Von den allerersten vorgeschichtlichen Werkzeugen aus Stein, Knochen und Holz an über die ersten keramischen Erzeugnisse bis hin zu Autos, Computern und Herzschrittmachern haben die Dinge einen weiten Weg mit uns gemeinsam zurückgelegt. Dinge stellen Beziehungskontenpunkte zu den Leben der anderen dar, Kontinuitätsglieder zwischen den Generationen, sie verbinden individuelle und kollektive Geschichten, Natur und menschliche Kultur. Bodei entwirft in seinem dichtgewebten Essay einen Weg zu einem neuen Verständnis von Dingen und ihrer Bedeutung für unser Leben. »Die Dinge leben unter bestimmten Bedingungen : Wenn wir sie neben und mit uns bestehen lassen, ohne sie vereinnahmen zu wollen; wenn sie unsere Leben mit denen der anderen verbinden; wenn wir uns durch ihre Vermittlung der Welt öffnen; wenn wir eine Einstellung kultivieren, dieden Gegensatz zwischen einer verschlossenen, selbstreferenziellen Innerlichkeit und einer trägen Äußerlichkeit zu überwinden vermag.«
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.09.2020Lebendiger Sinn ist keine Ressource der Warenwelt
Der italienische Philosoph Remo Bodei denkt darüber nach, wie sich den Dingen die rechte Aufmerksamkeit entgegenbringen lässt
Seit über zwanzig Jahren sind Objekte und Dinge ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Geistes- und Sozialwissenschaften geraten. Insbesondere in der Archäologie, der Kunst- und Wissenschaftsgeschichte hat diese Wende zur materiellen Kultur zu neuen empirischen Einsichten geführt. Hinter dem bequemen Schlagwort vom "material turn" verbergen sich allerdings unterschiedliche theoretische Positionen, die nicht unbedingt miteinander vereinbar sind. So teilen nicht alle Autoren, die sich mit der kulturellen und sozialen Rolle von Dingen auseinandersetzen, das Bedürfnis nach einer neuen Metaphysik, wie sie etwa der französische Philosoph Bruno Latour oder neuere Spielarten des "spekulativen Realismus" und der objektzentrierten Ontologie verheißen, die allesamt die Überwindung einer anthropozentrischen Sichtweise auf nichtmenschliche Entitäten anvisieren.
Das nun in einer präzisen und gut lesbaren deutschen Übersetzung vorliegende Buch des vor kurzem verstorbenen italienischen Philosophen Remo Bodei steht durchaus quer zu diesen theoretischen Projekten. Bereits im ersten Teil seines dichten Essays wird in Form von Vignetten die philosophische Werkzeugkiste vorgeführt, mittels derer Bodei die Wahrnehmung des Lesers für das "Leben der Dinge" zu schärfen sucht. Neben Hegel und Freud bilden dabei die phänomenologische Tradition von Husserl bis Merleau-Ponty, die Kunst- und Kulturphilosophie Georg Simmels sowie die Kritik an der Konsumgesellschaft der Kritischen Theorie zentrale Referenzpunkte.
In konziser und erhellender Form insistiert Bodei zunächst auf der begrifflichen Unterscheidung zwischen Ding oder Sache und Objekt oder Gegenstand. Während letzterer Begriff ein sich dem Subjekt entgegenstellendes und zu überwindendes Hindernis bezeichnet, erweist sich die Sache vielmehr als ein Knotenpunkt von Beziehungen, in die das Subjekt immer schon einbegriffen ist. In diesem Sinn weist die Sache weit über physische Dinge oder materielle Objekte hinaus, da sie auch Personen und Ideale umfasst und all das bezeichnet, was öffentlich zu diskutieren ist, weil es das Gemeinwohl betrifft.
