Was geschieht, wenn wir versuchen, das Leben, in dem wir zu Hause sind, für etwas Besseres zu verlassen? In fünf Schicksalen entfaltet sich in diesem Roman ein grandioses Panorama der modernen indischen Gesellschaft. Neel Mukherjee erzählt in Das Leben in einem Atemzug von Menschen, die aufbrechen, ihr Zuhause verlassen, um für sich und ihre Familien ein besseres Leben zu erlangen. Da ist die Köchin in Mumbai, die in sechs Haushalten kocht; da ist der Mann, der mit seinem Tanzbär von Ort zu Ort zieht, da ist das Mädchen, das vor den Terroristen, die ihr Dorf bedrohen, in die Stadt flieht - sie alle erleben, was es bedeutet, nicht mehr im eigenen, vertrauten Umfeld zu sein. Ihre Schicksale erzählen von den Frösten der Freiheit, vom Fremd- und Alleinsein, von Armut und Arbeit. Aber auch von der Hoffnung und Glück. Ein atmosphärisch dichter Roman aus dem heutigen Indien, einer modernen Gesellschaft, in der die Schatten einer anderen noch deutlich spürbar sind. Leidenschaftlich und voller Empathie entfaltet sich in einem Reigen von Geschichten das unstillbare menschliche Streben nach einem anderen, besseren Leben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.11.2018Ein Blick zurück im Zorn
Neel Mukherjee erzählt von der Rückkehr indischer Auswanderer und Studenten in ihre Heimat
Woher kommt die Wut dieses knapp fünfzigjährigen Schriftstellers aus Kalkutta, der in England studiert hat und seit langem in London wohnt? Er starrt auf seine, die indische, Gesellschaft mit einer geradezu manischen Sucht, das Schwarze, das Hässliche, das Grausame und das Elend zu beschreiben. Er bestätigt dabei, was Auslandsinder im Allgemeinen gern verheimlichen oder beschönigen wollen, nämlich dass in ihrem Heimatland eine riesige Menschenzahl weiterhin in Ungerechtigkeit und Armut lebt. Neel Mukherjee gibt dieser Sichtweise mit seinen Romanen den Stempel der Authentizität, denn der bohrende Realismus seiner Beschreibungen lässt keinen Zweifel zu: Sie sind keineswegs Auswürfe einer sadistischen Phantasie, sondern Ergebnis genauer Beobachtungen.
In seinem letzten Roman, auf deutsch "In anderen Herzen", beschrieb er das Leben einer Großfamilie in Kalkutta (F.A.Z. vom 13. April 2016) mit demselben harten, vielleicht bösen, Blick für die kleinen Grausamkeiten des alltäglichen Lebens. Immerhin gab es zum Schluss eine positive Figur, einen begabten Jungen, dem es gelingt, sich den Fangarmen der Familie zu entwinden und in Amerika eine Existenz aufzubauen. Im neuen Roman von Mukherjee findet sich ein solcher Lichtblick nur auf den letzten dreißig Seiten des vierten Abschnitts. Binay rettet da die Hausangestellte Milly, die von der Familie in Bombay, für die sie arbeitet, in deren Wohnung gefangen gehalten wird. Die beiden heiraten und beginnen in einem Slum ein entbehrungsreiches, aber immerhin sinnvolles Leben, das vor allem den Ausblick auf eine bessere Zukunft ihrer Kinder zulässt. Bleibt von der "modernen indischen Gesellschaft", die der Klappentext verspricht, nur dieser dünne Lichtblick?
Mukherjees Buch besteht aus fünf numerierten Erzählungen, die keinen Bezug zueinander haben, im Grunde ist es also gar kein Roman. Nur Milly taucht in "Zwei" und in "Vier" auf. Der erste Teil beschreibt die Bemühung eines indischen Vaters, der in Amerika wohnt, seinem Sohn den Taj Mahal und andere historische Gebäude in Agra zu erklären. Seine Gespaltenheit zwischen der Erinnerung an die Jugend in Kalkutta und den Ansprüchen des wohlhabenden Auslandsinders lässt ihn zu "einem Touristen in seinem eigenen Land" werden. Vater und Sohn werden ängstlich, als ein Unbekannter sie verfolgt. Die Bedrohung erschüttert den Jungen so heftig, dass er stirbt.
