Heute gehört sie zu den Stars der Straßenfotografie und muss den Vergleich mit Legenden wie Helen Levitt oder Diane Arbus nicht scheuen. Doch zu ihren Lebzeiten hat nie jemand auch nur ein einziges Foto von ihr gesehen. Vierzig Jahre lang hatte Vivian Maier als Kindermädchen gearbeitet und fast wie nebenbei 140 000 Fotos geschossen: Ein beeindruckendes Werk, das sie bis zu ihrem Tod nie jemandem gezeigt hatte. Seit dem sensationellen Zufallsfund ihrer Bilder bei einer Zwangsversteigerung 2007 und der Oscar-nominierten Dokumentation Finding Vivian Maier gingen ihre Fotografien um die Welt, wurden von Kritik und Öffentlichkeit gefeiert und in allen namhaft en Galerien ausgestellt. Fotos von den Straßen Frankreichs, Hongkongs, New Yorks und Chicagos der 1950er, 60er und 70er Jahre, die von großer Empathie, von Humor und von einem so feinen Gespür für Licht, Symmetrie und Farben zeugten, dass es schlichtweg unglaublich scheint, die Frau hinter der Kamera sei eine mysteriöse Eigenbrötlerin gewesen.In ihrer sorgfältig recherchierten Biographie nähert sich Ann Marks einer Frau, die vor der elterlichen Zurückweisung, vor Gewalterfahrungen, vor den Sucht- und Geisteskrankheiten ihr Familie geflohen war und ihre Liebe zur Fotografie entdeckte. Es ist eine große Erzählung von Selbstbestimmung, Mut und unbestechlicher Kreativität.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Katharina Rudolph freut sich über Ann Marks' Biografie der unbekannten, erst nach ihrem Tod zufällig entdeckten Fotografin Vivian Maier. Wie Marks sich das Leben der als Kindermädchen arbeitenden, autodidaktischen Fotokünstlerin anhand von Interviews, Aufnahmen aus dem Archiv Maiers und anderen Dokumenten detektivisch erarbeitet, findet Rudolph bemerkenswert. Das Bild einer von Gewalterfahrungen geprägten Kindheit und Jugend, das die Autorin entwirft, trägt zwar nicht unbedingt etwas zur Erhellung des durchkomponierten, berührenden wie witzigen Werks Maiers bei, findet die Rezensentin, ein wichtiges Puzzlestück in dieser "rätselhaften" Geschichte aber scheint es ihr dennoch zu sein.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.01.2024Meisterin
der Selfies
Vivian Maier ist die große Unbekannte der
amerikanischen Fotografie-Geschichte.
Eine neue Biografie erzählt von
ihrem unglaublichen Leben.
VON MARC HOCH
Ehrfurcht, Faszination, unermessliches Mitleid: Wer auf das Leben von Vivian Maier schaut, gerät schnell in einen Strudel heftiger Gefühle. Einerseits ist die Biografie dieser großartigen Fotografin so wundersam, dass Hollywood daraus einen neuen Künstlerfilm machen könnte, der alle Klischees eines verkannten und ein wenig verrückten Genies heraufbeschwört. Andererseits ist dieses Leben so himmeltraurig einsam verlaufen, dass man sich wieder einmal fragen könnte: Ist künstlerische Besessenheit nun die Folge oder die Ursache für all das Leid? Was ist Zufall, was Notwendigkeit in so einem Leben? Und wer ist diese mysteriöse und gleichsam von den Toten wieder auferstandene Vivian Maier eigentlich gewesen?
Zu ihren Lebzeiten wusste niemand davon, dass sie wie wahnsinnig fotografierte, in fast fünf Jahrzehnten mehr als 100 000 Bilder zusammenbrachte. Niemand bekam diese Fotos je zu Gesicht, ja nicht einmal sie selbst wusste, was sie mit ihren Kleinbild- und Rolleiflex-Kameras so alles aufnahm, denn Hunderte Filme wanderten unentwickelt in Kartons. Nur einem Zufall, in dem romantische Geister die späte Gerechtigkeit eines Kunst-Gottes sehen könnten, ist es zu verdanken, dass ihr Werk überhaupt entdeckt wurde.
Als sie vor ihrem Tod die Miete für ihr eingelagertes Archiv nicht mehr bezahlte, wurde es im Jahr 2007 versteigert – und geriet zum größten Teil an den jungen Immobilienmakler John Maloof, der klug genug war, der Schwarmintelligenz des Internets ein paar Fotos zu zeigen und zu fragen, was er „mit dem Zeug“ machen soll. So wurde Vivian Maier entdeckt.
Diese Geschichte ist seither oft erzählt worden, und sie war eine Zeit lang der süffige Stoff, mit dem die Öffentlichkeit gefüttert wurde. Die einsame Fotografin, die ihr Geld als Kindermädchen verdiente, wurde so zu einem Medienphänomen. Doch, außer dass sie ein wenig schräg war, außer dass sie 1926 in New York geboren wurde und 2009 in Chicago verstarb, war nicht viel über ihr Leben bekannt.
Noch im Jahr 2014 hieß es im Vorwort zu einem der ersten großen Maier-Bildbände, dass die „Schleier des Nichtwissens wohl nie mehr gelüftet“ würden. Das war eindeutig falsch. Denn nun ist die erste, 368 Seiten lange Biografie auf Deutsch erschienen.
Geschrieben hat sie die Amerikanerin Ann Marks, eine fachfremde Enthusiastin. Und vielleicht konnte wirklich nur jemand, der sich in die Fotos von Vivian Maier verliebt hatte, also ein hohes Maß an Leidenschaft mitbrachte, die Archiv-positivistische Ochsentour auf sich nehmen, um das biografische Puzzle zusammenzusetzen.
Wir blicken auf das Bild eines Menschen, der aus einer generationenübergreifend kaputten Familie kommt. Vivian Maiers Großmutter aus Frankreich wurde als Teenager von einem Knecht geschwängert und wanderte auch wegen der Schmach eines unehelichen Kindes in die USA aus, wobei sie ihre Tochter bei Verwandten in Frankreich zurückließ.
Erst als Marie 17 Jahre alt war, holte sie die Mutter zu sich nach New York, aber das ungeliebte Mädchen kam in der Neuen Welt nicht zurecht. Sie geriet an den Spieler und Trinker Charles Maier, mit dem sie ihre Kinder Vivian und Carl bekam, doch die Ehe scheiterte und Marie verklagte ihren Mann wegen Kindesmisshandlung.
Während Carl schon als Jugendlicher immer wieder straffällig und eingesperrt wurde, zog Vivian im Alter von 16 Jahren aus. So brüchig war diese Familie, dass niemand mehr von dem anderen jemals wieder Notiz nahm – nicht einmal vom Tod des Vaters, des Bruders und der Mutter, so Marks, sollte Vivian Jahrzehnte später erfahren.
In dieser lieblosen und bildungsfernen Welt wuchs Vivian Maier auf, und wer glaubt, auf diesen psychologischen Krücken schnell ins Innere der Fotografin vorstoßen zu können, wird an der Biografie seine Freude haben. Alles, was an ihrem Wesen merkwürdig und schrullig war, listet Marks auf und führt es immer wieder auf das Ur-Trauma ihrer Familie zurück. Schon ihre äußerliche Erscheinung war befremdlich.
Zeitzeugen schildern, sie habe ausgesehen wie eine „Außerirdische“, wie eine „böse Hexe aus dem Westen“ oder gar wie „die Wärterin aus einem osteuropäischen Frauengefängnis“. Dazu trugen vor allem ihre viel zu großen Herrenmäntel bei und ihr versteinertes, emotionsloses Gesicht, das sie mit einer dicken Schicht Vaseline vor der Außenwelt schützte.
Diese Außenwelt durfte ihr nicht zu nahe kommen: Beziehungen zu Männern sind nicht bekannt und Intimitäten wie Berührungen oder Küsse zur Begrüßung wies sie brüsk zurück. Vivian Maier war in wirklich jeder Hinsicht eine Einzelgängerin.
Ihr Leben lang hat sie als Kindermädchen in reichen Haushalten gearbeitet, und wegen ihres skurrilen Verhaltens ist sie vielen in Erinnerung geblieben. Nie sprach sie über ihre beschämende Vergangenheit, Freundschaften pflegte sie keine. In einem Adressbuch aus den Siebzigerjahren fand Marks nur zwei Telefonnummern aus dem Großraum New York: den Abo-Service der New York Times und einen Leica-Fotohändler. Und dann war sie noch ein Messie.
Alles, was ihr in die Hände geriert, hortete sie in dem Zimmer, das ihr die Arbeitgeber zur Verfügung stellten. Bei einer Familie sank unter dem Gewicht ihrer Sammlungen sogar eine Decke herab – am Ende ihres Lebens hatte sie acht Tonnen Material zusammengetragen, darunter Tausende Zeitungen, zu denen sie ein geradezu obsessives Verhältnis hatte.
