Der andere Haffner: Als junger Feuilletonist berichtete er über Leben und Lebensgefühl der 30er Jahre. Komische Glossen stehen neben Reiseskizzen, Kindheitserinnerungen und skeptischen Betrachtungen über moderne technische Errungenschaften. Und wer genau liest, wird immer wieder Hinweise finden auf Haffners sicheres Gespür für die Katastrophe, auf die Deutschland in diesen Jahren zusteuerte.
Sebastian Haffners Feuilletons aus den Jahren 1933 bis 1938
Es ist möglich - und jedenfalls zu hoffen -, daß mehrere Generationen von Deutschen aus keiner anderen Zeit so viele Fakten kennen wie aus den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft. Das sind vor allem Fakten der politischen Geschichte im weitesten Sinn: Fakten über die Umstände der sogenannten "Machtergreifung", über die Maßnahmen der gesellschaftlichen "Gleichschaltung" oder über militärische Bewegungen im Zweiten Weltkrieg. Wenn wir an den Alltag der Deutschen in den dreißiger und frühen vierziger Jahren denken, dann orientiert sich unsere Vorstellung an solchen Fakten. Wir sehen vor uns die Schicksale von Verfolgten, Inhaftierten und Emigranten, wir sehen steile Parteikarrieren und ihr zukunftsloses Ende, wir sehen Hitlerjugend, Arbeitsdienst und Sommerferien unter dem Motto "Kraft durch Freude".
Denselben Generationen, zu deren historischem Wissen diese Bilder und Begriffe gehören, waren auch der Name, das markante Gesicht und das politische Temperament von Sebastian Haffner vertraut. Seit den frühen sechziger Jahren hatte er seine regelmäßigen Auftritte in Werner Höfers legendärem "Internationalen Frühschoppen", aber auch als Kolumnist auf den Seiten der "Welt" und des "Sterns". Seine Leser erklärten oder entschuldigten Haffners damals sehr exzentrische Meinungen, die rasch zu wirksamen (und auch sehr erwartbaren) Mißklängen in der Selbstzufriedenheit der mittleren Bundesrepublik wurden, mit dem Umstand, daß er vor Kriegsbeginn nach England emigriert und erst 1957 wieder nach Deutschland zurückgekommen war.
Vor vier Jahren hat man anläßlich der postumen Publikation seiner bereits 1939 verfaßten Erinnerungen an die zwanziger und dreißiger Jahre, "Geschichte eines Deutschen", Sebastian Haffner als einen scharfen historischen Analytiker und brillanten Schriftsteller kennengelernt. Gewiß war es dieser Erfolg, der den Hanser Verlag bewogen hat, nun einen weiteren Haffner-Band mit seinen zwischen 1933 und 1938 entstandenen Feuilletons nachzulegen. Und an der durch den Überraschungserfolg gewachsenen Erwartung werden Haffners Texte nun weiterhin gemessen werden.
Ihn als ambitionierten Autor ernst zu nehmen, legt auch seine Biographie nahe. Wie viele junge Männer aus gutem Hause, so liest man im Nachwort des Haffner-Doktoranden Jürgen Peter Schmied, gab er dem Druck seines Vaters nach und wurde, entgegen seinen literarischen Neigungen, 1925 Student der Rechtswissenschaften. Obwohl er bis Mitte der dreißiger Jahre noch gelegentlich juristisch tätig war, galten sein Hauptinteresse und sein Ehrgeiz den Feuilletons, die er seit dem Sommer 1933 für die "Vossische Zeitung" und gelegentlich auch für Frauen- und Modejournale des Ullstein-Konzerns schrieb. Ganz realistisch hat Haffner selbst später bemerkt, daß nicht zuletzt das Publikationsverbot für jüdische Autoren solche Möglichkeiten eröffnete - selbst für Autoren, die sich wie er auf vorsichtiger oder unnachgiebiger Distanz zum Nationalsozialismus hielten. Ebensowenig hat er je verhehlt, daß vor allem private Gründe für seine Emigration nach England ausschlaggebend waren.
Der Klappentext feiert Haffners Feuilletons als "ein Lesevergnügen, wie man es sonst nur von Kerr und Polgar kennt", und das Nachwort sucht mit großer Hartnäckigkeit ebenso nach Spuren von Selbstzensur und Zensur wie nach "verdeckter" politischer Kritik. Wer mit der literarischen Tradition vertraut ist, für die Kerrs und Polgars Namen stehen, und wer um das Prestige der "Vossischen Zeitung" weiß, wird - zumal nach der Lektüre von Haffners Artikeln - auf diese Einschätzungen mit einiger Skepsis reagieren. Denn um es freundlich-neutral zu formulieren: Auch eine verspätete Entdeckung macht nicht jeden Text zu einem großen Text, und nicht jedes Manuskript, das unpubliziert in einem Nachlaß auftaucht, ist ein unwiderlegbarer Beweis für das Walten der Zensur.