Die Kapitel zwei bis vier sind Kurzromane aus unterschiedlichen Milieus. In "Zwei", in einem Haushalt der Mittelschicht angesiedelt, dreht es sich ums gute Essen. Der Sohn, der in London arbeitet, kehrt zu seinen Eltern nach Bombay zurück, die ihn verwöhnen. Milly und Renu, die beiden Köchinnen, tragen einen zänkischen Wettstreit miteinander aus, wer den Ansprüchen des Sohnes besser genüge. Die Klassenunterschiede, die Arroganz der "Herrschaft", die Ausbeutung des Personals, die Bemühungen des Sohnes, der "westlich" empfindet, um Wahrung von Menschenwürde und eines freundlichen Umgangstons - die Mutter nennt es "Gleichheitsquatsch" - diese Themen werden durchdekliniert, ohne dass sich eine menschliche Entwicklung abzeichnet.
Kapitel drei spielt in einem armen Dorf des Himalaja. Dorthin hat sich ein Bärenjunges verirrt, das der Bauer Lakshman aufzieht in der Hoffnung, es zum Tanzbär abzurichten und so eine Menge Geld zu verdienen. Mukherjee beschreibt, wie sich der Frust über die ausweglose Armut in gewalttätiger Grausamkeit gegenüber dem Tier, der Frau und ihren Kindern entlädt. Die Erzählung mäandert unstrukturiert von einer Verbitterung zur anderen. Als der Bär schließlich ein paar Scheine Verdienst einbringt, verwandelt ein prasselnder Regen sie zu Brei.
Das vierte Kapitel, literarisch das bemerkenswerteste, führt in das von maoistischen Untergrundkämpfern verunsicherte Milieu eines mittelindischen Dorfes. Der Autor kennt sich aus: Die Operationen der Milizen sind genau dargestellt. Von den beiden Freundinnen Milly und Soni schließt sich die Letztere der "Partei" an, während Milly den Ausweg zu den Haushalten der Reichen sucht, sich ausbeuten, schlagen und erniedrigen lässt, bis sie ihren Befreier Binay findet. Das knappe fünfte Kapitel, in Stil und Inhalt isoliert, meditiert in einer Art innerem Monolog die existentielle, trostlose Lebenssituation eines Arbeiters.
In dem früheren Roman waren die Präzision der Sprache wie auch der Übersetzung bemerkenswert. Im neuen Buch dagegen bleiben viele Passagen schwammig. Immer wieder gleitet die Sprache ohne Zweck auf die Ebene des Umgangstons ab und begnügt sich mit Füllwörtern. Die Übersetzung leistet sich Schnitzer wie "das hoffnungslose Los" oder "altbackene chapati", wenn vertrocknete chapati (Brotfladen) gemeint sind.
Wem kann man das Buch empfehlen? Wer emotionale Verhärtung und Niedertracht studieren möchte, wird reichlich Material finden. Wer die Dynamik menschlicher Entwicklungen sucht, ist enttäuscht.
MARTIN KÄMPCHEN
Neel Mukherjee: "Das
Leben in einem Atemzug".
Roman.
Aus dem Englischen von
Giovanni und Ditte Bandini.
Verlag Antje Kunstmann, München 2018. 348 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Neel Mukherjee erzählt von der Rückkehr indischer Auswanderer und Studenten in ihre Heimat
Woher kommt die Wut dieses knapp fünfzigjährigen Schriftstellers aus Kalkutta, der in England studiert hat und seit langem in London wohnt? Er starrt auf seine, die indische, Gesellschaft mit einer geradezu manischen Sucht, das Schwarze, das Hässliche, das Grausame und das Elend zu beschreiben. Er bestätigt dabei, was Auslandsinder im Allgemeinen gern verheimlichen oder beschönigen wollen, nämlich dass in ihrem Heimatland eine riesige Menschenzahl weiterhin in Ungerechtigkeit und Armut lebt. Neel Mukherjee gibt dieser Sichtweise mit seinen Romanen den Stempel der Authentizität, denn der bohrende Realismus seiner Beschreibungen lässt keinen Zweifel zu: Sie sind keineswegs Auswürfe einer sadistischen Phantasie, sondern Ergebnis genauer Beobachtungen.