Angesichts dieser zentralen begrifflichen Differenzierung wird ein Problem offenbar, das die deutsche Übersetzung nur schwer lösen konnte. Die "Sachen" in den Titel zu setzen, hätte den Bezug zu Husserls Maxime, zu den "Sachen selbst" zurückzugehen, evident gemacht. Die Entscheidung für die "Dinge" ist allerdings nachvollziehbar, da sich Bodei hauptsächlich der Frage zuwendet, wie in der postindustriellen Konsum- und Wegwerfgesellschaft aus Gegenständen mit symbolischen Bedeutungen und Affekten aufgeladene Sachen werden. Die philosophische Reflexion grenzt sich von der nostalgischen Klage ab, dass "die belebten, die erlebten, die uns mitwissenden Dinge" der alten Zeit, wie Rilke es einmal formulierte, mit dem Aufkommen massenhaft seriell fabrizierter Gegenstände unwiederbringlich verloren sind. Denn die Trauer um den Verlust einer als authentisch erlebten, aus der Vergangenheit stammenden Dingwelt kann keine neuen Sinnbezüge und Identitäten stiften, die sich der Zukunft öffnen.
Anknüpfend an Simmel, Bloch und Heidegger bestimmt Bodei das Problem des Lebens der Dinge als eines, das nicht von der Wahrnehmung ihrer sinnlichen Qualitäten, sondern von deren Fähigkeit ausgeht, die menschliche Innerlichkeit leibhaft und emotional zu affizieren. In diesem Sinne stehen die Dinge immer schon in einer vorbegrifflichen affektiven Beziehung zum Menschen, angefangen von den allerersten Dingen des Lebens wie dem Spielzeug (den "Übergangsobjekten" Winnicotts, deren Bedeutung Bodei allerdings nur streift).
Die uns umgebenden Dinge sind Teil einer menschlichen Kultur, die aus den Arbeiten von Tausenden von Menschen besteht, Ausdruck eines "objektiven Geistes", der nur sinnhaft bleiben kann, wenn weitere Generationen ihn entziffern und mit subjektiver Bedeutung füllen. Die Dinge sind tot, sobald wir sie nicht mehr sprechen lassen können. Somit ist es der "konstante und bewusste Zugriff der Individuen - begleitet von der Energie und ,Wärme' ihrer Aktivität und ihrer Interpretationsanstrengung, der es dem ,objektiven Geist' untersagt, sich zu verfestigen und in Unverständlichkeit zu erstarren". Angesichts der raschen Verfallszeit der Waren in den westlichen postindustriellen Gesellschaften sieht Bodei den zentralen ethischen und politischen Einsatz in der Ausbildung von neuen Haltungen, die die latent in den Dingen vorhandenen Sinnschichten wieder lesbar und so lebendig werden lassen, um der Versteinerung der Kultur und der Reduktion von Gütern auf reine Statussymbole entgegenzuarbeiten.
Eine rettende Funktion, die es erlaubt, die Dinge zu lieben, kommt für Bodei dabei der bildenden Kunst zu. Im holländischen Stillleben des siebzehnten Jahrhunderts werden, anders als in der katholischen Tradition des Vanitas-Motivs, die Gegenstände nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer Vergänglichkeit gezeigt, sondern in Form von Miniaturen verewigt. Als Sinnbilder der "Fülle des Lebens" zeigen sie, wie das, was lebt und sterben muss, dennoch bleibt und fortbesteht.
Mit dem Ziel, die uns selbstverständlichen Dinge quasi hinterrücks zu erwischen, verfahren Bodeis Reflexionen oft sprunghaft und schicken den Leser dabei zudem auf eine lohnenswerte Entdeckungsreise durch eine Fülle von Beispielen aus der abendländischen Literatur und Kunst. Sie münden in den bedenkenswerten Appell, eine der antiken Philosophie ähnelnde Lebenskunst zu schaffen, die auch eine den Dingen gewidmete Aufmerksamkeit und Sorge beinhaltet. Diese Haltung, die Dinge neben und mit uns bestehen lassen kann, ohne sie vereinnahmen oder beherrschen zu wollen, ist sich nicht nur der Tatsache bewusst, dass "der letzte Rock keine Taschen hat". Sie stellt uns vor die Herausforderung, mit der begrenzten Zahl an Dingen und Personen, denen wir während unseres kurzen Lebens begegnen, intelligente und affektive Beziehungen einzugehen, die über rein instrumentelle oder egoistische Interessen hinausgehen.