Die Biografie ist voll mit diesen Anekdoten, doch was sagen die über ihr fotografisches Werk aus? Seit 1950 fotografierte sie wie besessen, als wäre das Klicken ihrer Kameras wie Sauerstoff, ohne den sie nicht leben konnte. Sie fotografierte Menschen auf der Straße, Landschaften, ihre Habseligkeiten, das, was sie im Fernsehen sah und in der New York Times las, „ihre“ Kinder in den Familien, Berühmtheiten wie ein Paparazzo und immer und immer wieder mit unglaublicher Kreativität sich selbst. Kein fotografisches Genre genügte ihr – vielleicht weil die Kamera für sie die einzige Brücke zum Leben war, von dem sie seltsam weit entfernt war.
Vor allem ihre Bilder aus dem Chicago und New York der Fünfzigerjahre sind großartige und unerschrockene Momentaufnahmen einer Gesellschaft der Gegensätze – hier die reiche Dame im Pelz, dort die Gestrauchelten, Alten, Entwurzelten, Müden. Um zu erleben, wie sorgfältig komponiert ihre Straßenfotos sind und mit welcher geradezu philosophischen Tiefe sie sich selbst hundertfach fotografierte, sollte man auf die großen Fotobände zurückgreifen: Die Bildauswahl in Marks Biografie ist bizarr und die Druckqualität schlecht.
Maiers größtes Geheimnis, das auch dieses Buch nicht lösen kann, bleibt die Frage, warum sie diese Fotos mit niemandem teilte. Gerade heute, wo jede private Nichtigkeit mit dem iPhone fotografiert und in den sozialen Medien verbreitet wird, ist es unbegreiflich, dass ihr Resonanz scheinbar gleichgültig war und sie ihr umfangreiches Werk nicht nutzte – und sei es nur, um mit jemandem in Kontakt zu kommen.
War es Scheu? Wir wissen es nicht, und es ist auch gleichgültig. Denn Vivian Maier lebt weiter – mit dem, was sie sah und festhielt.
Ann Marks:
Das Leben der
Vivian Maier.
Die Nanny mit der Kamera. Aus dem Englischen von Nina Frey und
Hans-Christian Oeser. Steidl, 2023.
368 Seiten, 38 Euro.
Ihr ganzes Leben
fotografierte sich
Vivian Maier selber, Hunderte Selbstporträts machte sie von sich auf Schaufenstern und in
Spiegeln. Je älter sie wurde, umso
abstrakter wurden ihre Selbstporträts, indem sie nur noch
die Schatten ihrer
Silhouette fotografierte. Unten ein Straßenfoto Maiers aus einem Bus. Es entstand wohl 1952 in New York. Einen
Überblick über ihr Leben gibt auch der Dokumentarfilm
„Finding Vivian
Maier“ von
John Maloof.
Foto:imago/Mary Evans;
Vivian Maier/
Maloof Collection
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der Selfies
Vivian Maier ist die große Unbekannte der
amerikanischen Fotografie-Geschichte.
Eine neue Biografie erzählt von
ihrem unglaublichen Leben.
VON MARC HOCH
Ehrfurcht, Faszination, unermessliches Mitleid: Wer auf das Leben von Vivian Maier schaut, gerät schnell in einen Strudel heftiger Gefühle. Einerseits ist die Biografie dieser großartigen Fotografin so wundersam, dass Hollywood daraus einen neuen Künstlerfilm machen könnte, der alle Klischees eines verkannten und ein wenig verrückten Genies heraufbeschwört. Andererseits ist dieses Leben so himmeltraurig einsam verlaufen, dass man sich wieder einmal fragen könnte: Ist künstlerische Besessenheit nun die Folge oder die Ursache für all das Leid? Was ist Zufall, was Notwendigkeit in so einem Leben? Und wer ist diese mysteriöse und gleichsam von den Toten wieder auferstandene Vivian Maier eigentlich gewesen?
Zu ihren Lebzeiten wusste niemand davon, dass sie wie wahnsinnig fotografierte, in fast fünf Jahrzehnten mehr als 100 000 Bilder zusammenbrachte. Niemand bekam diese Fotos je zu Gesicht, ja nicht einmal sie selbst wusste, was sie mit ihren Kleinbild- und Rolleiflex-Kameras so alles aufnahm, denn Hunderte Filme wanderten unentwickelt in Kartons. Nur einem Zufall, in dem romantische Geister die späte Gerechtigkeit eines Kunst-Gottes sehen könnten, ist es zu verdanken, dass ihr Werk überhaupt entdeckt wurde.