In seinem letzten Roman, auf deutsch "In anderen Herzen", beschrieb er das Leben einer Großfamilie in Kalkutta (F.A.Z. vom 13. April 2016) mit demselben harten, vielleicht bösen, Blick für die kleinen Grausamkeiten des alltäglichen Lebens. Immerhin gab es zum Schluss eine positive Figur, einen begabten Jungen, dem es gelingt, sich den Fangarmen der Familie zu entwinden und in Amerika eine Existenz aufzubauen. Im neuen Roman von Mukherjee findet sich ein solcher Lichtblick nur auf den letzten dreißig Seiten des vierten Abschnitts. Binay rettet da die Hausangestellte Milly, die von der Familie in Bombay, für die sie arbeitet, in deren Wohnung gefangen gehalten wird. Die beiden heiraten und beginnen in einem Slum ein entbehrungsreiches, aber immerhin sinnvolles Leben, das vor allem den Ausblick auf eine bessere Zukunft ihrer Kinder zulässt. Bleibt von der "modernen indischen Gesellschaft", die der Klappentext verspricht, nur dieser dünne Lichtblick?
Mukherjees Buch besteht aus fünf numerierten Erzählungen, die keinen Bezug zueinander haben, im Grunde ist es also gar kein Roman. Nur Milly taucht in "Zwei" und in "Vier" auf. Der erste Teil beschreibt die Bemühung eines indischen Vaters, der in Amerika wohnt, seinem Sohn den Taj Mahal und andere historische Gebäude in Agra zu erklären. Seine Gespaltenheit zwischen der Erinnerung an die Jugend in Kalkutta und den Ansprüchen des wohlhabenden Auslandsinders lässt ihn zu "einem Touristen in seinem eigenen Land" werden. Vater und Sohn werden ängstlich, als ein Unbekannter sie verfolgt. Die Bedrohung erschüttert den Jungen so heftig, dass er stirbt.
Die Kapitel zwei bis vier sind Kurzromane aus unterschiedlichen Milieus. In "Zwei", in einem Haushalt der Mittelschicht angesiedelt, dreht es sich ums gute Essen. Der Sohn, der in London arbeitet, kehrt zu seinen Eltern nach Bombay zurück, die ihn verwöhnen. Milly und Renu, die beiden Köchinnen, tragen einen zänkischen Wettstreit miteinander aus, wer den Ansprüchen des Sohnes besser genüge. Die Klassenunterschiede, die Arroganz der "Herrschaft", die Ausbeutung des Personals, die Bemühungen des Sohnes, der "westlich" empfindet, um Wahrung von Menschenwürde und eines freundlichen Umgangstons - die Mutter nennt es "Gleichheitsquatsch" - diese Themen werden durchdekliniert, ohne dass sich eine menschliche Entwicklung abzeichnet.
Kapitel drei spielt in einem armen Dorf des Himalaja. Dorthin hat sich ein Bärenjunges verirrt, das der Bauer Lakshman aufzieht in der Hoffnung, es zum Tanzbär abzurichten und so eine Menge Geld zu verdienen. Mukherjee beschreibt, wie sich der Frust über die ausweglose Armut in gewalttätiger Grausamkeit gegenüber dem Tier, der Frau und ihren Kindern entlädt. Die Erzählung mäandert unstrukturiert von einer Verbitterung zur anderen. Als der Bär schließlich ein paar Scheine Verdienst einbringt, verwandelt ein prasselnder Regen sie zu Brei.
Das vierte Kapitel, literarisch das bemerkenswerteste, führt in das von maoistischen Untergrundkämpfern verunsicherte Milieu eines mittelindischen Dorfes. Der Autor kennt sich aus: Die Operationen der Milizen sind genau dargestellt. Von den beiden Freundinnen Milly und Soni schließt sich die Letztere der "Partei" an, während Milly den Ausweg zu den Haushalten der Reichen sucht, sich ausbeuten, schlagen und erniedrigen lässt, bis sie ihren Befreier Binay findet. Das knappe fünfte Kapitel, in Stil und Inhalt isoliert, meditiert in einer Art innerem Monolog die existentielle, trostlose Lebenssituation eines Arbeiters.
In dem früheren Roman waren die Präzision der Sprache wie auch der Übersetzung bemerkenswert. Im neuen Buch dagegen bleiben viele Passagen schwammig. Immer wieder gleitet die Sprache ohne Zweck auf die Ebene des Umgangstons ab und begnügt sich mit Füllwörtern. Die Übersetzung leistet sich Schnitzer wie "das hoffnungslose Los" oder "altbackene chapati", wenn vertrocknete chapati (Brotfladen) gemeint sind.
Wem kann man das Buch empfehlen? Wer emotionale Verhärtung und Niedertracht studieren möchte, wird reichlich Material finden. Wer die Dynamik menschlicher Entwicklungen sucht, ist enttäuscht.
MARTIN KÄMPCHEN
Neel Mukherjee: "Das
Leben in einem Atemzug".
Roman.
Aus dem Englischen von
Giovanni und Ditte Bandini.
Verlag Antje Kunstmann, München 2018. 348 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.11.2018Ausweitung der Wohlstandszone
Empathischer als Naipaul, aber ähnlich pessimistisch: Neel Mukherjee hat einen drastischen Sozialroman
über die indische Klassengesellschaft geschrieben. Warum aber lässt er die realen Fortschritte aus?
VON CHRISTOPH BARTMANN
Auf Heimaturlaub im unvertraut gewordenen Indien will ein Vater seinem kleinen Sohn die Baudenkmäler der Moguln zeigen, auf einer Reise voll kleiner Irritationen, die unversehens tragisch endet. Ein anderer wohlsituierter Auslands-Inder stößt sich bei der Rückkehr nach Bombay am rüden Umgang der Eltern mit dem Dienstpersonal und erkundet auf eigene Faust die dörfliche Herkunftswelt seiner Köchin. Lakshman, ein Tagelöhner aus den Bergen, kommt auf die Idee, einen jungen Bären abzurichten und mit ihm durch die staubige Sommerhitze auf Wanderschaft zu gehen. Milly, das andere Dienstmädchen der Bombayer Familie, ist vor Armut und maoistischen Aufständischen zum Arbeiten in die Stadt geflohen, während sich andere Mädchen bei ihr zuhause in den bewaffneten Kampf verwickeln lassen. Der Bruder des Bärendompteurs schuftet unter lebensgefährlichen Bedingungen auf einer Großbaustelle irgendwo in einer fernen Stadt. Aus fünf indischen Situationen lässt Neel Mukherjee ein Bild des ganzen Landes entstehen, und, soviel ist schon klar, kein besonders hoffnungsvolles.
„A State of Freedom“ heißt sein Roman im englischen Original, und das kann man sowohl auf Figuren beziehen (für die Freiheit durchweg ein Ausnahmezustand ist) wie auf den Staat, in dem sie leben. Der Titel lässt ein berühmtes Vorbild anklingen: „In a Free State“ hatte V.S. Naipaul seinen Roman in drei Erzählungen genannt, der 1971 den Booker-Preis gewann. Auch hier geht es in einer der Geschichten um den Feudalismus im eigenen Haus, der geradezu als Signatur der indischen Gesellschaft verstanden werden kann. Ein vielsagendes Motto von Naipaul steht Mukherjees Roman voran, es heißt: „Schließlich formen wir uns nach den Vorstellungen, die wir von unseren Möglichkeiten haben.“
Die Vorstellungen der Romanfiguren von ihren Möglichkeiten sind, soweit sie Angehörige der dienenden Klassen sind, realistisch, also limitiert. Die Frage, die Mukherjee mit seiner Anlehnung an Naipaul provoziert, ist nun die, ob in Indien noch immer weiten Teilen der Bevölkerung elementare Freiheitsrechte vorent-halten werden.