Es lebe der Sport
Interessant an den einundsiebzig Texten von Haffner ist eher, daß sie so wenig auf die deutsche Politik jener Jahre eingehen. Statt dessen entfalten sie ein Bild vom gepflegten Alltagsleben in der modernen Metropole Berlin, dessen Themen sich längst vor 1933 etabliert hatten. Die Aggressivität der Autofahrer klagt Haffner zum Beispiel mit kaum übersehbarer Bewunderung an, und er reflektiert keck über Bier, Wein und härtere Spirituosen, aber auch über den mondänen Gestus des Zigarettenrauchers, um bald in ebenso fortschrittlichem Geist Mode, Fotografie und immer wieder den Sport als nicht kanonisierte Künste der neuen Zeit zu preisen. Von Radio, Grammophon und Telefon fühlt sich der Autor angezogen und hat zugleich einen Blick dafür, wie prekär die Institution der Ehe in seiner Welt geworden ist. Er kommentiert die Metamorphosen eines Rechtssystems, das seiner Grundlagen nicht mehr gewiß ist, und in den Bildern von der vornehmen Gesellschaft Frankreichs und Englands schließlich stilisiert sich Haffner, der damals noch unter seinem Geburtsnamen Raimund Pretzel publizierte, zum kosmopolitisch Gebildeten.
Aber obwohl der Horizont seiner Themen eher konventionell gewirkt haben muß, glaubte Haffner, daß die Stimmung, in der sich seine Themen darboten (auch "Stimmung" war ein Lieblingsbegriff jener Zeit), an der Wende von den zwanziger zu den dreißiger Jahren umgeschlagen war, ohne dies allerdings mit der Politik in Zusammenhang zu bringen. Was seinen Blick auf die Bewegung in der eigenen Gegenwart lenkte, war vielmehr die Wiederaufführung des Stummfilm-Hits "Fräulein Else" mit Elisabeth Bergner aus dem Jahr 1929, der während des Sommers 1933 wieder in den Berliner Kinos zu sehen war. Als Symptom eines historischen Umschlags in kürzester Zeit beeindruckte ihn vor allem die "moralische Hilflosigkeit", mit der das Drehbuch, die Regie und auch die Schauspieler von "Fräulein Else" der Faszination verbrecherischer Charaktere gehuldigt hatten.
Doch die Gegenwart, scheint Haffner dann aufatmend festzustellen, befinde sich auf einem Weg der Besserung, den er sich offenbar als einen Weg moralisch gefestigter Lebensbejahung vorstellte: "Ist das, was wir hier sehen, nicht unser eigenes, noch gestern gelebtes Leben? Es ist albtraumhaft, ihm heute zuzusehen, kaum anders, als ob man im Traum sich selbst als Leiche sieht. Aber an dem Schreck, mit dem wir erwachen, merken wir, daß wir leben, und das ungläubige Erstaunen, mit dem wir diesem todesnahen Leben zusahen, das vor wenigen Jahren fast unser eigenes war, zeigt uns, wie fern wir dem Tode sind."
Langschläfer und Müßiggeher
In der jüngsten Vergangenheit ist es zu einem Gemeinplatz der Literaturbetrachter geworden, alle Erzähler moderner Großstadtszenen - in meist etwas schiefer Analogie zu Charles Baudelaire - als distanzierte Flaneure zu feiern. Doch der implizite Erzähler dieser Feuilletons ist nichts weniger als distanziert - vor allem sich selbst gegenüber. Er schmunzelt vielmehr in milder Großzügigkeit über die eigenen - ja doch nur vermeintlichen - Fehler. Man kann gar nicht nicht umhin, sich einen müde die Augen reibenden oder sein Büro vermeidenden Sebastian Haffner vorzustellen, wenn der Erzähler etwas umständlich eine Lanze für den "Langschläfer" bricht oder die Freuden des "Müßiggangs" lobt. Zu einer wahren Geduldsprobe wird die peinlich genaue Geschichte vom kleinen Sebastian (alias Raimund), dem der Glauben an den Weihnachtsmann verloren geht. Zugleich setzt der Erzähler augenzwinkerndes Einverständnis mit dem Leser voraus. Dies zeigt vor allem ein Repertoire von anheimelnden Adverbien, welche er großzügig in seine Texte streut: "tunlichst", "namentlich", "bedächtig", "zwanglos", "schlecht und recht" - vor allem aber immer wieder "bekanntlich" vollzieht der Alltag sich so, wie er sich eben vollziehen muß. Nichts wird je überraschende oder gar dramatische Dimensionen annehmen.
Es gibt aber auch eine Stärke dieses Erzählers, die möglicherweise seiner goldigen Durchschnittlichkeit als Voraussetzung bedurfte. Haffner war sich seiner Stärke bewußt und hat sie sogar explizit beschrieben: "Die meisten Gemeinplätze werden zu Wahrheiten, wenn man sie auf den Kopf stellt." Das beste Beispiel für dieses Verfahren findet man gleich im ersten Text der gesammelten Haffner-Feuilletons unter dem bezeichnenden Titel "Aller Anfang ist leicht!!" Ganz unvermeidlich beginnt er mit einer - insgesamt eher witzigen - Widerlegung des in der Überschrift umgeschriebenen Sprichworts. Darauf folgt etwas abrupt: "Habe ich jetzt hinlänglich bewiesen, daß aller Anfang leicht ist?"
Diese Frage kann natürlich nur zu der - nach allem Vorausgehenden: paradoxalen - Bestätigung des Sprichworts führen, und dann ermöglicht sein rhetorischer Parcours dem Erzähler ein Finale, dessen Ton an den größeren Zeitgenossen Erich Kästner erinnern würde - wenn er nur der Versuchung einer erneut augenzwinkernden Geste in den letzten Worten widerstanden hätte: "Im Leben stimmen von zwei widersprechenden Wahrheiten immer beide - das ist eins seiner Geheimnisse. Das Leben ist entsetzlich kompliziert; zu kompliziert, zu schwierig für einen schlichten, gesunden Menschenverstand. Es ist nichts von diesem schwierigen Leben. Machen wir es uns leichter. Fangen wir ein neues an. Mit einem Kognak."
Anders als seine unter dem Titel "Geschichte eines Deutschen" veröffentlichten Erinnerungen gehören Sebastian Haffners Feuilletons also weder zur großen Literatur noch zur Literatur des Widerstands. Sie ohne Enttäuschung und Langeweile zu lesen setzt ein differenziertes Interesse an der deutschen Geschichte voraus. Ein "differenziertes" Interesse deshalb, weil diese Texte nichts Neues beitragen zu unserem Standardwissen von der Welt des "Dritten Reichs" oder zu den daraus abgeleiteten Vorstellungen vom Alltagsleben zwischen 1933 und 1945. Doch Haffners schmunzelnd-behäbiger Erzähler läßt uns ahnen, daß das Jahrzehnt, welches auf den Orkan der zwanziger Jahre folgte, auch in Deutschland ein modernisiertes Biedermeier hätte werden können. Daß es eine aufkommende Biedermeier-Welt gewesen sein muß, die sie erstickten, macht unser Verständnis vom Aufstieg und Fall der Nationalsozialisten differenzierter.
Sebastian Haffner: "Das Leben der Fußgänger". Feuilletons 1933-1938. Herausgegeben von Jürgen Peter Schmied. Hanser Verlag, München 2004. 397 S., geb., 23,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Das reine Lesevergnügen... Diese Sammlung von Feuilletons, zeigt einmal mehr die glänzende Feder dieses journalistisch-essayistischen Jungtalents. Haffner beweist eine hoch empfindliche Witterung für Abenteuer und Mythen des Alltags, für die Lüfte und Lüste des großstädtischen Zeitgeists. Dem jetzt in der Auswahl seines Feuilletons zu folgen, ist das reine Lesevergnügen. Ein Glücksfall von Buch."
Peter von Becker, Der Tagesspiegel, 14.02.04
"Hier schreibt kein seriöser Kulturhistoriker, sondern ein historischer Belletrist mit dem Willen zur dramatischen Pointe... Ein Meister der kleinen Form."
Stephan Schlak, Süddeutsche Zeitung, 16.03.04
"Eine der schönsten Entdeckungen des Bücherfrühlings."
Die Zeit, 07.04.04
"Haffner bewies schon früh eine außergewöhnliche literarische Begabung... Beeindruckend ist Haffners Fähigkeit, auch scheinbar nebensächliche Phänomene der Zeit zu erfassen und ebenso ironisch wie pointiert zu beschreiben.
Reinhard Mohr, Der Spiegel, 22.03.04
"Ein erstaunlich stilsicherer, scharf beobachtender Autor - ein Meister der kleinen Form. Der Ton erinnert an die großen Berliner Feuilletonisten, an Alfred Kehr, Victor Aubertin, Franz Hessel, Walther Kiaulehn... Haffner-Liebhabern bieten dies Kostproben die reizvolle Möglichkeit, bereits bestimmte Züge und Eigenarten zu entdecken, die den späteren großen politischen Journalisten und begnadeten Historiker auszeichnen sollten, so vor allem seine Lust an der brillanten Pointe und originellen These... Die "Geschichte eines Deutschen", dieser Geniestreich des gerade 31-Jährigen, kam nicht aus heiterem Himmel; er war vorbereitet worden in diesen wunderbaren kleinen listigen Harmlosigkeiten, deren Lektüre noch heute großen Genuss bietet."
Volker Ullrich, Die Zeit, 07.04.04
"Ein Buch, wie ein sinnlicher Bummel über einen Trödelmarkt..."
Ralf Hanselle, Rheinischer Merkur, 11.03.04
Peter von Becker, Der Tagesspiegel, 14.02.04
"Hier schreibt kein seriöser Kulturhistoriker, sondern ein historischer Belletrist mit dem Willen zur dramatischen Pointe... Ein Meister der kleinen Form."
Stephan Schlak, Süddeutsche Zeitung, 16.03.04
"Eine der schönsten Entdeckungen des Bücherfrühlings."
Die Zeit, 07.04.04
"Haffner bewies schon früh eine außergewöhnliche literarische Begabung... Beeindruckend ist Haffners Fähigkeit, auch scheinbar nebensächliche Phänomene der Zeit zu erfassen und ebenso ironisch wie pointiert zu beschreiben.
Reinhard Mohr, Der Spiegel, 22.03.04
"Ein erstaunlich stilsicherer, scharf beobachtender Autor - ein Meister der kleinen Form. Der Ton erinnert an die großen Berliner Feuilletonisten, an Alfred Kehr, Victor Aubertin, Franz Hessel, Walther Kiaulehn... Haffner-Liebhabern bieten dies Kostproben die reizvolle Möglichkeit, bereits bestimmte Züge und Eigenarten zu entdecken, die den späteren großen politischen Journalisten und begnadeten Historiker auszeichnen sollten, so vor allem seine Lust an der brillanten Pointe und originellen These... Die "Geschichte eines Deutschen", dieser Geniestreich des gerade 31-Jährigen, kam nicht aus heiterem Himmel; er war vorbereitet worden in diesen wunderbaren kleinen listigen Harmlosigkeiten, deren Lektüre noch heute großen Genuss bietet."
Volker Ullrich, Die Zeit, 07.04.04
"Ein Buch, wie ein sinnlicher Bummel über einen Trödelmarkt..."
Ralf Hanselle, Rheinischer Merkur, 11.03.04
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Hat nicht gerade erst Karl Schlögel die Historiker dazu aufgerufen, wieder mehr zu Fuß zu gehen, staunt Stephan Schlak. Mit Sebastian Haffner können wir einen Historiker als passionierten Fußgänger erleben, der in den 30er Jahren schon die modernen Asphalt-Sitten der Großstadt erkundete und in kleinen Feuilletons für "Die Dame" und andere Mode- und Unterhaltungsjournale festhielt, berichtet Schlak. Vor dem Hintergrund ihres Erscheinungsdatums, den Jahren 1933 - 1938, erstaune der unpolitische Charakter dieser Feuilletons, so Schlak und fragt: Musste man sich wirklich Gedanken machen, was nun männlicher sei, Kaffee oder Tee, während Hitler seine Eroberungszüge plante? Seines Erachtens sollte man den privaten Charakter dieser Notate heute programmatisch, das heißt politisch interpretieren, gerade das Verweigern der politischen Berichterstattung habe eine subversive Note. Indirekt werde der Einbruch des politischen Terrors in den Alltag damit durchaus geschildert, stellt Schlak fest und zitiert Haffner mit dem Satz, "mit der Zigarette zwischen den Fingern ist es unmöglich, den Übermenschen zu spielen". Nach all den heroischen Gestalten, die das 20. Jahrhundert verschlissen habe, Bürger, Arbeiter, Soldaten, sei der Fußgänger vielleicht die vorerst letzte "liberale heroische Figur", die uns geblieben sei, merkt Schlak ebenso erstaunt wie erleichtert zum Abschluss an.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH