Unsere Zeit bedarf einer Philosophie, die sich den kleinen und großen Lebensfragen stellt: Welche Bedeutung haben Berührungen, Gewohnheiten, Sehnsüchte, Schönes? Was ist Glück? Hat das eigene Leben, das Leben überhaupt einen Sinn? Welchem Zweck dient die Arbeit? Wie lässt sich Orientierung fürs Leben finden? Wie umgehen mit Ärger, Lebenskrisen, Enttäuschungen, Schmerzen, Krankheit und Tod? Ein Philosoph kann Lebenssituationen analysieren und mögliche Antworten vorschlagen. Philosophie wird zur Lebenshilfe durch die immer neue Orientierung des Lebens mithilfe des Denkens.
Wilhelm Schmid, Bestsellerautor (Gelassenheit, Glück), konnte seine Ideen zur Neubegründung einer philosophischen Lebenskunst über zehn Jahre hinweg in einem Krankenhaus in der Nähe von Zürich erproben. Und er machte die Entdeckung, wie wichtig für Menschen die bloße Tatsache eines Gesprächs über all das ist, was sie bewegt und wofür kaum irgendwo sonst Zeit zur Verfügung steht.
Der Philosoph ist ein Partner für das Lebensgespräch, ein säkularer Seelsorger. Bereits Sokrates bezeichnete seine Tätigkeit lange vor dem Christentum als Seelsorge, als Hilfestellung für andere Menschen zu ihrer Sorge für sich selbst.
Wilhelm Schmid, Bestsellerautor (Gelassenheit, Glück), konnte seine Ideen zur Neubegründung einer philosophischen Lebenskunst über zehn Jahre hinweg in einem Krankenhaus in der Nähe von Zürich erproben. Und er machte die Entdeckung, wie wichtig für Menschen die bloße Tatsache eines Gesprächs über all das ist, was sie bewegt und wofür kaum irgendwo sonst Zeit zur Verfügung steht.
Der Philosoph ist ein Partner für das Lebensgespräch, ein säkularer Seelsorger. Bereits Sokrates bezeichnete seine Tätigkeit lange vor dem Christentum als Seelsorge, als Hilfestellung für andere Menschen zu ihrer Sorge für sich selbst.
»Schmid schreibt klar und unmissverständlich, ohne je banal zu wirken oder sich lange bei Selbstverständlichkeiten aufzuhalten. Philosophie gewinnt hier einen ursprünglichen Sinn zurück.« Thomas Groß Frankfurter Allgemeine Zeitung
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2016Der ärgste Feind der Selbstbestimmung
Um Lebenssinn geht es, wenn eine Maxime genauso richtig ist wie ihr Gegenteil: Wilhelm Schmid erprobt philosophische Hilfestellungen im Krankenhaus.
Von Stephan Sahm
Merkwürdig sei das Leben, rätselhaft, widersprüchlich, unvorhersehbar und noch manches mehr. Wie ein Frosch, der tauche auf, tauche ab, quake, entgleite dem, der ihn zu fangen versuche. So antwortet der Philosoph und Bestsellerautor einer Patientin, die an bipolarer Störung leidet. In einer Phase der Niedergeschlagenheit hatte die gefragt: Das soll Leben sein?
Damit ist der Ton des Genres angeschlagen: Hier ist ein Causeur am Werk. Und in immer neuen Varianten erzählt der von der Lebenskunst. Die Neubegründung und Verbreitung einer Philosophie der selbigen ist sein Markenzeichen seit nunmehr drei Jahrzehnten. In seinem jüngsten Buch betritt er Grenzland: Er geht ins Krankenhaus. Zehn Jahre hat er in einer Klinik in Affoltern, Schweiz, in regelmäßigen Abständen Wochen verbracht. Anlass war ein Essay des Autors in einer Baseler Zeitung mit dem Titel "Vom Sinn der Schmerzen". Ein Chefarzt las ihn und lud Schmid ein. Von nun an war er Gast, bunter Vogel, Libero, in einem Betrieb, der von vielen lieber gemieden wird. Vor einem Ort, an dem es um Leben und Tod geht, darf ein Philosoph der Lebenskunst-Philosophie nicht kneifen.
Die Dramen, von denen der Autor berichtet, widerfahren den Bessergestellten. Wer fürchtet, in diesem Buch mit an Konflikten reichen Szenen in Notfallambulanzen konfrontiert zu werden, mit randalierenden Suchtkranken, Verkehrsunfällen, Wohnsitzlosen, die im Winter unter dem Deckmantel einer Krankheit Obdach suchen, darf beruhigt sein. In Affoltern ist man wohlsituiert. Die Patienten sind gebildet, in den zahlreichen in wörtlicher Rede wiedergegebenen Dialogen erweisen sie sich als sprachlich kompetent. Mithin ein wohlbereitetes Feld für die vom Autor propagierte philosophische Seelsorge.
Seine Dienste offeriert Schmid in allen Bereichen der Klinik. Er spricht mit Patienten, Mitarbeitern der Verwaltung, mit Chefärzten, Schwestern und den Handwerkern. Das Küchenpersonal wird ebenfalls bedacht. Man nimmt Teil an der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Schneiden der Kiwis. Es geht um Wertschätzung, um Achtsamkeit. Der Philosoph, ein Freund im belastenden Alltag. Wie in den Arztserien spielt die Musik nicht selten zwischen den Mitarbeitern. Sinnfragen betreffen Patienten wie Pflegende und Ärzte. Schmid bietet Seminare und Vorträge an. Schließlich leuchtet die Idee eines von der Philosophie der Lebenskunst beseelten Krankenhauses.
"Jede Krankheit kann eine Lebenskrise sein." Das erklärt man gerne Jugendlichen im Konfirmandenunterricht. Krisen kann der Philosoph nicht lösen. Seine Aufgabe sei die Mäeutik, die Hebammenkunst, wie Sokrates sie vorgelebt hat, instrumentiert mit Gedanken aus der reichhaltigen Literatur zur Lebenskunst von der Antike, über die essayistischen Reflexionen eines Michel Montaigne bis hin zu Michel Foucaults "Die Geburt der Klinik". Die Gesprächspartner sollen ihre Antworten selbst finden. Und doch gibt Schmid ständig welche. Und liegt dann nicht selten daneben. Wenn etwa die in den Bauchraum perforierte Divertikelentzündung im Darm in Bezug zu Charaktereigenschaften des Patienten gesetzt wird ("Ich war derjenige, der sich schnell über etwas aufregte"). Aufgeklärte Begleitung sollte Patienten vor allfälligen Fehldeutungen schützen. Es ist eine Sache, die Erfahrung von Krankheit zum Anlass zu nehmen, über das Leben nachzudenken, vielleicht es auch zu ändern. Etwas anderes ist es, die aufgeworfenen Fragen und Deutungen in eine kausale Beziehung zur Entstehung eines Leidens zu setzen. Dies führt nicht selten in die Sackgasse der Esoterik mit der Gefahr von Schuldzuschreibung am Krankheitsgeschehen.
Das alles ist im angenehmen Plauderton geschrieben, niemand wird überfordert, Fremdworte werden erklärt, Existenzkrisen in verträgliche Episoden eingeteilt, wie bei den Arztserien. Stets geht es um Sinn, um Glück, um Leid und Schmerz, Angst vor dem Tod, Angst um den Arbeitsplatz, natürlich um die Seele, das ganze Leben und manchmal auch um Transzendenz. Negative Folie ist die moderne Zeit. Man kennt das: die Technik, die Wirtschaft, der Verlust der Gewissheiten und vieles mehr. Schmids Vademecum ist das Sowohl-als-auch. Immer ist das Gegenteil auch richtig: Glück ist, wenn man bekommt, was man wünscht, aber auch, wenn man es erträgt, dass man nicht alles kriegt.
Bei alledem darf man dem Philosophen Menschenfreundlichkeit bescheinigen. Es tut Gesunden wie Kranken gut, wenn einer sie ernst nimmt und mit ihnen spricht. Und er beachtet Grenzen, jenseits derer die Philosophie der Lebenskunst schweigen muss. Da ist etwa die Schuld. Da könne der Lebenskünstler allenfalls ermuntern zur Übernahme von Verantwortung. Das ist ehrlich. Hilft aber angesichts der Erfahrung von Schuld nicht immer. Das gilt nicht nur für Patienten, auch für Mediziner. Die nicht selten als vernichtend erlebten Krisen von Ärzten, die Fehler begangen haben, legen davon Zeugnis ab. Die Transformation zur Bereitschaft, dafür geradezustehen, ist eines. Verzeihen ist mehr. So weit reicht die philosophische Seelsorge dann doch nicht.
Immerhin, Schmids Achtsamkeit schützt ihn vor den Verblendungen, die eine zeitgenössische Medizinethik nicht selten an den Tag legt. Für die sind die Begrenzungen der Selbstbestimmung angesichts von Krankheit nichts als ärztlicher Paternalismus. Doch die Wirklichkeit passt sich diesem Wunschbild nicht an. Patienten sind, so Schmid, selten fähig zur Selbstbestimmung. Sie bedürfen der Sorge durch andere. Was Schmid dazu schreibt, löckt wider den Stachel zeitgenössischer Illusionen. Eric Cassell, der amerikanische Bioethiker, brachte es auf den Punkt: Der ärgste Feind der Selbstbestimmung ist die Krankheit.
Am Schluss die Enttäuschung. Eine neue Leitung der Klinik hat nichts übrig für philosophische Anmutungen. Umstrukturierung. Die moderne Zeit eben.
Wilhelm Schmid: "Das Leben verstehen". Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 382 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Um Lebenssinn geht es, wenn eine Maxime genauso richtig ist wie ihr Gegenteil: Wilhelm Schmid erprobt philosophische Hilfestellungen im Krankenhaus.
Von Stephan Sahm
Merkwürdig sei das Leben, rätselhaft, widersprüchlich, unvorhersehbar und noch manches mehr. Wie ein Frosch, der tauche auf, tauche ab, quake, entgleite dem, der ihn zu fangen versuche. So antwortet der Philosoph und Bestsellerautor einer Patientin, die an bipolarer Störung leidet. In einer Phase der Niedergeschlagenheit hatte die gefragt: Das soll Leben sein?
Damit ist der Ton des Genres angeschlagen: Hier ist ein Causeur am Werk. Und in immer neuen Varianten erzählt der von der Lebenskunst. Die Neubegründung und Verbreitung einer Philosophie der selbigen ist sein Markenzeichen seit nunmehr drei Jahrzehnten. In seinem jüngsten Buch betritt er Grenzland: Er geht ins Krankenhaus. Zehn Jahre hat er in einer Klinik in Affoltern, Schweiz, in regelmäßigen Abständen Wochen verbracht. Anlass war ein Essay des Autors in einer Baseler Zeitung mit dem Titel "Vom Sinn der Schmerzen". Ein Chefarzt las ihn und lud Schmid ein. Von nun an war er Gast, bunter Vogel, Libero, in einem Betrieb, der von vielen lieber gemieden wird. Vor einem Ort, an dem es um Leben und Tod geht, darf ein Philosoph der Lebenskunst-Philosophie nicht kneifen.
Die Dramen, von denen der Autor berichtet, widerfahren den Bessergestellten. Wer fürchtet, in diesem Buch mit an Konflikten reichen Szenen in Notfallambulanzen konfrontiert zu werden, mit randalierenden Suchtkranken, Verkehrsunfällen, Wohnsitzlosen, die im Winter unter dem Deckmantel einer Krankheit Obdach suchen, darf beruhigt sein. In Affoltern ist man wohlsituiert. Die Patienten sind gebildet, in den zahlreichen in wörtlicher Rede wiedergegebenen Dialogen erweisen sie sich als sprachlich kompetent. Mithin ein wohlbereitetes Feld für die vom Autor propagierte philosophische Seelsorge.
Seine Dienste offeriert Schmid in allen Bereichen der Klinik. Er spricht mit Patienten, Mitarbeitern der Verwaltung, mit Chefärzten, Schwestern und den Handwerkern. Das Küchenpersonal wird ebenfalls bedacht. Man nimmt Teil an der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Schneiden der Kiwis. Es geht um Wertschätzung, um Achtsamkeit. Der Philosoph, ein Freund im belastenden Alltag. Wie in den Arztserien spielt die Musik nicht selten zwischen den Mitarbeitern. Sinnfragen betreffen Patienten wie Pflegende und Ärzte. Schmid bietet Seminare und Vorträge an. Schließlich leuchtet die Idee eines von der Philosophie der Lebenskunst beseelten Krankenhauses.