Das weibliche Haus- und Küchenpersonal kennt Freiheit ohnehin nur vom Hörensagen. Immer gilt es Regeln einzuüben und zu beachten, auf deren Nichtbefolgung Strafen und Sanktionen stehen. Wie etwa macht man ordentlich der Herrschaft das Bett, wenn es einem nicht einmal gestattet ist, sich dazu auf das besagte Bett zu setzen? Und wie hält man sein eigenes Koch- und Essgeschirr, wie gefordert, vom Familiengeschirr fern, wenn es nur eine Spüle für alle gibt? Immerhin wird es Milly erlaubt, „ihre Sachen nach dem Abwasch ganz außen in den Abtropfständer über der Spüle zu stellen“, dabei muss aber unbedingt „eine Lücke von drei bis sechs ‚Stellplätzen‘“ zwischen dem Geschirr der Familie und dem des Personals gelassen werden. Mukherjee ist ein genauer, ja fast passionierter Beobachter dieser innerhäuslichen Apartheid, und er macht an seinen Figuren deutlich, dass jüngere Vertreter der indischen Mittelschicht, gerade wenn sie im westlichen Ausland waren, das elterliche Herrschaftsgebaren oft abstoßend finden.
Der junge Mann in der zweiten Erzählung, der in London gutes Geld als Food-Journalist verdient und gerade ein indisches Kochbuch in Arbeit hat, sucht mit der Familienköchin Renu eine Verständigung, die man heute „intersektional“ nennen würde. Er möchte, so hieß ein anderer Roman Mukherjees, das „Leben der Anderen“ verstehen. Die Köchin reagiert misstrauisch auf die Nachfragen des jungen Mannes, der mit ihr das herrschaftsfreie Gespräch über Essen und Kochen sucht; lieber sind ihr klare Verhältnisse, in denen die Herrschaft anordnet, was auf den Tisch soll. Es gibt nicht viele Romane, in denen so ausdauernd und leidenschaftlich gekocht und über Essen gesprochen wird wie diesen.
Freilich tut sich auch bei diesem Thema wieder die furchterregende Ungleichheit der indischen Gesellschaft auf. Während einem am bürgerlichen Familientisch in Bombay das Wasser im Munde zusammenläuft, konfrontiert Mukherjee die Leser andernorts mit dem Gegenteil. Lakhsman, der Bärenführer, ernährt sich kaum besser als das Tier, das er am Nasenring über die Plätze führt, und Mukherjee geizt nicht mit Szenen, die die ganze Erbärmlichkeit dieses Lebens von Menschen und Tieren vor Augen führen.
Auch wenn Mukherjee vordringlich die drastischen und erschreckenden Seiten des indischen Ungleichheitssyndroms herausarbeitet, ist er nicht taub für ermutigende Signale. Zu Besuch im gar nicht einmal so elenden Heimatdorf der Familienköchin erfährt er, dass ihr Bruder, ausgestattet mit einem Stipendium, in Heidelberg Physik studiert. Die Bedingung dieser Möglichkeit ist es dann allerdings, dass die anderen Geschwister sich in der Stadt als Dienstleisterinnen verdingen, um den Bruder und die alten Eltern mit dem Ersparten zu unterstützen. Wohl oder übel haben die jungen Frauen, die in der Großstadt umschichtig sechs oder mehr Familien bedienen und bekochen und selbst im Slum leben, die Jobofferten vermögender Familien als „Chance“ zu begreifen, wenn nicht für sie selbst, dann wenigstens für ihre eigenen Angehörigen. Gäbe es in den Dörfern Indiens irgendetwas, das auch nur entfernt wie eine Altersversorgung aussähe, dann gäbe es für die arbeitende Generation bessere Möglichkeiten, die Früchte der eigenen selbstausbeuterischen Arbeit zu genießen. Aber das sind reformistische Ideen, die in Indien lange auf ihre Verwirklichung warten lassen.
Aussichtsreicher könnte da der bewaffnete Kampf sein, wie ihn die CPI(M), die „Communist Party of India (Maoists)“ propagiert; Millys beste Freundin hat sich, nicht ganz freiwillig, einem lokalen Trupp angeschlossen. Der militante und manchmal terroristische Kampf nach Art des „Leuchtenden Pfads“ wird die Lebenssituation der entrechteten Klassen nicht verbessern, davon scheint zumindest Mukherjee überzeugt. Könnte es sein, dass am Ende doch am ehesten der Kapitalismus und mit ihm die Ausweitung der Wohlstandszone das Los von Milly, Lakshman oder Renu verbessern werden?