ANDREAS MAYER
Remo Bodei:
"Das Leben der Dinge".
Aus dem Italienischen von Daniel Creutz. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020. 223 S., br., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der italienische Philosoph Remo Bodei denkt darüber nach, wie sich den Dingen die rechte Aufmerksamkeit entgegenbringen lässt
Seit über zwanzig Jahren sind Objekte und Dinge ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Geistes- und Sozialwissenschaften geraten. Insbesondere in der Archäologie, der Kunst- und Wissenschaftsgeschichte hat diese Wende zur materiellen Kultur zu neuen empirischen Einsichten geführt. Hinter dem bequemen Schlagwort vom "material turn" verbergen sich allerdings unterschiedliche theoretische Positionen, die nicht unbedingt miteinander vereinbar sind. So teilen nicht alle Autoren, die sich mit der kulturellen und sozialen Rolle von Dingen auseinandersetzen, das Bedürfnis nach einer neuen Metaphysik, wie sie etwa der französische Philosoph Bruno Latour oder neuere Spielarten des "spekulativen Realismus" und der objektzentrierten Ontologie verheißen, die allesamt die Überwindung einer anthropozentrischen Sichtweise auf nichtmenschliche Entitäten anvisieren.
Das nun in einer präzisen und gut lesbaren deutschen Übersetzung vorliegende Buch des vor kurzem verstorbenen italienischen Philosophen Remo Bodei steht durchaus quer zu diesen theoretischen Projekten. Bereits im ersten Teil seines dichten Essays wird in Form von Vignetten die philosophische Werkzeugkiste vorgeführt, mittels derer Bodei die Wahrnehmung des Lesers für das "Leben der Dinge" zu schärfen sucht. Neben Hegel und Freud bilden dabei die phänomenologische Tradition von Husserl bis Merleau-Ponty, die Kunst- und Kulturphilosophie Georg Simmels sowie die Kritik an der Konsumgesellschaft der Kritischen Theorie zentrale Referenzpunkte.
In konziser und erhellender Form insistiert Bodei zunächst auf der begrifflichen Unterscheidung zwischen Ding oder Sache und Objekt oder Gegenstand. Während letzterer Begriff ein sich dem Subjekt entgegenstellendes und zu überwindendes Hindernis bezeichnet, erweist sich die Sache vielmehr als ein Knotenpunkt von Beziehungen, in die das Subjekt immer schon einbegriffen ist. In diesem Sinn weist die Sache weit über physische Dinge oder materielle Objekte hinaus, da sie auch Personen und Ideale umfasst und all das bezeichnet, was öffentlich zu diskutieren ist, weil es das Gemeinwohl betrifft.
Angesichts dieser zentralen begrifflichen Differenzierung wird ein Problem offenbar, das die deutsche Übersetzung nur schwer lösen konnte. Die "Sachen" in den Titel zu setzen, hätte den Bezug zu Husserls Maxime, zu den "Sachen selbst" zurückzugehen, evident gemacht. Die Entscheidung für die "Dinge" ist allerdings nachvollziehbar, da sich Bodei hauptsächlich der Frage zuwendet, wie in der postindustriellen Konsum- und Wegwerfgesellschaft aus Gegenständen mit symbolischen Bedeutungen und Affekten aufgeladene Sachen werden. Die philosophische Reflexion grenzt sich von der nostalgischen Klage ab, dass "die belebten, die erlebten, die uns mitwissenden Dinge" der alten Zeit, wie Rilke es einmal formulierte, mit dem Aufkommen massenhaft seriell fabrizierter Gegenstände unwiederbringlich verloren sind. Denn die Trauer um den Verlust einer als authentisch erlebten, aus der Vergangenheit stammenden Dingwelt kann keine neuen Sinnbezüge und Identitäten stiften, die sich der Zukunft öffnen.
Anknüpfend an Simmel, Bloch und Heidegger bestimmt Bodei das Problem des Lebens der Dinge als eines, das nicht von der Wahrnehmung ihrer sinnlichen Qualitäten, sondern von deren Fähigkeit ausgeht, die menschliche Innerlichkeit leibhaft und emotional zu affizieren. In diesem Sinne stehen die Dinge immer schon in einer vorbegrifflichen affektiven Beziehung zum Menschen, angefangen von den allerersten Dingen des Lebens wie dem Spielzeug (den "Übergangsobjekten" Winnicotts, deren Bedeutung Bodei allerdings nur streift).
Die uns umgebenden Dinge sind Teil einer menschlichen Kultur, die aus den Arbeiten von Tausenden von Menschen besteht, Ausdruck eines "objektiven Geistes", der nur sinnhaft bleiben kann, wenn weitere Generationen ihn entziffern und mit subjektiver Bedeutung füllen. Die Dinge sind tot, sobald wir sie nicht mehr sprechen lassen können. Somit ist es der "konstante und bewusste Zugriff der Individuen - begleitet von der Energie und ,Wärme' ihrer Aktivität und ihrer Interpretationsanstrengung, der es dem ,objektiven Geist' untersagt, sich zu verfestigen und in Unverständlichkeit zu erstarren". Angesichts der raschen Verfallszeit der Waren in den westlichen postindustriellen Gesellschaften sieht Bodei den zentralen ethischen und politischen Einsatz in der Ausbildung von neuen Haltungen, die die latent in den Dingen vorhandenen Sinnschichten wieder lesbar und so lebendig werden lassen, um der Versteinerung der Kultur und der Reduktion von Gütern auf reine Statussymbole entgegenzuarbeiten.
Eine rettende Funktion, die es erlaubt, die Dinge zu lieben, kommt für Bodei dabei der bildenden Kunst zu. Im holländischen Stillleben des siebzehnten Jahrhunderts werden, anders als in der katholischen Tradition des Vanitas-Motivs, die Gegenstände nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer Vergänglichkeit gezeigt, sondern in Form von Miniaturen verewigt. Als Sinnbilder der "Fülle des Lebens" zeigen sie, wie das, was lebt und sterben muss, dennoch bleibt und fortbesteht.
Mit dem Ziel, die uns selbstverständlichen Dinge quasi hinterrücks zu erwischen, verfahren Bodeis Reflexionen oft sprunghaft und schicken den Leser dabei zudem auf eine lohnenswerte Entdeckungsreise durch eine Fülle von Beispielen aus der abendländischen Literatur und Kunst. Sie münden in den bedenkenswerten Appell, eine der antiken Philosophie ähnelnde Lebenskunst zu schaffen, die auch eine den Dingen gewidmete Aufmerksamkeit und Sorge beinhaltet. Diese Haltung, die Dinge neben und mit uns bestehen lassen kann, ohne sie vereinnahmen oder beherrschen zu wollen, ist sich nicht nur der Tatsache bewusst, dass "der letzte Rock keine Taschen hat". Sie stellt uns vor die Herausforderung, mit der begrenzten Zahl an Dingen und Personen, denen wir während unseres kurzen Lebens begegnen, intelligente und affektive Beziehungen einzugehen, die über rein instrumentelle oder egoistische Interessen hinausgehen.
ANDREAS MAYER
Remo Bodei:
"Das Leben der Dinge".
Aus dem Italienischen von Daniel Creutz. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020. 223 S., br., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Andreas Mayer lässt sich von dem italienischen Philosophen Remo Bodei das Sein der selbstverständlichen Dinge erschließen. Den Appell des Autors, zu einer Lebenskunst zu finden, die den Dingen als bedeutendem Teil unserer Kultur Aufmerksamkeit zukommen lässt, schließt sich Mayer gerne an. Zuvor hat ihm Bodei mit Hegel, Freud, Husserl, Merleau-Ponty und anderen konzise und erhellend in begrifflicher Klarheit die Sache vom Ding geschieden, mit Simmel, Bloch und Heidegger das "Problem des Lebens der Dinge" erörtert und die in Bezug auf die Dinge "rettende Funktion" der bildenden Kunst erläutert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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