Als sie vor ihrem Tod die Miete für ihr eingelagertes Archiv nicht mehr bezahlte, wurde es im Jahr 2007 versteigert – und geriet zum größten Teil an den jungen Immobilienmakler John Maloof, der klug genug war, der Schwarmintelligenz des Internets ein paar Fotos zu zeigen und zu fragen, was er „mit dem Zeug“ machen soll. So wurde Vivian Maier entdeckt.
Diese Geschichte ist seither oft erzählt worden, und sie war eine Zeit lang der süffige Stoff, mit dem die Öffentlichkeit gefüttert wurde. Die einsame Fotografin, die ihr Geld als Kindermädchen verdiente, wurde so zu einem Medienphänomen. Doch, außer dass sie ein wenig schräg war, außer dass sie 1926 in New York geboren wurde und 2009 in Chicago verstarb, war nicht viel über ihr Leben bekannt.
Noch im Jahr 2014 hieß es im Vorwort zu einem der ersten großen Maier-Bildbände, dass die „Schleier des Nichtwissens wohl nie mehr gelüftet“ würden. Das war eindeutig falsch. Denn nun ist die erste, 368 Seiten lange Biografie auf Deutsch erschienen.
Geschrieben hat sie die Amerikanerin Ann Marks, eine fachfremde Enthusiastin. Und vielleicht konnte wirklich nur jemand, der sich in die Fotos von Vivian Maier verliebt hatte, also ein hohes Maß an Leidenschaft mitbrachte, die Archiv-positivistische Ochsentour auf sich nehmen, um das biografische Puzzle zusammenzusetzen.
Wir blicken auf das Bild eines Menschen, der aus einer generationenübergreifend kaputten Familie kommt. Vivian Maiers Großmutter aus Frankreich wurde als Teenager von einem Knecht geschwängert und wanderte auch wegen der Schmach eines unehelichen Kindes in die USA aus, wobei sie ihre Tochter bei Verwandten in Frankreich zurückließ.
Erst als Marie 17 Jahre alt war, holte sie die Mutter zu sich nach New York, aber das ungeliebte Mädchen kam in der Neuen Welt nicht zurecht. Sie geriet an den Spieler und Trinker Charles Maier, mit dem sie ihre Kinder Vivian und Carl bekam, doch die Ehe scheiterte und Marie verklagte ihren Mann wegen Kindesmisshandlung.
Während Carl schon als Jugendlicher immer wieder straffällig und eingesperrt wurde, zog Vivian im Alter von 16 Jahren aus. So brüchig war diese Familie, dass niemand mehr von dem anderen jemals wieder Notiz nahm – nicht einmal vom Tod des Vaters, des Bruders und der Mutter, so Marks, sollte Vivian Jahrzehnte später erfahren.
In dieser lieblosen und bildungsfernen Welt wuchs Vivian Maier auf, und wer glaubt, auf diesen psychologischen Krücken schnell ins Innere der Fotografin vorstoßen zu können, wird an der Biografie seine Freude haben. Alles, was an ihrem Wesen merkwürdig und schrullig war, listet Marks auf und führt es immer wieder auf das Ur-Trauma ihrer Familie zurück. Schon ihre äußerliche Erscheinung war befremdlich.
Zeitzeugen schildern, sie habe ausgesehen wie eine „Außerirdische“, wie eine „böse Hexe aus dem Westen“ oder gar wie „die Wärterin aus einem osteuropäischen Frauengefängnis“. Dazu trugen vor allem ihre viel zu großen Herrenmäntel bei und ihr versteinertes, emotionsloses Gesicht, das sie mit einer dicken Schicht Vaseline vor der Außenwelt schützte.
Diese Außenwelt durfte ihr nicht zu nahe kommen: Beziehungen zu Männern sind nicht bekannt und Intimitäten wie Berührungen oder Küsse zur Begrüßung wies sie brüsk zurück. Vivian Maier war in wirklich jeder Hinsicht eine Einzelgängerin.
Ihr Leben lang hat sie als Kindermädchen in reichen Haushalten gearbeitet, und wegen ihres skurrilen Verhaltens ist sie vielen in Erinnerung geblieben. Nie sprach sie über ihre beschämende Vergangenheit, Freundschaften pflegte sie keine. In einem Adressbuch aus den Siebzigerjahren fand Marks nur zwei Telefonnummern aus dem Großraum New York: den Abo-Service der New York Times und einen Leica-Fotohändler. Und dann war sie noch ein Messie.
