Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 8,00 €
  • Broschiertes Buch

Der andere Haffner: Als junger Feuilletonist berichtete er über Leben und Lebensgefühl der 30er Jahre. Komische Glossen stehen neben Reiseskizzen, Kindheitserinnerungen und skeptischen Betrachtungen über moderne technische Errungenschaften. Und wer genau liest, wird immer wieder Hinweise finden auf Haffners sicheres Gespür für die Katastrophe, auf die Deutschland in diesen Jahren zusteuerte.

Produktbeschreibung
Der andere Haffner: Als junger Feuilletonist berichtete er über Leben und Lebensgefühl der 30er Jahre. Komische Glossen stehen neben Reiseskizzen, Kindheitserinnerungen und skeptischen Betrachtungen über moderne technische Errungenschaften. Und wer genau liest, wird immer wieder Hinweise finden auf Haffners sicheres Gespür für die Katastrophe, auf die Deutschland in diesen Jahren zusteuerte.
Autorenporträt
Sebastian Haffner, geb. 1907 in Berlin, war promovierter Jurist. Er emigrierte 1938 nach England, wo er als Journalist für den 'Observer" arbeitete'. Seine 'Geschichte eines Deutschen' verfasste er 1939 im Londoner Exil. 1954 kehrte er nach Deutschland zurück, schrieb zunächst für die 'Welt', später für den 'Stern'. Haffner ist Autor einer Reihe historischer Bestseller, u. a. 'Anmerkungen zu Hitler'. Er starb 1999.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.06.2004

Ersticktes Biedermeier
Sebastian Haffners Feuilletons aus den Jahren 1933 bis 1938

Es ist möglich - und jedenfalls zu hoffen -, daß mehrere Generationen von Deutschen aus keiner anderen Zeit so viele Fakten kennen wie aus den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft. Das sind vor allem Fakten der politischen Geschichte im weitesten Sinn: Fakten über die Umstände der sogenannten "Machtergreifung", über die Maßnahmen der gesellschaftlichen "Gleichschaltung" oder über militärische Bewegungen im Zweiten Weltkrieg. Wenn wir an den Alltag der Deutschen in den dreißiger und frühen vierziger Jahren denken, dann orientiert sich unsere Vorstellung an solchen Fakten. Wir sehen vor uns die Schicksale von Verfolgten, Inhaftierten und Emigranten, wir sehen steile Parteikarrieren und ihr zukunftsloses Ende, wir sehen Hitlerjugend, Arbeitsdienst und Sommerferien unter dem Motto "Kraft durch Freude".

Denselben Generationen, zu deren historischem Wissen diese Bilder und Begriffe gehören, waren auch der Name, das markante Gesicht und das politische Temperament von Sebastian Haffner vertraut. Seit den frühen sechziger Jahren hatte er seine regelmäßigen Auftritte in Werner Höfers legendärem "Internationalen Frühschoppen", aber auch als Kolumnist auf den Seiten der "Welt" und des "Sterns". Seine Leser erklärten oder entschuldigten Haffners damals sehr exzentrische Meinungen, die rasch zu wirksamen (und auch sehr erwartbaren) Mißklängen in der Selbstzufriedenheit der mittleren Bundesrepublik wurden, mit dem Umstand, daß er vor Kriegsbeginn nach England emigriert und erst 1957 wieder nach Deutschland zurückgekommen war.

Vor vier Jahren hat man anläßlich der postumen Publikation seiner bereits 1939 verfaßten Erinnerungen an die zwanziger und dreißiger Jahre, "Geschichte eines Deutschen", Sebastian Haffner als einen scharfen historischen Analytiker und brillanten Schriftsteller kennengelernt. Gewiß war es dieser Erfolg, der den Hanser Verlag bewogen hat, nun einen weiteren Haffner-Band mit seinen zwischen 1933 und 1938 entstandenen Feuilletons nachzulegen. Und an der durch den Überraschungserfolg gewachsenen Erwartung werden Haffners Texte nun weiterhin gemessen werden.

