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»Der Selbstmord«, schrieb Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk, erscheint »als die Quintessenz der Moderne«. Und in der Tat: Nachdem der Versuch, sich das Leben zu nehmen, über Jahrhunderte als Sünde oder Ausdruck einer psychischen Krankheit betrachtet, in einigen Ländern sogar strafrechtlich sanktioniert wurde, vollzieht sich seit dem 20. Jahrhundert ein tiefgreifender Wandel, der zur Entstehung einer neuen Sterbekultur beigetragen hat. Der eigene Tod gilt immer häufiger als »Projekt«, das vom Individuum selbst zu gestalten und zu verantworten ist. Wer sich das Leben nimmt, will es nicht…mehr

Produktbeschreibung
»Der Selbstmord«, schrieb Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk, erscheint »als die Quintessenz der Moderne«. Und in der Tat: Nachdem der Versuch, sich das Leben zu nehmen, über Jahrhunderte als Sünde oder Ausdruck einer psychischen Krankheit betrachtet, in einigen Ländern sogar strafrechtlich sanktioniert wurde, vollzieht sich seit dem 20. Jahrhundert ein tiefgreifender Wandel, der zur Entstehung einer neuen Sterbekultur beigetragen hat. Der eigene Tod gilt immer häufiger als »Projekt«, das vom Individuum selbst zu gestalten und zu verantworten ist. Wer sich das Leben nimmt, will es nicht mehr nur auslöschen, sondern auch ergreifen und ihm neue Bedeutung geben.

Thomas Macho erzählt die facettenreiche Geschichte des Suizids in der Moderne und zeichnet dessen Umwertung in den verschiedensten kulturellen Feldern nach: in der Politik (Suizid als Protest und Attentat), im Recht (Entkriminalisierung des Suizids), in der Medizin (Sterbehilfe) sowie in der Philosophie, der Kunst und den Medien. Er geht zurück zu den kulturellen Wurzeln des Suizids, liest Tagebücher, schaut Filme, betrachtet Kunstwerke, studiert reale Fallgeschichten und zeigt insbesondere, welche Resonanzeffekte sich zwischen den unterschiedlichen Freitodmotiven ergeben. Seine Diagnose: Wir leben in zunehmend suizidfaszinierten Zeiten.
Autorenporträt
Thomas Macho, geboren 1952, war von 1993 bis 2016 Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Gegenwärtig leitet er das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2017

Wenn das Ich zum Würgeengel wird

Vom Wunsch zu sterben - allein oder in Massen: Thomas Macho schreibt so über den Selbstmord, dass man nicht aufhören will, davon zu lesen.

Von Petra Gehring

Schon mit dem Wort fängt es an: Reden wir von Selbstmord? Zu abwertend. Von Freitod? Vielleicht doch eine Beschönigung. Von Selbsttötung? Oder von "Selbst-Entleibung"? Thomas Macho, Kulturwissenschaftler aus Berlin und Wien, entscheidet sich für "Suizid", bevor er das Thema dann so entfaltet, dass es einer faszinierenden sozialgeschichtlichen Wundertüte gleicht.

Die insgesamt dreizehn Kapitel sind prall gefüllt: In loser Orientierung an der Chronologie werden weit ausgreifende Wissensbestände, Fallgeschichten und Betrachtungen verflochten. Wenige, einprägsame Thesen geben gerade genug Halt, dass man nicht abstürzt und sich in den Verzweigungen der Thematik verliert. Dass in der Antike der - gern auch: heroische - Suizid bei guten Gründen durchaus akzeptiert war, ist ein erster Punkt. Erst die beiden schwer zu vereinbarenden christlichen Leitvorstellungen der Todesüberwindung und der Todeshinnahme im Rahmen eines Lebens, das nicht uns selbst, sondern Gott gehört, sorgen für ein rigides Suizidverbot.

Sie erklären auch die vertrackte Stellung des Märtyrertodes, der zwar Todeshingabe fordert, aber gerade kein ,echter' Suizid sein darf. Dann und vor allem ist es die Zäsur der Moderne, mit welcher das Leben zu einem Selbstbesitz wird, zu etwas also, das man sich folgerichtigerweise auch selbst nehmen darf und kann. Macho nennt als symbolisches Datum das Jahr 1751, in welchem Friedrich II. für Preußen die Suizidbestrafung aufhebt. Dass fast zeitgleich eine wissenschaftliche Medizin und Psychologie entstehen, für die der Sterbewunsch zu einer Art Krankheit avanciert, ist die andere Seite der Moderne: Auf dieser Linie wird Selbsttötung regelmäßig als Resultat einer psychischen Katastrophe gedeutet.

Aber das ist nicht alles, und hier geht Macho ins Detail. Es explodieren nach der Romantik und ab 1900 geradezu die auseinanderstrebenden Freitod-Geschichten, Bilder und Szenarien: vom freiwilligen Liebestod über demonstrative Suizid-Inszenierungen auf der Straße, in den Massenmedien und in der Kunst bis zum Hungerstreik als politisches Mittel, vom Kollektivsuizid in Kriegs- und Krisenzeiten, dem "Omnizid" (also dem Selbstmord der ganzen Menschheit, für den die Atombombe steht) bis hin zum suizidalen Terrorismus. So beginnt die Geschichte der Selbstsprengung beispielsweise nicht rund um den 11. September 2001, sondern im neunzehnten Jahrhundert: Als Erfinderin der Sprengstoffweste - eigentlich einer Sprengstoffkorsage - kann eine einundzwanzigjährige russische Konzertpianistin gelten, die ihr Attentat letztlich allerdings doch mittels einer Schusswaffe durchführte.

Macho unterscheidet "suizidfaszinierte Kulturen oder Epochen" (die allerdings dann auch intensiv Suizidprävention betreiben und das Phänomen in seiner ganzen Ambivalenz studieren) und "suizidkritische Kulturen", die den Suizidenten verachten und dazu tendieren, ihn einfach sterben zu lassen. Allerdings können demonstrative Suizidverachtung und heimliche Todessehnsucht auch nah beieinanderliegen - Machos Beispiel hierfür ist die mittelalterlich-christliche Bild- und Gefühlswelt.

Für die Moderne hingegen sei der Suizid "ein Leitmotiv" - wir sind also suizidfasziniert und dies sogar in hohem Maße. So gehört es zu den vielen Schocks der Zeit um 1800, dass eine radikal begriffene subjektive Freiheit den Schritt zum stets naheliegenden "nihilistischen" Suizid winzig werden lässt: Wenn jedes Ich "sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein Würgeengel sein?", schreibt Jean Paul. Ein Jahrhundert später werden es neben Philosophie, Literatur und Psychologie vor allem die Fotografie und Filme sein, die den Paradoxien eines einerseits freiheits- und auch diesseitsversessenen, andererseits unstillbar an der Option des Todes durch die eigene Hand interessierten Existenzgefühls nachgehen.

Es ist unmöglich, Machos mit ihrem Gegenstand geradezu verschmelzende Studie, die letztlich ein Erzähl-Buch ist, zusammenzufassen. An jeder Stelle zeugt es von großer Milde, lässt sich berühren, stellt spekulative Überlegungen an. Warum etwa bringen sich Künstler so besonders häufig um? Und es wertet auch recht entschieden: indem es nämlich Wertungen verweigert oder jeweils behutsam mit möglichen Gegeneinwänden kontrastiert. Weder, um vom Suizid abzuraten, noch, um ihn zu verteidigen, macht sich der Text jemals in irgendeiner Weise zum Herrn des Lesers. Insofern ist dieses große Werk über den Suizid auch ein durch seine Diskretion angenehmes Buch.

Je nach Interessenlage oder vielleicht auch Stimmung wird man diese oder jene Passage besonders schätzen. So wirft das Kapitel über Schulsuizide Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein Schlaglicht auf den dann dringlichen Aufbruch in Sachen Reformschule. Und ein nachdenkliches Kapitel ist der originellen Frage nach den "Orten" des Suizids gewidmet. Macho geht aus von der "Leitdifferenz zwischen Suiziden im eigenen Wohnbereich und in fremder Umgebung", um dann weiterzufragen: wo in der eigenen Wohnung wohl genau? Bett? Bad? Und was zeichnet Suizid-Orte draußen in der Natur eigentlich aus? An Kitsch grenzende landschaftliche Weite und Leere. Ob es dabei um das Ideal eines sich öffnenden Raumes der Möglichkeiten geht?

Patientenverfügungen, die das Sterben im Voraus organisieren, oder überhaupt Sterbehilfe sieht Macho als einen Formenwandel, der Sterben und Suizid einander näherbringt: Anstatt Schicksal zu sein, wird der Tod in der Moderne als "kalkulierbares und gestaltbare Projekt" wahrgenommen: "eigentlich als Suizid". Möglicherweise könnte man die Selbsttötung in suizidfaszinierten Zeiten auch als potentielle "Selbsttechnik" bezeichnen, als ethische Anstrengung also, das eigene Lebensganze abzurunden.

Macho bietet derlei Überlegungen nur an. Er drängt sie nicht auf, sondern bleibt der gelehrte Erzähler - und schlägt man die nächste Seite auf, staunt man über noch einmal neue Wendungen des Themas. Man liest daher einfach sehr gern weiter. Immer weiter. Irgendwann denkt man an Scheherezade, die über 1001 Nächte hinweg kunstreich, wenn auch unter Zwang, Geschichten ersann. Was besagt es wohl, dass ein Buch über den Suizid am besten nicht aufhören soll?

Thomas Macho: "Das Leben nehmen". Suizid in der Moderne.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.

531 S., geb., 28,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Wie sehr Wahrnehmung und Realität des Suizids auseinanderklaffen, zeigt das kluge Buch des österreichischen Soziologen und Philosophen Thomas Macho ... . Macho bringt eine Ordnung, fast schon eine Methodologie in die Geschichte des Suizids und zeigt leitmotivisch auf, wie sehr die Selbsttötung mit der Moderne verbunden ist.« Sarah Pines Neue Zürcher Zeitung 20171209