Alles, was ihr in die Hände geriert, hortete sie in dem Zimmer, das ihr die Arbeitgeber zur Verfügung stellten. Bei einer Familie sank unter dem Gewicht ihrer Sammlungen sogar eine Decke herab – am Ende ihres Lebens hatte sie acht Tonnen Material zusammengetragen, darunter Tausende Zeitungen, zu denen sie ein geradezu obsessives Verhältnis hatte.
Die Biografie ist voll mit diesen Anekdoten, doch was sagen die über ihr fotografisches Werk aus? Seit 1950 fotografierte sie wie besessen, als wäre das Klicken ihrer Kameras wie Sauerstoff, ohne den sie nicht leben konnte. Sie fotografierte Menschen auf der Straße, Landschaften, ihre Habseligkeiten, das, was sie im Fernsehen sah und in der New York Times las, „ihre“ Kinder in den Familien, Berühmtheiten wie ein Paparazzo und immer und immer wieder mit unglaublicher Kreativität sich selbst. Kein fotografisches Genre genügte ihr – vielleicht weil die Kamera für sie die einzige Brücke zum Leben war, von dem sie seltsam weit entfernt war.
Vor allem ihre Bilder aus dem Chicago und New York der Fünfzigerjahre sind großartige und unerschrockene Momentaufnahmen einer Gesellschaft der Gegensätze – hier die reiche Dame im Pelz, dort die Gestrauchelten, Alten, Entwurzelten, Müden. Um zu erleben, wie sorgfältig komponiert ihre Straßenfotos sind und mit welcher geradezu philosophischen Tiefe sie sich selbst hundertfach fotografierte, sollte man auf die großen Fotobände zurückgreifen: Die Bildauswahl in Marks Biografie ist bizarr und die Druckqualität schlecht.
Maiers größtes Geheimnis, das auch dieses Buch nicht lösen kann, bleibt die Frage, warum sie diese Fotos mit niemandem teilte. Gerade heute, wo jede private Nichtigkeit mit dem iPhone fotografiert und in den sozialen Medien verbreitet wird, ist es unbegreiflich, dass ihr Resonanz scheinbar gleichgültig war und sie ihr umfangreiches Werk nicht nutzte – und sei es nur, um mit jemandem in Kontakt zu kommen.
War es Scheu? Wir wissen es nicht, und es ist auch gleichgültig. Denn Vivian Maier lebt weiter – mit dem, was sie sah und festhielt.
Ann Marks:
Das Leben der
Vivian Maier.
Die Nanny mit der Kamera. Aus dem Englischen von Nina Frey und
Hans-Christian Oeser. Steidl, 2023.
368 Seiten, 38 Euro.
Ihr ganzes Leben
fotografierte sich
Vivian Maier selber, Hunderte Selbstporträts machte sie von sich auf Schaufenstern und in
Spiegeln. Je älter sie wurde, umso
abstrakter wurden ihre Selbstporträts, indem sie nur noch
die Schatten ihrer
Silhouette fotografierte. Unten ein Straßenfoto Maiers aus einem Bus. Es entstand wohl 1952 in New York. Einen
Überblick über ihr Leben gibt auch der Dokumentarfilm
„Finding Vivian
Maier“ von
John Maloof.
Foto:imago/Mary Evans;
Vivian Maier/
Maloof Collection
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.05.2024Zwischen Filmrollen und Zeitungen
Bilder knipsen, Negative horten: Ann Marks folgt den spärlichen biographischen Spuren, die Vivian Maier hinterlassen hat.
Vor zehn Jahren lief in den Kinos ein fesselnder Dokumentarfilm. Er erzählte die unglaubliche Geschichte, wie ein Mann aus Chicago Ende der 2000er Jahre durch Zufall das Werk einer unbekannten Künstlerin entdeckte. John Maloof hatte bei einer Zwangsversteigerung Boxen voller Negative gekauft, die Szenen aus den Straßen Chicagos zeigten und die er für ein Geschichtsbuch verwenden wollte, an dem er schrieb. Zwar erwiesen sich die Aufnahmen bei genauer Durchsicht als ungeeignet für seine Arbeit, aber sie gefielen dem jungen Amateurhistoriker. Und zwar so sehr, dass er weitere Kisten desselben Konvoluts erwarb und einige der Bilder ins Netz stellte - die Resonanz war gewaltig.
Die Öffentlichkeit begeisterte sich sofort für die unsentimentale, ausdrucksstarke Straßenfotografie, die Maloof entdeckt hatte. Wie sich herausstellte, stammten die Bilder von einer 1926 in New York geborenen und 2009 in Chicago gestorbenen Frau, die als Kindermädchen bei reichen Familien gelebt hatte und nie als Künstlerin in Erscheinung getreten war: Vivian Maier. Es wurden Ausstellungen organisiert und Bildbände gedruckt, die "Nanny mit der Kamera" entwickelte sich zur weltweiten medialen Sensation.
Maloofs Film, der auch Interviews mit ehemaligen Arbeitgebern von Maier zeigt, ließ die Zuschauer trotz seines Bemühens um Aufklärung mit einigen Fragen zurück: Wie war die Frau aufgewachsen, die sich über ihre Vergangenheit in Schweigen hüllte? Wieso hatte sie nur einen winzigen Teil ihrer Negative entwickelt? Und warum hat sie ihr großartiges Werk der Welt nie gezeigt, ja es regelrecht vor ihr versteckt?
Um Antworten zu finden, machte sich die Hobbygenealogin Ann Marks an die Arbeit und brachte 2021 in den USA eine Biographie heraus, die nun auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Das Buch beruht auf jahrelanger Detektivarbeit, auf der Sichtung von 140.000 Aufnahmen und Tausenden Dokumenten sowie Gesprächen mit Experten. Intensiv auseinandergesetzt hat die Autorin sich mit Maiers zerrütteter Familie und ihrer Kindheit. Die egozentrische Mutter war psychisch labil und ließ ihre beiden Kinder Vivian und Karl immer wieder im Stich. Der verantwortungslose, alkoholkranke Vater war früh aus ihrem Leben verschwunden. Karl geriet auf die schiefe Bahn, nahm Drogen und litt wohl an Schizophrenie, Vivian wurde, dafür spricht einiges, in ihrer Jugend Opfer von Gewalt.
Doch allen Hindernissen zum Trotz brachte sie die Kraft und den Mut auf, "sich aus dem Nichts ein eigenständiges Leben zu erfinden". Vivian hatte schon als Teenager viel gelesen, war intelligent und meinungsstark und schuf sich mit der Arbeit als Nanny eine gesicherte Existenz. Mit Mitte zwanzig fing sie an, wie besessen zu fotografieren. Für die nächsten vierzig Jahre legte sie die Kamera nicht mehr aus der Hand.
Mit Experimentierfreude perfektionierte sie beständig ihre Fertigkeiten. Sie lichtete Berggipfel und die Landbevölkerung in den französischen Hochalpen ab, wo ihre Familie mütterlicherseits herkam und wo sie Teile ihrer Kindheit verbracht hatte, zog durch die Straßen New Yorks und knipste Stadtstreicher und Straßenarbeiter ebenso wie Damen von Welt. Sie zeigte kleine Kinder nicht so, wie sie sein sollten, herausgeputzt und brav, sondern so, wie sie sind: weinend, staunend, lachend, brüllend. Sie jagte unverfroren Stars wie Tony Curtis oder Greta Garbo hinterher, begab sich auf die Spur von Verbrechern und lichtete in Chicago, wo sie seit 1956 lebte, Wahlkampfveranstaltungen und Rassenunruhen ab. Maiers Aufnahmen sind berührend, ergreifend, lustig, grotesk. Mit einem untrüglichen Gespür für den richtigen Augenblick und für gelungene Kompositionen nahm sie alltägliche, beiläufige Szenen und Begegnungen ins Visier. Dabei zeigt ihr OEuvre auch einen tiefen Sinn für zwischenmenschliche Zuneigung, zu der sie selbst nur bedingt fähig war.
Als Fotografin verschaffte Maier sich Zugang zur Welt, in der sie als Mensch oft aneckte. Sie war schrullig, hatte ein gestörtes, ambivalentes Sozialverhalten, konnte schroff und kalt sein, war unnahbar, hatte kaum Freunde, lebte wohl nie in einer Beziehung und verließ manche Familien von einem auf den anderen Tag ohne Erklärung.
Denjenigen, die heute kritisieren, dass Vivian Maiers Werk an die Öffentlichkeit gezerrt wurde, obwohl sie das gar nicht gewollt habe, entgegnet Marks, dass sie ihre Bilder in frühen Jahren bereitwillig zeigte und auch versuchte, sie zu verkaufen. Erst mit fortschreitendem Alter gab sie sie kaum noch aus der Hand. Erklärt wurde das unter anderem mit fehlendem Selbstbewusstsein. Tatsächlich aber war Maier sich ihrer Fähigkeiten sehr bewusst. Es waren vielmehr die seelischen Ungeheuer ihrer Kindheit und wohl auch eine genetische Disposition zu psychischer Erkrankung, die dazu führten, dass sie ihr Talent vor der Öffentlichkeit verbarg. Maiers Verhalten nahm zwanghafte Züge an, sie hortete hinter verschlossenen Türen unentwickelte Filmrollen ebenso wie Berge von Zeitungen. Selbst wenn sie es gewollt hätte, sie konnte ihre Bilder nicht loslassen. Sie brauchte sie nicht einmal zu sehen, aber sie musste sie besitzen.
Am Ende mietete sie Lager an, um alles unterzubringen, und versäumte dann, die Miete zu zahlen. So kamen die Aufnahmen zu jener Auktion, auf der John Maloof sie 2007 ersteigerte. Noch bevor man sie ausfindig machen konnte, starb Vivian Maier, weshalb niemand die Chance hatte, mit ihr über ihr Werk zu sprechen - so sie denn dazu bereit gewesen wäre. Marks' Biographie arbeitet nicht nur Maiers Leben, sondern auch ihr Nachleben akribisch und differenziert auf. Dass die Autorin eine bedrückende Kindheit ins Zentrum der Erzählung rückt, hilft - wie sie selbst einräumt - nicht zwingend bei der Betrachtung von Maiers künstlerischer Leistung. Aber sie liefert damit doch das entscheidende Puzzlestück zum Verständnis ihrer so rätselhaften Geschichte. KATHARINA RUDOLPH
Ann Marks: "Das Leben der Vivian Maier". Die Nanny mit der Kamera.
Aus dem Englischen von N. Frey und H.-C. Oeser. Steidl Verlag, Göttingen 2023. 368 S., Abb., geb., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bilder knipsen, Negative horten: Ann Marks folgt den spärlichen biographischen Spuren, die Vivian Maier hinterlassen hat.
Vor zehn Jahren lief in den Kinos ein fesselnder Dokumentarfilm. Er erzählte die unglaubliche Geschichte, wie ein Mann aus Chicago Ende der 2000er Jahre durch Zufall das Werk einer unbekannten Künstlerin entdeckte. John Maloof hatte bei einer Zwangsversteigerung Boxen voller Negative gekauft, die Szenen aus den Straßen Chicagos zeigten und die er für ein Geschichtsbuch verwenden wollte, an dem er schrieb. Zwar erwiesen sich die Aufnahmen bei genauer Durchsicht als ungeeignet für seine Arbeit, aber sie gefielen dem jungen Amateurhistoriker. Und zwar so sehr, dass er weitere Kisten desselben Konvoluts erwarb und einige der Bilder ins Netz stellte - die Resonanz war gewaltig.
Die Öffentlichkeit begeisterte sich sofort für die unsentimentale, ausdrucksstarke Straßenfotografie, die Maloof entdeckt hatte. Wie sich herausstellte, stammten die Bilder von einer 1926 in New York geborenen und 2009 in Chicago gestorbenen Frau, die als Kindermädchen bei reichen Familien gelebt hatte und nie als Künstlerin in Erscheinung getreten war: Vivian Maier. Es wurden Ausstellungen organisiert und Bildbände gedruckt, die "Nanny mit der Kamera" entwickelte sich zur weltweiten medialen Sensation.
Maloofs Film, der auch Interviews mit ehemaligen Arbeitgebern von Maier zeigt, ließ die Zuschauer trotz seines Bemühens um Aufklärung mit einigen Fragen zurück: Wie war die Frau aufgewachsen, die sich über ihre Vergangenheit in Schweigen hüllte? Wieso hatte sie nur einen winzigen Teil ihrer Negative entwickelt? Und warum hat sie ihr großartiges Werk der Welt nie gezeigt, ja es regelrecht vor ihr versteckt?
Um Antworten zu finden, machte sich die Hobbygenealogin Ann Marks an die Arbeit und brachte 2021 in den USA eine Biographie heraus, die nun auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Das Buch beruht auf jahrelanger Detektivarbeit, auf der Sichtung von 140.000 Aufnahmen und Tausenden Dokumenten sowie Gesprächen mit Experten. Intensiv auseinandergesetzt hat die Autorin sich mit Maiers zerrütteter Familie und ihrer Kindheit. Die egozentrische Mutter war psychisch labil und ließ ihre beiden Kinder Vivian und Karl immer wieder im Stich. Der verantwortungslose, alkoholkranke Vater war früh aus ihrem Leben verschwunden. Karl geriet auf die schiefe Bahn, nahm Drogen und litt wohl an Schizophrenie, Vivian wurde, dafür spricht einiges, in ihrer Jugend Opfer von Gewalt.