Ihn als ambitionierten Autor ernst zu nehmen, legt auch seine Biographie nahe. Wie viele junge Männer aus gutem Hause, so liest man im Nachwort des Haffner-Doktoranden Jürgen Peter Schmied, gab er dem Druck seines Vaters nach und wurde, entgegen seinen literarischen Neigungen, 1925 Student der Rechtswissenschaften. Obwohl er bis Mitte der dreißiger Jahre noch gelegentlich juristisch tätig war, galten sein Hauptinteresse und sein Ehrgeiz den Feuilletons, die er seit dem Sommer 1933 für die "Vossische Zeitung" und gelegentlich auch für Frauen- und Modejournale des Ullstein-Konzerns schrieb. Ganz realistisch hat Haffner selbst später bemerkt, daß nicht zuletzt das Publikationsverbot für jüdische Autoren solche Möglichkeiten eröffnete - selbst für Autoren, die sich wie er auf vorsichtiger oder unnachgiebiger Distanz zum Nationalsozialismus hielten. Ebensowenig hat er je verhehlt, daß vor allem private Gründe für seine Emigration nach England ausschlaggebend waren.

Der Klappentext feiert Haffners Feuilletons als "ein Lesevergnügen, wie man es sonst nur von Kerr und Polgar kennt", und das Nachwort sucht mit großer Hartnäckigkeit ebenso nach Spuren von Selbstzensur und Zensur wie nach "verdeckter" politischer Kritik. Wer mit der literarischen Tradition vertraut ist, für die Kerrs und Polgars Namen stehen, und wer um das Prestige der "Vossischen Zeitung" weiß, wird - zumal nach der Lektüre von Haffners Artikeln - auf diese Einschätzungen mit einiger Skepsis reagieren. Denn um es freundlich-neutral zu formulieren: Auch eine verspätete Entdeckung macht nicht jeden Text zu einem großen Text, und nicht jedes Manuskript, das unpubliziert in einem Nachlaß auftaucht, ist ein unwiderlegbarer Beweis für das Walten der Zensur.

Es lebe der Sport

Interessant an den einundsiebzig Texten von Haffner ist eher, daß sie so wenig auf die deutsche Politik jener Jahre eingehen. Statt dessen entfalten sie ein Bild vom gepflegten Alltagsleben in der modernen Metropole Berlin, dessen Themen sich längst vor 1933 etabliert hatten. Die Aggressivität der Autofahrer klagt Haffner zum Beispiel mit kaum übersehbarer Bewunderung an, und er reflektiert keck über Bier, Wein und härtere Spirituosen, aber auch über den mondänen Gestus des Zigarettenrauchers, um bald in ebenso fortschrittlichem Geist Mode, Fotografie und immer wieder den Sport als nicht kanonisierte Künste der neuen Zeit zu preisen. Von Radio, Grammophon und Telefon fühlt sich der Autor angezogen und hat zugleich einen Blick dafür, wie prekär die Institution der Ehe in seiner Welt geworden ist. Er kommentiert die Metamorphosen eines Rechtssystems, das seiner Grundlagen nicht mehr gewiß ist, und in den Bildern von der vornehmen Gesellschaft Frankreichs und Englands schließlich stilisiert sich Haffner, der damals noch unter seinem Geburtsnamen Raimund Pretzel publizierte, zum kosmopolitisch Gebildeten.

Aber obwohl der Horizont seiner Themen eher konventionell gewirkt haben muß, glaubte Haffner, daß die Stimmung, in der sich seine Themen darboten (auch "Stimmung" war ein Lieblingsbegriff jener Zeit), an der Wende von den zwanziger zu den dreißiger Jahren umgeschlagen war, ohne dies allerdings mit der Politik in Zusammenhang zu bringen. Was seinen Blick auf die Bewegung in der eigenen Gegenwart lenkte, war vielmehr die Wiederaufführung des Stummfilm-Hits "Fräulein Else" mit Elisabeth Bergner aus dem Jahr 1929, der während des Sommers 1933 wieder in den Berliner Kinos zu sehen war. Als Symptom eines historischen Umschlags in kürzester Zeit beeindruckte ihn vor allem die "moralische Hilflosigkeit", mit der das Drehbuch, die Regie und auch die Schauspieler von "Fräulein Else" der Faszination verbrecherischer Charaktere gehuldigt hatten.

Doch die Gegenwart, scheint Haffner dann aufatmend festzustellen, befinde sich auf einem Weg der Besserung, den er sich offenbar als einen Weg moralisch gefestigter Lebensbejahung vorstellte: "Ist das, was wir hier sehen, nicht unser eigenes, noch gestern gelebtes Leben? Es ist albtraumhaft, ihm heute zuzusehen, kaum anders, als ob man im Traum sich selbst als Leiche sieht. Aber an dem Schreck, mit dem wir erwachen, merken wir, daß wir leben, und das ungläubige Erstaunen, mit dem wir diesem todesnahen Leben zusahen, das vor wenigen Jahren fast unser eigenes war, zeigt uns, wie fern wir dem Tode sind."

Langschläfer und Müßiggeher

In der jüngsten Vergangenheit ist es zu einem Gemeinplatz der Literaturbetrachter geworden, alle Erzähler moderner Großstadtszenen - in meist etwas schiefer Analogie zu Charles Baudelaire - als distanzierte Flaneure zu feiern. Doch der implizite Erzähler dieser Feuilletons ist nichts weniger als distanziert - vor allem sich selbst gegenüber. Er schmunzelt vielmehr in milder Großzügigkeit über die eigenen - ja doch nur vermeintlichen - Fehler. Man kann gar nicht nicht umhin, sich einen müde die Augen reibenden oder sein Büro vermeidenden Sebastian Haffner vorzustellen, wenn der Erzähler etwas umständlich eine Lanze für den "Langschläfer" bricht oder die Freuden des "Müßiggangs" lobt. Zu einer wahren Geduldsprobe wird die peinlich genaue Geschichte vom kleinen Sebastian (alias Raimund), dem der Glauben an den Weihnachtsmann verloren geht. Zugleich setzt der Erzähler augenzwinkerndes Einverständnis mit dem Leser voraus. Dies zeigt vor allem ein Repertoire von anheimelnden Adverbien, welche er großzügig in seine Texte streut: "tunlichst", "namentlich", "bedächtig", "zwanglos", "schlecht und recht" - vor allem aber immer wieder "bekanntlich" vollzieht der Alltag sich so, wie er sich eben vollziehen muß. Nichts wird je überraschende oder gar dramatische Dimensionen annehmen.

Es gibt aber auch eine Stärke dieses Erzählers, die möglicherweise seiner goldigen Durchschnittlichkeit als Voraussetzung bedurfte. Haffner war sich seiner Stärke bewußt und hat sie sogar explizit beschrieben: "Die meisten Gemeinplätze werden zu Wahrheiten, wenn man sie auf den Kopf stellt." Das beste Beispiel für dieses Verfahren findet man gleich im ersten Text der gesammelten Haffner-Feuilletons unter dem bezeichnenden Titel "Aller Anfang ist leicht!!" Ganz unvermeidlich beginnt er mit einer - insgesamt eher witzigen - Widerlegung des in der Überschrift umgeschriebenen Sprichworts. Darauf folgt etwas abrupt: "Habe ich jetzt hinlänglich bewiesen, daß aller Anfang leicht ist?"

Diese Frage kann natürlich nur zu der - nach allem Vorausgehenden: paradoxalen - Bestätigung des Sprichworts führen, und dann ermöglicht sein rhetorischer Parcours dem Erzähler ein Finale, dessen Ton an den größeren Zeitgenossen Erich Kästner erinnern würde - wenn er nur der Versuchung einer erneut augenzwinkernden Geste in den letzten Worten widerstanden hätte: "Im Leben stimmen von zwei widersprechenden Wahrheiten immer beide - das ist eins seiner Geheimnisse. Das Leben ist entsetzlich kompliziert; zu kompliziert, zu schwierig für einen schlichten, gesunden Menschenverstand. Es ist nichts von diesem schwierigen Leben. Machen wir es uns leichter. Fangen wir ein neues an. Mit einem Kognak."

Anders als seine unter dem Titel "Geschichte eines Deutschen" veröffentlichten Erinnerungen gehören Sebastian Haffners Feuilletons also weder zur großen Literatur noch zur Literatur des Widerstands. Sie ohne Enttäuschung und Langeweile zu lesen setzt ein differenziertes Interesse an der deutschen Geschichte voraus. Ein "differenziertes" Interesse deshalb, weil diese Texte nichts Neues beitragen zu unserem Standardwissen von der Welt des "Dritten Reichs" oder zu den daraus abgeleiteten Vorstellungen vom Alltagsleben zwischen 1933 und 1945. Doch Haffners schmunzelnd-behäbiger Erzähler läßt uns ahnen, daß das Jahrzehnt, welches auf den Orkan der zwanziger Jahre folgte, auch in Deutschland ein modernisiertes Biedermeier hätte werden können. Daß es eine aufkommende Biedermeier-Welt gewesen sein muß, die sie erstickten, macht unser Verständnis vom Aufstieg und Fall der Nationalsozialisten differenzierter.

Sebastian Haffner: "Das Leben der Fußgänger". Feuilletons 1933-1938. Herausgegeben von Jürgen Peter Schmied. Hanser Verlag, München 2004. 397 S., geb., 23,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2004

Fußgänger in stürmischer Zeit
Glück ist nur das Unauffällige: Sebastian Haffners Feuilletons 1933 bis 1938
Sebastian Haffner war ein leidenschaftlicher historischer Fußgänger. Damit scheint er ganz im Trend zu liegen, erging doch unlängst von Karl Schlögel die Aufforderung an die Historiker, mal wieder öfter spazieren zu gehen. Wer nur über seinen Büchern und Begriffen hocke, so der Flaneur aus Frankfurt/Oder, versperre sich neue intellektuelle Räume. Hat Sebastian Haffner, der Teufelskerl, der für seine Katastrophenprophetie in seiner „Geschichte eines Deutschen” allseits gerühmt wurde, nun etwa auch methodisch in der Geschichtswissenschaft die Nase vorn?
Seit ewigen Zeiten hüsteln die Professionellen in den Seminaren, wenn der Name Haffner fällt. Hartnäckig hält sich das Vorurteil, Haffner reduziere Geschichte auf das Drama großer Männer („Von Bismark zu Hitler”). Nun erleben wir Haffner in seinen frühen Feuilletons, die er unter seinem Geburtsnamen Raimund Pretzel in den Dreißigern für Unterhaltungsblätter und Modejournale mit so sprechenden Titeln wie Koralle oder Die Dame schrieb und die nun erstmals gesammelt aus dem Nachlass vorliegen, als einen Meister der kleinen Form.
Hier, in Haffners Miszellen begegnen uns schon all die Marotten und Mythen des Alltags, denen die Kulturgeschichte neuerdings eigenständige Monographien widmet – die Eisenbahnreise, die Langeweile, das Wetter und der Abreißkalender. „Ich glaube, für die Wende, die das europäische Leben um die Mitte des vorigen Jahrhunderts nahm, ist die Erfindung des Abreißkalenders nicht weniger bezeichnend als die Erfindung von Eisenbahn, Dampfschiff und Elektrizität.”
Genau spürt Haffner dem Einbruch der modernen Asphalt-Sitten in die Bürgerwelt nach – „Die neuen Haustiere” heißen „Grammophon, Radio und Telefon”. Aber Haffner begnügt sich nicht mit einem asketischen historischen Blick auf die neuen Gegenstände; er zielt auf Höheres. Hier schreibt kein seriöser Kulturhistoriker, sondern ein historischer Belletrist mit dem Willen zur dramatischen Pointe. „Alle Maschinen sind maskierte Dämonen”, hebt er im April 1936 über die neuen technischen Medien an, „daher auch ihre unheimliche Macht”.
Mit ganz besonderer Wollust verteidigt Haffner in seinen Psychogrammen die kleinen Laster des Lebens – das „Langschlafen”, das „Rumliegenlassen”, den „Müßiggang”. Haffners Stilfibel liest sich als libertäre Variante zu den konservativen neudeutschen „Manieren”. Jede Abweichung scheint ihm per se aufregender zu sein als die Regel. „Ja, man kann es ruhig sagen, die Welt ist um eine ironische Nuance ärmer geworden, seit der Müßiggang in Misskredit gekommen ist.” So köstlich sich diese Alltags-Aphorismen – „Die Zeitung ist der Schnuller des Mannes” – aber auch lesen, heute fänden sie sich in unserer Zeitung versteckt auf der Stil-Seite des Lebens. „Ja, ja!”, hat Haffner einmal seinem „fremden Freund” Joachim Fest anvertraut, „das ist der Lauf der Welt: Man beginnt als Genie und endet als Redakteur für die Rätselecke.”
In dieser wildgewordenen Welt
Man sollte Haffners Alltagspoesien nicht allzusehr mit der späteren Aura des politischen Emigranten belasten; vieles ist fraglos für die Rätselecke und den Zeitungskonsum des Tages geschrieben. Aneinandergereiht lesen sich Haffners Stilstücke als eine Kette von Harmlosigkeiten. Heute, wo alles privat geworden ist, wirkt das Dauerpoetisieren des Alltags schnell banal.
Lesen wir Haffners Texte als feuilletonistische Begleittexte zur nationalsozialistischen Ermächtigungspolitik, sticht ihr unpolitischer Charakter deutlich hervor. Während Hitler seine Verfolgungspolitik in die Tat umsetzte, macht Haffner sich Gedanken, wer eigentlich männlicher sei – Kaffee oder Tee? Aber dieser strenge politische Blick führt – nicht nur, weil die zeitgenössische Zensur kaum ein anderes Schreiben ermöglichte – in die Irre. Vielmehr erkennen wir heute in Haffners Beharren auf der privaten Perspektive eine subversive Geste. Alles war ja in den ersten Jahren nach der Nazi-Machtergreifung politisch geworden; selbst im Zugabteil herrschte zwischen Fensteröffnern und Fensterschließern, wie Haffner in einer unveröffentlichten Groteske 1934 schreibt, der „latente Bürgerkrieg”. „Die Parteien der Fensteröffner und Fensterschließer sind keine Interessentenhaufen; es sind Weltanschauungsparteien.”
Haffner hält in seinen Miniaturen den Einbruch des politischen Terrors in die alte bürgerliche Märchenwelt genau fest. Bei „Wertheim” im Dekorations-Schaufenster bedient Weihnachten 1933 nicht nur Schneewittchen die sieben Zwerge, sondern marschieren „ein Fenster weiter” auf einer großen Walze SA und SS durch das Brandenburger-Tor.
Man muss den restlos privaten Charakter dieser feuilletonistischen Notate programmatisch lesen. So angeschaut, erzählen all die Aufzeichnungen über die vorletzten Dinge von Haffners politischer Verweigerung. „Mit der Zigarette zwischen den Fingern ist es unmöglich, den Übermenschen zu spielen.” Die aufgeputschten Deutschen hätten es nach dem 1. Weltkrieg versäumt, hieß Haffners zivilisatorisches Credo in seinen gefeierten Jugenderinnerungen, sich mit dem Glück im privaten Winkel auszusöhnen. „Das Unauffällige, Langweilige und Nichterzählenswerte” – formuliert er nun 1937 in einer kleinen Eloge auf die „Ansichtspostkarte” – „das gerade ist das Glück”.
Vielleicht ist der Fußgänger bei Haffner nicht der neueste kulturgeschichtliche Herold, ohne Frage ist er eine heroische liberale Figur, die sich der allgemeinen Mobilmachung verweigert. „Ungepanzert und waffenlos” schlägt er sich „in schlichter Zivilkleidung” im Großstadtdschungel seine Schneisen. Nach all den Gestalten, den Arbeitern, Bürgern und Soldaten, die das Jahrhundert verschlissen hat, scheint vorerst nur der Fußgänger übrig geblieben zu sein. „Denn inmitten des tobenden und klirrenden Wirrwarrs losgelassener Mammutmächte auf dieser wildgewordenen Welt – was ist jeder einzelne von uns anderes als ein Fußgänger?”
STEPHAN SCHLAK
SEBASTIAN HAFFNER: Das Leben der Fußgänger. Feuilletons 1933 - 1938. Herausgegeben von Jürgen Peter Schmied. Carl Hanser Verlag, München 2004. 396 Seiten, 23,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr