkanischen Rabat auf die Welt und wuchs in einer begüterten Familie auf. Zu Hause wurde Französisch gesprochen, ihre Mutter war Ärztin und ihr Vater Ökonom, von 1977 bis 1979 sogar Wirtschaftsminister des Landes. 1999 ging sie an die prestigereiche Politikhochschule Sciences Po nach Paris und arbeitete dann als Journalistin für das Wochenmagazin Jeune Afrique. Im Gespräch mit der Financial Times mit der Frage konfrontiert, ob sie in Paris viel Diskriminierung erlebt habe, verneint Slimani. Hat ihre soziale Herkunft dabei eine Rolle gespielt? „Natürlich! Ich kenne die Codes.“
Alle Romane von Leïla Slimani wurzeln in der Realität. „Dann schlaf auch du“, der Roman, der 2016 der damals 35-Jährigen überraschend den Prix Goncourt einbrachte, schildert das Psychodrama einer Nanny, die zwei Kinder in ihrer Obhut ermordet. Ein solcher Fall hatte sich einige Jahre zuvor in New York ereignet. Auch ihr Debüt „All das zu verlieren“ ließ sich von der Nachrichtenlage jener Zeit anregen. Die Enthüllungen über Dominique Strauss-Kahn brachten Slimani auf die Idee, die Geschichte einer sexsüchtigen jungen Frau zu erzählen – einer Frau, die zwar promiskuitiv lebt, aber deswegen noch lange nicht frei ist.
Doch Slimanis Romane sind nicht einfach Nacherzählungen tatsächlicher Begebenheiten. Sie versuchen vielmehr, die Realität mit den Mitteln der Fiktion zu erkunden. Dass „Das Land der Anderen“ die Geschichte ihrer Großeltern mütterlicherseits erzählt, tut nichts zur Sache – im Buch selbst erfährt man das nicht. Zur Debatte stehen vielmehr die Unterdrückung der Frau, das Schicksal der Einheimischen in einem kolonialisierten Land und das einer europäischen Auswanderin, die sich nicht unter die Kolonisatoren mischt – ähnlich wie in den Romanen von Elena Ferrante ist hier die gesellschaftliche Realität die heimliche Hauptfigur.
Für die eingewanderte Elsässerin Mathilde gelten die strengen Regeln der marokkanischen Gesellschaft nur bedingt. Da sie keine Marokkanerin ist, wird von ihr auch nicht verlangt, sich wie eine zu verhalten. Einen Einbürgerungstest gibt es nicht. Also fährt sie Auto, schickt ihre Tochter auf die christliche Schule, und bewegt sich frei durch die Stadt. Nur darf sie sich nicht in die Politik einmischen oder sich über die örtlichen Ungerechtigkeiten aufregen. Dann wird ihr brüsk beschieden, „so ist das eben hier“.
Die Erzählstimme folgt den verschiedenen Figuren und blickt aus deren Perspektive auf die Welt, als würde sie einen Handschuh anprobieren, nur um ihn gleich wieder abzustreifen und sich den nächsten überzuziehen. Diese Stimme hat etwas von einem unpersönlich tastenden Organ, sie wahrt stets die Distanz. Die Figuren werden nicht bewertet, verurteilt oder bemitleidet. Ihre Entscheidungen sind zum Teil schlecht und Ergebnis niederer Motive. Indem das Verhalten der Protagonisten lediglich nachgezeichnet wird, entpuppt es sich mitunter als erschreckend nachvollziehbar. Slimani schreibt nüchtern, fast unterkühlt. Auch die hervorragende Übersetzerin Amelie Thoma bleibt im Duktus einer angenehm unaufgeregten Alltagssprache. Umso verblüffender ist, wie spannend sich der Roman dennoch liest, zumal darin eigentlich kaum etwas geschieht.
Schon im Psychothriller „Dann schlaf auch du“ stand eher der Alltag der Figuren als die Handlung im Vordergrund . Der Roman stellte den Lesern gleich auf der ersten Seite den Mord an den Kindern und die Nanny als Täterin vor Augen. Der Rest des Buches war von der Frage motiviert, wie es dazu hatte kommen können. In ihrem neuen Roman treibt Slimani dieses Prinzip nun auf die Spitze: Gewalt entlädt sich in Form von Wutausbrüchen, männlichem Zorn und rassistischen Diskriminierungen, aber sie ist nicht eigentlich die treibende Kraft.
Im Gegenteil, „Das Land der Anderen“ kommt beinahe ohne Handlung aus. Zugleich verzichtet Slimani darauf, die Plotlosigkeit konzeptionell zu überhöhen. Das macht diesen Roman in seiner Form außergewöhnlich frei. Nachdem sie, so liest man in französischen Zeitungen, den Posten als Kultusministerin ausgeschlagen hatte, ließ sich Slimani von Präsident Macron in die Internationale Organisation der Frankophonie berufen. Mit Ernst und Entschlossenheit und großer Überzeugungskraft tritt Leïla Slimani öffentlich für ihre Ideale ein: für Feminismus und ein selbstbestimmtes Leben und gegen Fanatismus jeder Art.
Vielleicht sollte es niemanden erstaunen, dass die bürgerliche Mitte ihre Lieblingsintellektuellen so gerne aus den Reihen der Romanschriftsteller rekrutiert. Denn ihrem Gehalt nach sind die politischen Ideen, die Autorinnen wie Leïla Slimani oder in Deutschland Nora Bossong vertreten, weder besonders neu noch besonders aufregend. Also steht und fällt alles damit, dass sie überzeugend formuliert sind. Leïla Slimani schafft das auf beinahe unheimlich elegante Weise. Ihre Romane zeigen die unüberwindlichen Gräben zwischen den Menschen, um den Schluss daraus zu ziehen, dass wir letztlich alle nur Menschen sind.
In ihrem marokkanischen
Elternhaus wurde
Französisch gesprochen
Slimanis Romane erkunden
die Realität mit
den Mitteln der Fiktion
Leïla Slimani:
Das Land der Anderen. Roman. Aus dem
Französischen von
Amelie Thoma.
Luchterhand,
München 2021.
384 Seiten, 22 Euro.
Unheimlich elegante Formulierungen: die franko-marokkanische Schriftstellerin Leïla Slimani.
Foto: AFP/LIONEL BONAVENTURE
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Den Posten als französische Kulturministerin soll Leïla Slimani ausgeschlagen haben. Lieber schreibt
sie Bücher, die zu Bestsellern werden. So wie ihr neuer Roman „Das Land der Anderen“
VON BIRTHE MÜHLHOFF
Der „Zitrangenbaum“ ist ein wiederkehrendes Bild in „Das Land der Anderen“, dem neuen Roman der französisch-marokkanischen Bestsellerautorin Leïla Slimani. Der Marokkaner Amine und seine aus dem Elsass stammende Frau Mathilde betreiben darin eine Farm bei Meknès im Norden Marokkos. Um die gemeinsame Tochter zu bespaßen, pfropft Amine einen Zitronenzweig auf einen Orangenbaum: „Wir sind wie dein Baum, halb Zitrone, halb Orange. Wir gehören zu keiner Seite.“ Die Früchte sind bitter und ungenießbar.
Der Roman erzählt, wie Mathilde und Amine im Jahr 1944 aufeinandertreffen, als die französische Armee, in der es Amine zum Offizier gebracht hat, das Elsass befreit. Bei Bier und Wurst, die Amine nicht anrührt, lernen sie sich kennen. Sie heiraten, und Mathilde kommt mit nach Marokko, wo sie zwei Kinder bekommen und eine kleine Farm hochziehen, auf dem Land von Amines Vater. Auch er diente bereits in der Kolonialarmee als Übersetzer. Ab 1953 jedoch regt sich in Marokko, wie im benachbarten Algerien, die Unabhängigkeitsbewegung, und das Paar sitzt plötzlich zwischen den Stühlen: Mathilde wird von den französischen Siedlern wegen ihrer Heirat mit einem Einheimischen verachtet; Amine gibt in der Öffentlichkeit vor, kein Problem mit Frankreich zu haben, da er für das Land sein Leben riskiert hat, doch „sobald sie alleine waren, verbarrikadierte er sich hinter seinem Schweigen und litt unter der Schmach, dass er feige gewesen war und sein Volk verriet“.
Immer häufiger kommt es zu Attentaten, es gibt Gewalt von beiden Seiten, die französischen Siedler sehen keinen Grund, auf ihre Privilegien zu verzichten. Die aufgeheizte Stimmung erfasst auch die junge Familie: Omar, der stets im Schatten seines großen Bruders Amine stand, entflammt für den Nationalismus. Amines umwerfend hübsche kleine Schwester Selma nutzt die Abwesenheit ihrer älteren Brüder, um sich in Bars und Cafés herumzutreiben. Manchmal hätte sie nicht übel Lust, ihrer traditionsverhafteten Mutter Mouilala und auch Yasmine, der Dienerin, den Kopf zu waschen. „In Selmas Augen waren beide Frauen gleichermaßen Sklavinnen, ganz egal, ob die eine die andere auf dem Markt gekauft hatte.“
Bezieht sich der Titel des Romans auf Amines Frankreich oder Mathildes Marokko? Oder auf die angrenzenden Ländereien des Nachbarn, eines Franzosen, der reiche Erträge einfährt – nicht etwa weil er fleißiger wäre, sondern weil sich die weißen Siedler die besten Böden unter den Nagel gerissen haben? In Marokko gewaltsam unterdrückt, im Elsass mit Kaffeekränzchen ins Abseits gedrängt, haben die Frauen so wenig zu sagen, dass mit „den Anderen“ auch die Männer gemeint sein können.
Leïla Slimani kam 1981 im marokkanischen Rabat auf die Welt und wuchs in einer begüterten Familie auf. Zu Hause wurde Französisch gesprochen, ihre Mutter war Ärztin und ihr Vater Ökonom, von 1977 bis 1979 sogar Wirtschaftsminister des Landes. 1999 ging sie an die prestigereiche Politikhochschule Sciences Po nach Paris und arbeitete dann als Journalistin für das Wochenmagazin Jeune Afrique. Im Gespräch mit der Financial Times mit der Frage konfrontiert, ob sie in Paris viel Diskriminierung erlebt habe, verneint Slimani. Hat ihre soziale Herkunft dabei eine Rolle gespielt? „Natürlich! Ich kenne die Codes.“
Alle Romane von Leïla Slimani wurzeln in der Realität. „Dann schlaf auch du“, der Roman, der 2016 der damals 35-Jährigen überraschend den Prix Goncourt einbrachte, schildert das Psychodrama einer Nanny, die zwei Kinder in ihrer Obhut ermordet. Ein solcher Fall hatte sich einige Jahre zuvor in New York ereignet. Auch ihr Debüt „All das zu verlieren“ ließ sich von der Nachrichtenlage jener Zeit anregen. Die Enthüllungen über Dominique Strauss-Kahn brachten Slimani auf die Idee, die Geschichte einer sexsüchtigen jungen Frau zu erzählen – einer Frau, die zwar promiskuitiv lebt, aber deswegen noch lange nicht frei ist.
Doch Slimanis Romane sind nicht einfach Nacherzählungen tatsächlicher Begebenheiten. Sie versuchen vielmehr, die Realität mit den Mitteln der Fiktion zu erkunden. Dass „Das Land der Anderen“ die Geschichte ihrer Großeltern mütterlicherseits erzählt, tut nichts zur Sache – im Buch selbst erfährt man das nicht. Zur Debatte stehen vielmehr die Unterdrückung der Frau, das Schicksal der Einheimischen in einem kolonialisierten Land und das einer europäischen Auswanderin, die sich nicht unter die Kolonisatoren mischt – ähnlich wie in den Romanen von Elena Ferrante ist hier die gesellschaftliche Realität die heimliche Hauptfigur.
Für die eingewanderte Elsässerin Mathilde gelten die strengen Regeln der marokkanischen Gesellschaft nur bedingt. Da sie keine Marokkanerin ist, wird von ihr auch nicht verlangt, sich wie eine zu verhalten. Einen Einbürgerungstest gibt es nicht. Also fährt sie Auto, schickt ihre Tochter auf die christliche Schule, und bewegt sich frei durch die Stadt. Nur darf sie sich nicht in die Politik einmischen oder sich über die örtlichen Ungerechtigkeiten aufregen. Dann wird ihr brüsk beschieden, „so ist das eben hier“.
Die Erzählstimme folgt den verschiedenen Figuren und blickt aus deren Perspektive auf die Welt, als würde sie einen Handschuh anprobieren, nur um ihn gleich wieder abzustreifen und sich den nächsten überzuziehen. Diese Stimme hat etwas von einem unpersönlich tastenden Organ, sie wahrt stets die Distanz. Die Figuren werden nicht bewertet, verurteilt oder bemitleidet. Ihre Entscheidungen sind zum Teil schlecht und Ergebnis niederer Motive. Indem das Verhalten der Protagonisten lediglich nachgezeichnet wird, entpuppt es sich mitunter als erschreckend nachvollziehbar. Slimani schreibt nüchtern, fast unterkühlt. Auch die hervorragende Übersetzerin Amelie Thoma bleibt im Duktus einer angenehm unaufgeregten Alltagssprache. Umso verblüffender ist, wie spannend sich der Roman dennoch liest, zumal darin eigentlich kaum etwas geschieht.
Schon im Psychothriller „Dann schlaf auch du“ stand eher der Alltag der Figuren als die Handlung im Vordergrund . Der Roman stellte den Lesern gleich auf der ersten Seite den Mord an den Kindern und die Nanny als Täterin vor Augen. Der Rest des Buches war von der Frage motiviert, wie es dazu hatte kommen können. In ihrem neuen Roman treibt Slimani dieses Prinzip nun auf die Spitze: Gewalt entlädt sich in Form von Wutausbrüchen, männlichem Zorn und rassistischen Diskriminierungen, aber sie ist nicht eigentlich die treibende Kraft.
Im Gegenteil, „Das Land der Anderen“ kommt beinahe ohne Handlung aus. Zugleich verzichtet Slimani darauf, die Plotlosigkeit konzeptionell zu überhöhen. Das macht diesen Roman in seiner Form außergewöhnlich frei. Nachdem sie, so liest man in französischen Zeitungen, den Posten als Kultusministerin ausgeschlagen hatte, ließ sich Slimani von Präsident Macron in die Internationale Organisation der Frankophonie berufen. Mit Ernst und Entschlossenheit und großer Überzeugungskraft tritt Leïla Slimani öffentlich für ihre Ideale ein: für Feminismus und ein selbstbestimmtes Leben und gegen Fanatismus jeder Art.
Vielleicht sollte es niemanden erstaunen, dass die bürgerliche Mitte ihre Lieblingsintellektuellen so gerne aus den Reihen der Romanschriftsteller rekrutiert. Denn ihrem Gehalt nach sind die politischen Ideen, die Autorinnen wie Leïla Slimani oder in Deutschland Nora Bossong vertreten, weder besonders neu noch besonders aufregend. Also steht und fällt alles damit, dass sie überzeugend formuliert sind. Leïla Slimani schafft das auf beinahe unheimlich elegante Weise. Ihre Romane zeigen die unüberwindlichen Gräben zwischen den Menschen, um den Schluss daraus zu ziehen, dass wir letztlich alle nur Menschen sind.
In ihrem marokkanischen
Elternhaus wurde
Französisch gesprochen
Slimanis Romane erkunden
die Realität mit
den Mitteln der Fiktion
Leïla Slimani:
Das Land der Anderen. Roman. Aus dem
Französischen von
Amelie Thoma.
Luchterhand,
München 2021.
384 Seiten, 22 Euro.
Unheimlich elegante Formulierungen: die franko-marokkanische Schriftstellerin Leïla Slimani.
Foto: AFP/LIONEL BONAVENTURE
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»Ein großartiger Roman, der Menschen, Landschaft und Epoche mit unerhörter erzählerischer Dichte schildert.« Thomas Linden / Kölnische Rundschau