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Sein Leben lang hat sich der große französische Historiker Robert Fossier mit dem Mittelalter beschäftigt. Jetzt legt er, als Höhepunkt seines Lebenswerks, ein unkonventionelles Buch über das Leben im Mittelalter vor. »Ich rede von all dem, was sonst nicht zur Sprache kommt: vom Regen und dem Feuer, vom Wein und den alltäglichen Ritualen, vom Umgang mit der Natur und den Tieren, von der Hacke und der Ernte: also von all dem, was den Menschen im Mittelalter wirklich bewegt hat.« Fossier zeigt uns ein Mittelalter, das alles andere ist als finster, und macht uns bekannt mit Menschen, die gar…mehr

Produktbeschreibung
Sein Leben lang hat sich der große französische Historiker Robert Fossier mit dem Mittelalter beschäftigt. Jetzt legt er, als Höhepunkt seines Lebenswerks, ein unkonventionelles Buch über das Leben im Mittelalter vor. »Ich rede von all dem, was sonst nicht zur Sprache kommt: vom Regen und dem Feuer, vom Wein und den alltäglichen Ritualen, vom Umgang mit der Natur und den Tieren, von der Hacke und der Ernte: also von all dem, was den Menschen im Mittelalter wirklich bewegt hat.« Fossier zeigt uns ein Mittelalter, das alles andere ist als finster, und macht uns bekannt mit Menschen, die gar nicht so anders sind als wir, trotz des halben Jahrtausends, das uns von ihnen trennt.
Autorenporträt
Robert Fossier, geboren 1927, war Professor für mittelalterliche Geschichte an den Universitäten von Nancy und Paris (Sorbonne), Emeritation 1993. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur Mediävistik in Frankreich und Herausgeber der renommierten Lexika »Le Moyen Âge« und »The Cambridge Illustrated History of the Middle Ages«.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.04.2008

Das Leben hinter den Urkunden
Ein Meisterwerk: Robert Fossier weiß, wie die Menschen im Mittelalter lebten

Langsam nur reift manchmal aus, was ein historisches Meisterwerk genannt werden kann. Der französische Agrarhistoriker Robert Fossier musste achtzig Jahre alt werden, um mit "Ces gens du Moyen Âge" die Summe seines Forscherlebens zu ziehen. Das Buch, das in der deutschen Fassung wohl treffender mit "Die einfachen Leute" als mit "Das Leben im Mittelalter" überschrieben worden wäre, steht in der Tradition der Annales-Schule und verrät, dass sein Konzept aus dem vierten Lebensjahrzehnt des Autors stammt.

1964 jedenfalls legte bereits Jacques Le Goff, Fossiers Altersgenosse, mit "La Civilisation de l'Occident Médiéval" ein verwandtes Werk vor. Beide Autoren verwerfen die Geschichte der Mächtigen, um mit Hilfe der Archäologie, Anthropologie und Ethnologie bei der "materiellen Kultur" anzusetzen und im Dasein der gewöhnlichen Menschen das repräsentative Mittelalter aufzuspüren. Fossier wiederholt eine alte Formel Le Goffs und schreibt, dass fünf Ausgrabungen französischer Dörfer "weitaus mehr Aufschlüsse erbracht haben als eine ganze Wagenladung Urkunden".

Ein Unterschied allerdings ist unübersehbar: Während Le Goff seit der Mitte des elften Jahrhunderts eine Beschleunigung des ökönomischen Wandels beobachtet, der eine neue Epoche, das "zweite Feudalzeitalter", einleitete, und sich vorzugsweise der Welt der Städte zuwandte, weist Fossier jeden Periodisierungsversuch zurück und beharrt auf der Bedeutung des Landes, wo die große Mehrheit der Bevölkerung lebte. In dem von ihm bevorzugten hohen Mittelalter seien die Städte von "sekundärer Bedeutung", die Gesellschaft sei eine "grundherrliche" gewesen, aber nicht feudal: "Dieser Begriff ist die unnötige Aufbauschung eines letzten Endes marginalen, nur eine Minderheit betreffenden und oberflächlichen Phänomens, die auf die Herkunft unserer Quellen zurückzuführen ist, die ja fast immer den Adel behandeln und aus seinen Reihen stammen."

Die Abfälle der Adligen

Fossier schreibt über den Menschen des ganzen Mittelalters, der überdies seinen antiken Vorläufern und uns Gegenwärtigen weithin geglichen habe; er sei eine Kreatur, woran zehn oder zwölf Jahrhunderte nichts hätten ändern können. Kein Wunder, dass bei dieser Suspension historischer Veränderungen manchmal eher vom "homo sapiens sapiens" überhaupt als von seiner mittelalterlichen Variante die Rede ist. Seinen spezifischen Ansatz markiert Fossier in diesem Rahmen, indem er den Menschen im Holozän erscheinen lässt. Nachdem vor etwa 11 700 Jahren die Gletscher der letzten Eiszeit zu schmelzen begannen, habe sich die Mehrzahl der Lebewesen ausgebildet, die uns umgeben. Wie sich der Mensch in dieser Fauna behauptet, die er fälschlich zu beherrschen vorgibt, das vor allem will Fossier am Beispiel des Mittelalters zeigen.

Aristoteles habe zwar noch die Gemeinschaft aller Lebewesen beschworen, aber seitdem der Apostel Paulus lehrte, dass die Tiere Geschöpfe Gottes, aber ohne Seele seien, habe sich die christliche Welt an die Verachtung der Tiere gewöhnt. Am biblischen Befehl, sich die Erde untertan zu machen, seien die Menschen gründlich gescheitert.

Seine Sonderstellung in der Schöpfung verdanke der Mensch nur der Entwicklung des zu den vier Fingern gegenständigen Daumens, so dass er mit seiner Hand greifen, Werkzeuge herstellen und Feuer entfachen konnte. Trotzdem blieb er der Natur ausgeliefert; wie tief sich ihm die Angst vor mächtigeren Tieren eingeprägt hat, werde noch heute deutlich, wenn er sein Bett, um den Rücken zu schützen, mit dem Kopfende an die Wand stelle. Auch gegenüber der Pflanzenwelt gewann er, wenigstens im Mittelalter, nur begrenzten Einfluss. So sei der Wald in Westeuropa während des einen Jahrtausends nur um etwa zehn Prozent geschrumpft.

Die große Einebnung der Unterschiede vollzieht Fossier nicht bloß zwischen Mensch und Tier oder sonstiger Natur, sondern auch zwischen hohen und niederen Ständen. Zwar seien Diskrepanzen in der Qualität der Behausung zwischen dem Herrn in der Burg und dem Mann in seiner Hütte nicht zu leugnen, aber ihr Speisezettel habe sich nicht wesentlich unterschieden. In den Abfallgruben der Burgen und Bauernhütten seien die gleichen Knochen gefunden worden, von Geflügel wie von gejagtem Wild. Eine Hierarchie lasse sich höchstens in der Lebensmittelmenge ablesen. Wolle und Leder seien überall die Grundstoffe der Kleidung gewesen, wenn auch Seide als Luxus den sehr Reichen vorbehalten blieb. Auch bei der Körperpflege gab es kaum Differenzen, sie war beim Ritter und Bauern ähnlich gründlich, jedenfalls sorgsamer als später zur Zeit Ludwigs XIV. und der Belle Époque.

Fossier weiß, wie sehr er mit seinen Thesen provoziert, und erwartet gelassen den Vorwurf des Materialismus. Wenn er allerdings darauf besteht, dass das Hufeisen für den Fortschritt der Menschheit wichtiger sei als die "Summa" des Thomas von Aquin, behauptet er dies eben als Kenner der Scholastik, und sein Eingeständnis, ihm gehe jeder metaphysische Sinn ab, ist nichts als Koketterie.

Davon kann man sich durch die Lektüre der Kapitel über "Wissen" und "Seele" überzeugen, die am druckstarken Ende des Buches plaziert sind. Es sei nun einmal unbestreitbar, räumt der Autor ein, dass man noch nie einen Hund eine Schreibfeder hat halten oder sich über Aristoteles auslassen sehen. Allein die Erfindung des Buches, das an die Stelle des antiken Rotulus trat, würde genügen, um dem Mittelalter "in der Kulturgeschichte des Abendlandes einen Platz erster Ordnung zu sichern".

Hund und Schreibfeder

Auch habe Karl der Große der europäischen Bildungsgeschichte mit seinem Schulprogramm von 789 seinen Stempel aufgedrückt, so unklar die unmittelbaren Erfolge geblieben seien. Natürlich lässt sich Fossier in seinem Widerspruchsgeist auch hier nicht besänftigen. Über die Universität, dieses "schöne Kind" des Mittelalters, macht er sich lustig; nicht einmal ein Jahrhundert habe die Blüte der hohen Schulen gedauert, um bald von den fürstlichen Akademien als Stätten des Geistes überflügelt zu werden.

Was aber "Glaube und Heil" betrifft, so der Autor, sein ganzes Buch sei darauf angelegt, sie als wichtige Komponenten der betrachteten Jahrhunderte zu erweisen. Wer in die Welt des Glaubens nicht eintauchen wolle, werde diese Zeit nie verstehen. Wenige Seiten genügen ihm, um mit dem frischen Blick eines jung gebliebenen Historikers auch zur religiösen Praxis der kleinen Leute neue Zugänge zu öffnen.

Viel kann man von diesem Buch lernen, nicht nur über das Mittelalter. Nur auf Fossiers Angaben zur Empfängnisverhütung in der Stillzeit sollte man sich nicht verlassen; nicht achtzehn, sondern höchstens sechs Monate funktioniert die jetzt sogenannte "Lactational Amenorrhoic Method", wie Forschungen seit den achtziger Jahren erwiesen haben. Ansonsten aber leistet das Buch das Beste, was man von Geschichte als Wissenschaft sagen kann: Es lehrt die Lebenden Bescheidenheit vor den Leistungen anderer, diesmal nicht nur vor denen älterer Generationen, sondern besonders vor denen der Natur, mögen sich diese nun dem Plan eines Schöpfers oder den "Verbesserungen" genetischer Mutationen verdanken.

MICHAEL BORGOLTE

Robert Fossier: "Das Leben im Mittelalter". Aus dem Französischen von Michael Bayer, Enrico Heinemann und Reiner Pfleiderer. Piper Verlag, München 2008. 496 S., 10 Abb., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ein "Meisterwerk" erblickt Michael Borgolte in diesem Band des französischen Agrarhistorikers Robert Fossier über das Leben im Mittelalter. Er sieht das Buch, das er als Summe von Fossiers Forscherleben würdigt, in der der Tradtion der Annales-Schule und vergleicht es mit den großen Werken von Jacques Le Goff, einem Altersgenossen des Autors. Beide teilen in seinen Augen den Ansatz, die "Geschichte der Mächtigen" zu verwerfen, um demgegenüber mittels Archäologie, Anthropologie und Ethnologie von der "materiellen Kultur" auszugehen und das Leben der einfachen Leute und gewöhnlichen Menschen zu erkunden. Borgolte hebt insbesondere Fossiers Betonung des Landes im Mittelalter hervor, seine Ablehnung von Periodisierungen sowie sein Unterfangen, die Unterschiede zwischen den Ständen realistisch einzuebnen. Dabei stellt Fossier Thesen auf, die in Borgoltes Augen provozieren dürften. Insgesamt findet Borgolte das Werk jedoch  überaus lehrreich, nicht nur im Blick auf das Mittelalter: "Es lehrt die Lebenden Bescheidenheit vor den Leistungen anderer."

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