Produktdetails
- Verlag: S. FISCHER
- Seitenzahl: 236
- Abmessung: 210mm
- Gewicht: 384g
- ISBN-13: 9783100371041
- Artikelnr.: 24179278
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.01.2022Pandemie der Brutalität
Wie Wowa den Wahnsinn entfesselt: Viktor Jerofejews schockierender Roman "Leben mit einem Idioten" erscheint als illustrierte Neuausgabe.
Viktor Jerofejew, der sich in den vergangenen Jahren hierzulande vor allem als Kritiker der politischen Lage in Russland einen Namen gemacht hat, ist, da seine belletristischen Werke neu auf Deutsch herauskommen, vermehrt auch wieder als Literat zu entdecken. Bei Matthes und Seitz ist nach dem autobiographischen Roman "Der gute Stalin" erstmals Jerofejews "Enzyklopädie der russischen Seele" in deutscher Sprache erschienen. Der in den Neunzigerjahren entstandene Roman ist eine Reflexion über Russland, die differenziert und provokativ autoritäres Denken kritisiert. Nach dem Erscheinen der Originalausgabe forderten russische Nationalisten ein Verbot des Buches, der Autor wurde vor Gericht gestellt.
Als Literat geriet Jerofejew erstmals 1979 in Konflikt mit der Staatsmacht, als er mit Kollegen im Literaturalmanach "Metropol" Moskauer Autoren publizieren wollte, die nicht von der Zensur zugelassen waren. Die Behörden verhinderten das, und Jerofejew wurde aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, erhielt faktisch Berufsverbot. Mehr als zehn Jahre lang schrieb er für die Schublade.
So entstand 1980 der Mini-Roman "Leben mit einem Idioten", der erst nach dem Ende der Sowjetunion 1991 veröffentlicht werden konnte. Der Verlag Ciconia Ciconia hat jetzt eine schön gestaltete Neuausgabe des Romans mit Zeichnungen von Tanya Pioniker produziert. Die Übersetzung von Beate Rausch wurde um ein Vorwort des Autors und einen Essay von Amrei Flechsig ergänzt, der in die Hintergründe des Textes einführt.
Der Erzähler von "Leben mit einem Idioten" ist ein Schriftsteller, dem eine Strafe auferlegt wurde: Er muss mit dem Idioten Wowa zusammenleben. Als dieser bei ihm einzieht, ändert sich das häusliche Leben radikal. Wowa entfesselt Leidenschaft, Gewalt und Wahnsinn.
In der Figur des Idioten beschreibt Jerofejew die Abgründe von Macht und menschlichen Trieben. Schock und Obszönität gehören ebenso zu seinen Mitteln wie ein feines literarisches Spiel mit Formen und Motiven der klassischen Literatur und des sowjetischen Realismus. Einmal wendet sich der Erzähler an den Leser: "Ich werde Ihnen vom schönen Leben erzählen." Es folgt die Verzerrung einer märchenhaften Naturbeschreibung: "Schnee, Sonne, dunkelblaue Schatten der Espen. Fünfunddreißig Grad minus. Winzige Leichen erfrorener Kinderchen." Das wechselt mit Szenen, in denen sich Genossen in einem Hüttenkombinat sozialistisch-realistisch über die Planerfüllung unterhalten.
Wowa ist der lebendig gewordene Albtraum: "Er beschmierte die Tapeten mit Kot, pinkelte in den Kühlschrank, zerkratzte mit dem Messer Parkett und Mobiliar. Er furzte und randalierte." Doch der Erzähler ist fasziniert, er sieht in Wowa einen Intellektuellen, der für seine Ideen "in den Keller verbannt" wurde. Freilich ist es mit Wowas Ideen nicht weit her, mehr als ein "Ach" äußert er nicht. Seine Sprache ist die Gewalt.
Wowa sorgt für Enthemmung und Verrohung. Der Erzähler versteht sich zwar als überzeugter Pazifist. Doch als Wowa seine Frau schlägt und vergewaltigt, bewundert er, wie rücksichtslos dieser seinen Willen durchsetzt: "Wowa trat auf meine Frau zu und klebte ihr eine. So begann unsere Männerkumpanei."
Daraus entwickelt sich eine homosexuelle Beziehung, da Wowa den Erzähler auch mit seinem riesigen Genital beeindruckt. Als der Idiot der überflüssig gewordenen Frau mit einer Gartenschere den Kopf abtrennt, hat der Erzähler nichts dagegen. Solche schockierenden Schilderungen, in denen Gewalt als einzige Form des Miteinanders erscheint, deutet Flechsig als Verweis auf den stalinistischen Terror, zugleich sieht er darin auch eine Kritik an der Normalisierung von Gewalt und Gewaltbildern im Alltag.