Obwohl Mukherjee mit mehr Empathie ausgestattet ist als Naipaul, kommt er doch zu ähnlich pessimistischen Befunden. Man hätte indessen auch den sozialen Roman der aufsteigenden indischen Mittelklasse schreiben können. Darin hätte unter anderem die Rede sein müssen von immer mehr Frauen, die gut bezahlte Berufe ergreifen und schon deshalb als häusliche Domestikinnen nicht mehr zur Verfügung stehen. Sollten diese Frauen ihrerseits das Verlangen nach häuslicher Bedienung verspüren, müssten sie der Tatsache ins Auge schauen, dass das historische Überangebot an Dienstpersonal auch in Indien im Schwinden begriffen ist.
Immer weniger junge Frauen, so belegen es neuere Statistiken, haben Lust (oder verspüren die Notwendigkeit), die nächste Milly oder Renu in anderer Leute Küchen zu werden. Und vielleicht wird es auch für Männer wie Lakshman einmal Arbeitsmöglichkeiten im eigenen Dorf geben. Der Lockruf vergleichsweise gut bezahlter Jobs auf halsbrecherischen Großbaustellen wird trotzdem noch lange seine Wirkung zeigen.
Wenn man Mukherjee etwas vorwerfen kann, dann vielleicht nur dies: dass er bei seinem Versuch, ein Panorama Indiens an Einzelschicksalen zu entwerfen, sein Augenmerk nicht genug auf die Vorzeichen kommender oder schon begonnener Veränderungen, manchmal sogar zum Besseren, gerichtet hat. Das hätte einerseits bestimmt die Wucht seiner Darstellung gemindert, hätte andererseits aber den Vorzug der Empirie für sich.
Die Zimmermädchen schuften,
damit der Bruder
in Europa studieren kann
Neel Mukherjee wurde 1970 in Kalkutta geboren, studierte Englische Literatur in Oxford und Cambridge und lebt heute in London. „Das Leben in einem Atemzug“ ist sein dritter Roman.
Foto: imago
Linienbus in Neu-Delhi: Bei Mukherjee kennen die Dienstmädchen und Hausangestellten Freiheit nur vom Hörensagen.
Foto: cathal mcnaughton/reuters
Neel Mukherjee: Das Leben in einem Atemzug. Roman. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Verlag Antje Kunstmann, München 2018. 352 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Empathischer als Naipaul, aber ähnlich pessimistisch: Neel Mukherjee hat einen drastischen Sozialroman
über die indische Klassengesellschaft geschrieben. Warum aber lässt er die realen Fortschritte aus?
VON CHRISTOPH BARTMANN
Auf Heimaturlaub im unvertraut gewordenen Indien will ein Vater seinem kleinen Sohn die Baudenkmäler der Moguln zeigen, auf einer Reise voll kleiner Irritationen, die unversehens tragisch endet. Ein anderer wohlsituierter Auslands-Inder stößt sich bei der Rückkehr nach Bombay am rüden Umgang der Eltern mit dem Dienstpersonal und erkundet auf eigene Faust die dörfliche Herkunftswelt seiner Köchin. Lakshman, ein Tagelöhner aus den Bergen, kommt auf die Idee, einen jungen Bären abzurichten und mit ihm durch die staubige Sommerhitze auf Wanderschaft zu gehen. Milly, das andere Dienstmädchen der Bombayer Familie, ist vor Armut und maoistischen Aufständischen zum Arbeiten in die Stadt geflohen, während sich andere Mädchen bei ihr zuhause in den bewaffneten Kampf verwickeln lassen. Der Bruder des Bärendompteurs schuftet unter lebensgefährlichen Bedingungen auf einer Großbaustelle irgendwo in einer fernen Stadt. Aus fünf indischen Situationen lässt Neel Mukherjee ein Bild des ganzen Landes entstehen, und, soviel ist schon klar, kein besonders hoffnungsvolles.
„A State of Freedom“ heißt sein Roman im englischen Original, und das kann man sowohl auf Figuren beziehen (für die Freiheit durchweg ein Ausnahmezustand ist) wie auf den Staat, in dem sie leben. Der Titel lässt ein berühmtes Vorbild anklingen: „In a Free State“ hatte V.S. Naipaul seinen Roman in drei Erzählungen genannt, der 1971 den Booker-Preis gewann. Auch hier geht es in einer der Geschichten um den Feudalismus im eigenen Haus, der geradezu als Signatur der indischen Gesellschaft verstanden werden kann. Ein vielsagendes Motto von Naipaul steht Mukherjees Roman voran, es heißt: „Schließlich formen wir uns nach den Vorstellungen, die wir von unseren Möglichkeiten haben.“
Die Vorstellungen der Romanfiguren von ihren Möglichkeiten sind, soweit sie Angehörige der dienenden Klassen sind, realistisch, also limitiert. Die Frage, die Mukherjee mit seiner Anlehnung an Naipaul provoziert, ist nun die, ob in Indien noch immer weiten Teilen der Bevölkerung elementare Freiheitsrechte vorent-halten werden.
Das weibliche Haus- und Küchenpersonal kennt Freiheit ohnehin nur vom Hörensagen. Immer gilt es Regeln einzuüben und zu beachten, auf deren Nichtbefolgung Strafen und Sanktionen stehen. Wie etwa macht man ordentlich der Herrschaft das Bett, wenn es einem nicht einmal gestattet ist, sich dazu auf das besagte Bett zu setzen? Und wie hält man sein eigenes Koch- und Essgeschirr, wie gefordert, vom Familiengeschirr fern, wenn es nur eine Spüle für alle gibt? Immerhin wird es Milly erlaubt, „ihre Sachen nach dem Abwasch ganz außen in den Abtropfständer über der Spüle zu stellen“, dabei muss aber unbedingt „eine Lücke von drei bis sechs ‚Stellplätzen‘“ zwischen dem Geschirr der Familie und dem des Personals gelassen werden. Mukherjee ist ein genauer, ja fast passionierter Beobachter dieser innerhäuslichen Apartheid, und er macht an seinen Figuren deutlich, dass jüngere Vertreter der indischen Mittelschicht, gerade wenn sie im westlichen Ausland waren, das elterliche Herrschaftsgebaren oft abstoßend finden.
Der junge Mann in der zweiten Erzählung, der in London gutes Geld als Food-Journalist verdient und gerade ein indisches Kochbuch in Arbeit hat, sucht mit der Familienköchin Renu eine Verständigung, die man heute „intersektional“ nennen würde. Er möchte, so hieß ein anderer Roman Mukherjees, das „Leben der Anderen“ verstehen. Die Köchin reagiert misstrauisch auf die Nachfragen des jungen Mannes, der mit ihr das herrschaftsfreie Gespräch über Essen und Kochen sucht; lieber sind ihr klare Verhältnisse, in denen die Herrschaft anordnet, was auf den Tisch soll. Es gibt nicht viele Romane, in denen so ausdauernd und leidenschaftlich gekocht und über Essen gesprochen wird wie diesen.
Freilich tut sich auch bei diesem Thema wieder die furchterregende Ungleichheit der indischen Gesellschaft auf. Während einem am bürgerlichen Familientisch in Bombay das Wasser im Munde zusammenläuft, konfrontiert Mukherjee die Leser andernorts mit dem Gegenteil. Lakhsman, der Bärenführer, ernährt sich kaum besser als das Tier, das er am Nasenring über die Plätze führt, und Mukherjee geizt nicht mit Szenen, die die ganze Erbärmlichkeit dieses Lebens von Menschen und Tieren vor Augen führen.
Auch wenn Mukherjee vordringlich die drastischen und erschreckenden Seiten des indischen Ungleichheitssyndroms herausarbeitet, ist er nicht taub für ermutigende Signale. Zu Besuch im gar nicht einmal so elenden Heimatdorf der Familienköchin erfährt er, dass ihr Bruder, ausgestattet mit einem Stipendium, in Heidelberg Physik studiert. Die Bedingung dieser Möglichkeit ist es dann allerdings, dass die anderen Geschwister sich in der Stadt als Dienstleisterinnen verdingen, um den Bruder und die alten Eltern mit dem Ersparten zu unterstützen. Wohl oder übel haben die jungen Frauen, die in der Großstadt umschichtig sechs oder mehr Familien bedienen und bekochen und selbst im Slum leben, die Jobofferten vermögender Familien als „Chance“ zu begreifen, wenn nicht für sie selbst, dann wenigstens für ihre eigenen Angehörigen. Gäbe es in den Dörfern Indiens irgendetwas, das auch nur entfernt wie eine Altersversorgung aussähe, dann gäbe es für die arbeitende Generation bessere Möglichkeiten, die Früchte der eigenen selbstausbeuterischen Arbeit zu genießen. Aber das sind reformistische Ideen, die in Indien lange auf ihre Verwirklichung warten lassen.