Doch allen Hindernissen zum Trotz brachte sie die Kraft und den Mut auf, "sich aus dem Nichts ein eigenständiges Leben zu erfinden". Vivian hatte schon als Teenager viel gelesen, war intelligent und meinungsstark und schuf sich mit der Arbeit als Nanny eine gesicherte Existenz. Mit Mitte zwanzig fing sie an, wie besessen zu fotografieren. Für die nächsten vierzig Jahre legte sie die Kamera nicht mehr aus der Hand.
Mit Experimentierfreude perfektionierte sie beständig ihre Fertigkeiten. Sie lichtete Berggipfel und die Landbevölkerung in den französischen Hochalpen ab, wo ihre Familie mütterlicherseits herkam und wo sie Teile ihrer Kindheit verbracht hatte, zog durch die Straßen New Yorks und knipste Stadtstreicher und Straßenarbeiter ebenso wie Damen von Welt. Sie zeigte kleine Kinder nicht so, wie sie sein sollten, herausgeputzt und brav, sondern so, wie sie sind: weinend, staunend, lachend, brüllend. Sie jagte unverfroren Stars wie Tony Curtis oder Greta Garbo hinterher, begab sich auf die Spur von Verbrechern und lichtete in Chicago, wo sie seit 1956 lebte, Wahlkampfveranstaltungen und Rassenunruhen ab. Maiers Aufnahmen sind berührend, ergreifend, lustig, grotesk. Mit einem untrüglichen Gespür für den richtigen Augenblick und für gelungene Kompositionen nahm sie alltägliche, beiläufige Szenen und Begegnungen ins Visier. Dabei zeigt ihr OEuvre auch einen tiefen Sinn für zwischenmenschliche Zuneigung, zu der sie selbst nur bedingt fähig war.
Als Fotografin verschaffte Maier sich Zugang zur Welt, in der sie als Mensch oft aneckte. Sie war schrullig, hatte ein gestörtes, ambivalentes Sozialverhalten, konnte schroff und kalt sein, war unnahbar, hatte kaum Freunde, lebte wohl nie in einer Beziehung und verließ manche Familien von einem auf den anderen Tag ohne Erklärung.
Denjenigen, die heute kritisieren, dass Vivian Maiers Werk an die Öffentlichkeit gezerrt wurde, obwohl sie das gar nicht gewollt habe, entgegnet Marks, dass sie ihre Bilder in frühen Jahren bereitwillig zeigte und auch versuchte, sie zu verkaufen. Erst mit fortschreitendem Alter gab sie sie kaum noch aus der Hand. Erklärt wurde das unter anderem mit fehlendem Selbstbewusstsein. Tatsächlich aber war Maier sich ihrer Fähigkeiten sehr bewusst. Es waren vielmehr die seelischen Ungeheuer ihrer Kindheit und wohl auch eine genetische Disposition zu psychischer Erkrankung, die dazu führten, dass sie ihr Talent vor der Öffentlichkeit verbarg. Maiers Verhalten nahm zwanghafte Züge an, sie hortete hinter verschlossenen Türen unentwickelte Filmrollen ebenso wie Berge von Zeitungen. Selbst wenn sie es gewollt hätte, sie konnte ihre Bilder nicht loslassen. Sie brauchte sie nicht einmal zu sehen, aber sie musste sie besitzen.
Am Ende mietete sie Lager an, um alles unterzubringen, und versäumte dann, die Miete zu zahlen. So kamen die Aufnahmen zu jener Auktion, auf der John Maloof sie 2007 ersteigerte. Noch bevor man sie ausfindig machen konnte, starb Vivian Maier, weshalb niemand die Chance hatte, mit ihr über ihr Werk zu sprechen - so sie denn dazu bereit gewesen wäre. Marks' Biographie arbeitet nicht nur Maiers Leben, sondern auch ihr Nachleben akribisch und differenziert auf. Dass die Autorin eine bedrückende Kindheit ins Zentrum der Erzählung rückt, hilft - wie sie selbst einräumt - nicht zwingend bei der Betrachtung von Maiers künstlerischer Leistung. Aber sie liefert damit doch das entscheidende Puzzlestück zum Verständnis ihrer so rätselhaften Geschichte. KATHARINA RUDOLPH
Ann Marks: "Das Leben der Vivian Maier". Die Nanny mit der Kamera.
Aus dem Englischen von N. Frey und H.-C. Oeser. Steidl Verlag, Göttingen 2023. 368 S., Abb., geb., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main