Pioniker illustriert in ihren eindrücklichen Zeichnungen die geschilderte Gewalt indirekt. Sie vergegenwärtigt die Figuren und ihre Beziehungen als symbolisch aufgeladene Collagen. Wie Jerofejews Text spielt sie mit klassischen Motiven und der sowjetischen Ästhetik. So stellt sie das triumphierende Männerpaar nach dem Mord an der Frau als zwei Nackte in der Pose der berühmten Statue vom Arbeiter und der Kolchosbäuerin dar. Statt Hammer und Sichel recken sie das abgetrennte Haupt der Medusa empor.
Die junge Moskauer Künstlerin stattet ihre Zeichnungen mit den Attributen von Facebook-Posts und Instagram-Storys aus und setzt Jerofejews Figuren in den Kontext der Gegenwart. Hat Wowa im Text noch das Telefon zerquetscht und so die Verbindung zur Außenwelt gekappt, wird jetzt das "Leben mit einem Idioten" Teil der Selbstinszenierung in den sozialen Medien.
Im Text wie in den Bildern stellt Wowa eine Macht dar, die Menschen verändert, die sich nicht dagegen wehren. Vielmehr passen sie sich ihr an, eifern ihr nach. Schreiben kann der Erzähler erst wieder, als der Idiot wieder aus seinem Leben verschwunden ist. Diese Figur scheint die autoritäre Staatsgewalt zu repräsentieren, deren Einfluss ins Private reicht. Das legt auch der Name Wowa nahe, die Koseform von Wladimir: Wladimir Lenin symbolisiert die Sowjetmacht. Heute denkt man an Wladimir Putin. Bei Pioniker trägt Wowa Lenins Bart, sieht aber auch ein wenig aus wie Putin.
Doch "Leben mit einem Idioten" ist ein vieldeutiger Text, was Jerofejew im Vorwort hervorhebt: "Dies ist eine unendliche Geschichte, denn wir alle leben mit einem Idioten. Der wichtigste ist unser innerer Idiot, er sitzt in uns." NORMA SCHNEIDER
Viktor Jerofejew:
"Leben mit einem
Idioten". Mini-Roman.
Aus dem Russischen von Beate Rausch. Ciconia Ciconia Verlag, Berlin 2021. 92 S., Abb., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie Wowa den Wahnsinn entfesselt: Viktor Jerofejews schockierender Roman "Leben mit einem Idioten" erscheint als illustrierte Neuausgabe.
Viktor Jerofejew, der sich in den vergangenen Jahren hierzulande vor allem als Kritiker der politischen Lage in Russland einen Namen gemacht hat, ist, da seine belletristischen Werke neu auf Deutsch herauskommen, vermehrt auch wieder als Literat zu entdecken. Bei Matthes und Seitz ist nach dem autobiographischen Roman "Der gute Stalin" erstmals Jerofejews "Enzyklopädie der russischen Seele" in deutscher Sprache erschienen. Der in den Neunzigerjahren entstandene Roman ist eine Reflexion über Russland, die differenziert und provokativ autoritäres Denken kritisiert. Nach dem Erscheinen der Originalausgabe forderten russische Nationalisten ein Verbot des Buches, der Autor wurde vor Gericht gestellt.
Als Literat geriet Jerofejew erstmals 1979 in Konflikt mit der Staatsmacht, als er mit Kollegen im Literaturalmanach "Metropol" Moskauer Autoren publizieren wollte, die nicht von der Zensur zugelassen waren. Die Behörden verhinderten das, und Jerofejew wurde aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, erhielt faktisch Berufsverbot. Mehr als zehn Jahre lang schrieb er für die Schublade.
So entstand 1980 der Mini-Roman "Leben mit einem Idioten", der erst nach dem Ende der Sowjetunion 1991 veröffentlicht werden konnte. Der Verlag Ciconia Ciconia hat jetzt eine schön gestaltete Neuausgabe des Romans mit Zeichnungen von Tanya Pioniker produziert. Die Übersetzung von Beate Rausch wurde um ein Vorwort des Autors und einen Essay von Amrei Flechsig ergänzt, der in die Hintergründe des Textes einführt.
Der Erzähler von "Leben mit einem Idioten" ist ein Schriftsteller, dem eine Strafe auferlegt wurde: Er muss mit dem Idioten Wowa zusammenleben. Als dieser bei ihm einzieht, ändert sich das häusliche Leben radikal. Wowa entfesselt Leidenschaft, Gewalt und Wahnsinn.
In der Figur des Idioten beschreibt Jerofejew die Abgründe von Macht und menschlichen Trieben. Schock und Obszönität gehören ebenso zu seinen Mitteln wie ein feines literarisches Spiel mit Formen und Motiven der klassischen Literatur und des sowjetischen Realismus. Einmal wendet sich der Erzähler an den Leser: "Ich werde Ihnen vom schönen Leben erzählen." Es folgt die Verzerrung einer märchenhaften Naturbeschreibung: "Schnee, Sonne, dunkelblaue Schatten der Espen. Fünfunddreißig Grad minus. Winzige Leichen erfrorener Kinderchen." Das wechselt mit Szenen, in denen sich Genossen in einem Hüttenkombinat sozialistisch-realistisch über die Planerfüllung unterhalten.
Wowa ist der lebendig gewordene Albtraum: "Er beschmierte die Tapeten mit Kot, pinkelte in den Kühlschrank, zerkratzte mit dem Messer Parkett und Mobiliar. Er furzte und randalierte." Doch der Erzähler ist fasziniert, er sieht in Wowa einen Intellektuellen, der für seine Ideen "in den Keller verbannt" wurde. Freilich ist es mit Wowas Ideen nicht weit her, mehr als ein "Ach" äußert er nicht. Seine Sprache ist die Gewalt.
Wowa sorgt für Enthemmung und Verrohung. Der Erzähler versteht sich zwar als überzeugter Pazifist. Doch als Wowa seine Frau schlägt und vergewaltigt, bewundert er, wie rücksichtslos dieser seinen Willen durchsetzt: "Wowa trat auf meine Frau zu und klebte ihr eine. So begann unsere Männerkumpanei."
Daraus entwickelt sich eine homosexuelle Beziehung, da Wowa den Erzähler auch mit seinem riesigen Genital beeindruckt. Als der Idiot der überflüssig gewordenen Frau mit einer Gartenschere den Kopf abtrennt, hat der Erzähler nichts dagegen. Solche schockierenden Schilderungen, in denen Gewalt als einzige Form des Miteinanders erscheint, deutet Flechsig als Verweis auf den stalinistischen Terror, zugleich sieht er darin auch eine Kritik an der Normalisierung von Gewalt und Gewaltbildern im Alltag.
Pioniker illustriert in ihren eindrücklichen Zeichnungen die geschilderte Gewalt indirekt. Sie vergegenwärtigt die Figuren und ihre Beziehungen als symbolisch aufgeladene Collagen. Wie Jerofejews Text spielt sie mit klassischen Motiven und der sowjetischen Ästhetik. So stellt sie das triumphierende Männerpaar nach dem Mord an der Frau als zwei Nackte in der Pose der berühmten Statue vom Arbeiter und der Kolchosbäuerin dar. Statt Hammer und Sichel recken sie das abgetrennte Haupt der Medusa empor.
Die junge Moskauer Künstlerin stattet ihre Zeichnungen mit den Attributen von Facebook-Posts und Instagram-Storys aus und setzt Jerofejews Figuren in den Kontext der Gegenwart. Hat Wowa im Text noch das Telefon zerquetscht und so die Verbindung zur Außenwelt gekappt, wird jetzt das "Leben mit einem Idioten" Teil der Selbstinszenierung in den sozialen Medien.
Im Text wie in den Bildern stellt Wowa eine Macht dar, die Menschen verändert, die sich nicht dagegen wehren. Vielmehr passen sie sich ihr an, eifern ihr nach. Schreiben kann der Erzähler erst wieder, als der Idiot wieder aus seinem Leben verschwunden ist. Diese Figur scheint die autoritäre Staatsgewalt zu repräsentieren, deren Einfluss ins Private reicht. Das legt auch der Name Wowa nahe, die Koseform von Wladimir: Wladimir Lenin symbolisiert die Sowjetmacht. Heute denkt man an Wladimir Putin. Bei Pioniker trägt Wowa Lenins Bart, sieht aber auch ein wenig aus wie Putin.
Doch "Leben mit einem Idioten" ist ein vieldeutiger Text, was Jerofejew im Vorwort hervorhebt: "Dies ist eine unendliche Geschichte, denn wir alle leben mit einem Idioten. Der wichtigste ist unser innerer Idiot, er sitzt in uns." NORMA SCHNEIDER
Viktor Jerofejew:
"Leben mit einem
Idioten". Mini-Roman.
Aus dem Russischen von Beate Rausch. Ciconia Ciconia Verlag, Berlin 2021. 92 S., Abb., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main