Aussichtsreicher könnte da der bewaffnete Kampf sein, wie ihn die CPI(M), die „Communist Party of India (Maoists)“ propagiert; Millys beste Freundin hat sich, nicht ganz freiwillig, einem lokalen Trupp angeschlossen. Der militante und manchmal terroristische Kampf nach Art des „Leuchtenden Pfads“ wird die Lebenssituation der entrechteten Klassen nicht verbessern, davon scheint zumindest Mukherjee überzeugt. Könnte es sein, dass am Ende doch am ehesten der Kapitalismus und mit ihm die Ausweitung der Wohlstandszone das Los von Milly, Lakshman oder Renu verbessern werden?
Obwohl Mukherjee mit mehr Empathie ausgestattet ist als Naipaul, kommt er doch zu ähnlich pessimistischen Befunden. Man hätte indessen auch den sozialen Roman der aufsteigenden indischen Mittelklasse schreiben können. Darin hätte unter anderem die Rede sein müssen von immer mehr Frauen, die gut bezahlte Berufe ergreifen und schon deshalb als häusliche Domestikinnen nicht mehr zur Verfügung stehen. Sollten diese Frauen ihrerseits das Verlangen nach häuslicher Bedienung verspüren, müssten sie der Tatsache ins Auge schauen, dass das historische Überangebot an Dienstpersonal auch in Indien im Schwinden begriffen ist.
Immer weniger junge Frauen, so belegen es neuere Statistiken, haben Lust (oder verspüren die Notwendigkeit), die nächste Milly oder Renu in anderer Leute Küchen zu werden. Und vielleicht wird es auch für Männer wie Lakshman einmal Arbeitsmöglichkeiten im eigenen Dorf geben. Der Lockruf vergleichsweise gut bezahlter Jobs auf halsbrecherischen Großbaustellen wird trotzdem noch lange seine Wirkung zeigen.
Wenn man Mukherjee etwas vorwerfen kann, dann vielleicht nur dies: dass er bei seinem Versuch, ein Panorama Indiens an Einzelschicksalen zu entwerfen, sein Augenmerk nicht genug auf die Vorzeichen kommender oder schon begonnener Veränderungen, manchmal sogar zum Besseren, gerichtet hat. Das hätte einerseits bestimmt die Wucht seiner Darstellung gemindert, hätte andererseits aber den Vorzug der Empirie für sich.
Die Zimmermädchen schuften,
damit der Bruder
in Europa studieren kann
Neel Mukherjee wurde 1970 in Kalkutta geboren, studierte Englische Literatur in Oxford und Cambridge und lebt heute in London. „Das Leben in einem Atemzug“ ist sein dritter Roman.
Foto: imago
Linienbus in Neu-Delhi: Bei Mukherjee kennen die Dienstmädchen und Hausangestellten Freiheit nur vom Hörensagen.
Foto: cathal mcnaughton/reuters
Neel Mukherjee: Das Leben in einem Atemzug. Roman. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Verlag Antje Kunstmann, München 2018. 352 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Shirin Sojitrawalla ärgert sich über den kitschigen Titel. Dahinter verbirgt sich nämlich kein indisches Epos, sondern harte Gesellschaftskritik, so Sojitrawalla über Neel Mukherjees episodisch angelegten Roman. Was sich als Tourist im eigenen Land erleben lässt, erzählt der Autor laut Sojitrawalla ohne Schönfärberei, realistisch, drastisch mit vielen Perspektivwechseln und bildreicher Sprache für die menschenverachtende Ungleichheit in der indischen Lebenswirklichkeit. Schade findet Sojitrawalla, dass die einzelnen Episoden sich nicht geschmeidig verbinden und der Stil des Ganzen nicht der raffinierteste ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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