"Jede Krankheit kann eine Lebenskrise sein." Das erklärt man gerne Jugendlichen im Konfirmandenunterricht. Krisen kann der Philosoph nicht lösen. Seine Aufgabe sei die Mäeutik, die Hebammenkunst, wie Sokrates sie vorgelebt hat, instrumentiert mit Gedanken aus der reichhaltigen Literatur zur Lebenskunst von der Antike, über die essayistischen Reflexionen eines Michel Montaigne bis hin zu Michel Foucaults "Die Geburt der Klinik". Die Gesprächspartner sollen ihre Antworten selbst finden. Und doch gibt Schmid ständig welche. Und liegt dann nicht selten daneben. Wenn etwa die in den Bauchraum perforierte Divertikelentzündung im Darm in Bezug zu Charaktereigenschaften des Patienten gesetzt wird ("Ich war derjenige, der sich schnell über etwas aufregte"). Aufgeklärte Begleitung sollte Patienten vor allfälligen Fehldeutungen schützen. Es ist eine Sache, die Erfahrung von Krankheit zum Anlass zu nehmen, über das Leben nachzudenken, vielleicht es auch zu ändern. Etwas anderes ist es, die aufgeworfenen Fragen und Deutungen in eine kausale Beziehung zur Entstehung eines Leidens zu setzen. Dies führt nicht selten in die Sackgasse der Esoterik mit der Gefahr von Schuldzuschreibung am Krankheitsgeschehen.
Das alles ist im angenehmen Plauderton geschrieben, niemand wird überfordert, Fremdworte werden erklärt, Existenzkrisen in verträgliche Episoden eingeteilt, wie bei den Arztserien. Stets geht es um Sinn, um Glück, um Leid und Schmerz, Angst vor dem Tod, Angst um den Arbeitsplatz, natürlich um die Seele, das ganze Leben und manchmal auch um Transzendenz. Negative Folie ist die moderne Zeit. Man kennt das: die Technik, die Wirtschaft, der Verlust der Gewissheiten und vieles mehr. Schmids Vademecum ist das Sowohl-als-auch. Immer ist das Gegenteil auch richtig: Glück ist, wenn man bekommt, was man wünscht, aber auch, wenn man es erträgt, dass man nicht alles kriegt.
Bei alledem darf man dem Philosophen Menschenfreundlichkeit bescheinigen. Es tut Gesunden wie Kranken gut, wenn einer sie ernst nimmt und mit ihnen spricht. Und er beachtet Grenzen, jenseits derer die Philosophie der Lebenskunst schweigen muss. Da ist etwa die Schuld. Da könne der Lebenskünstler allenfalls ermuntern zur Übernahme von Verantwortung. Das ist ehrlich. Hilft aber angesichts der Erfahrung von Schuld nicht immer. Das gilt nicht nur für Patienten, auch für Mediziner. Die nicht selten als vernichtend erlebten Krisen von Ärzten, die Fehler begangen haben, legen davon Zeugnis ab. Die Transformation zur Bereitschaft, dafür geradezustehen, ist eines. Verzeihen ist mehr. So weit reicht die philosophische Seelsorge dann doch nicht.
Immerhin, Schmids Achtsamkeit schützt ihn vor den Verblendungen, die eine zeitgenössische Medizinethik nicht selten an den Tag legt. Für die sind die Begrenzungen der Selbstbestimmung angesichts von Krankheit nichts als ärztlicher Paternalismus. Doch die Wirklichkeit passt sich diesem Wunschbild nicht an. Patienten sind, so Schmid, selten fähig zur Selbstbestimmung. Sie bedürfen der Sorge durch andere. Was Schmid dazu schreibt, löckt wider den Stachel zeitgenössischer Illusionen. Eric Cassell, der amerikanische Bioethiker, brachte es auf den Punkt: Der ärgste Feind der Selbstbestimmung ist die Krankheit.
Am Schluss die Enttäuschung. Eine neue Leitung der Klinik hat nichts übrig für philosophische Anmutungen. Umstrukturierung. Die moderne Zeit eben.
Wilhelm Schmid: "Das Leben verstehen". Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 382 S., geb., 22,- [Euro].
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