Das Leben gilt, in Adornos Worten, seit der Antike als der eigentliche Bereich der Philosophie, die nach dem richtigen und guten Leben fragt. Seit etwas mehr als einem Jahrhundert ist das Leben aber auch zu einem Gegenstand der Sozialwissenschaften geworden. Der renommierte französische Mediziner, Anthropologe und Soziologe Didier Fassin regt in seinem faszinierenden Buch nun zu einem kritischen Dialog zwischen Philosophie und Sozialforschung an.
Zur Debatte stehen dabei drei Konzepte: Die »Formen des Lebens« untersucht Fassin angesichts der widersprüchlichen Interpretationen von Ludwig Wittgensteins Begriff der Lebensform. Mit der »Ethik des Lebens« beschäftigt er sich unter Bezug auf Walter Benjamins Idee der Heiligkeit des Lebens als höchstem Gut. Und die »Politik des Lebens« erkundet Didier Fassin im Anschluss an Michel Foucaults Konzept der Biopolitik. Gestützt auf zahlreiche ethnografische Fallstudien, die zeigen, wie Leben in verschiedenen kulturellen und historischen Kontexten betrachtet und erfahren wird, entwickelt Fassin eine kritische Ethnologie gegenwärtiger Gesellschaften.
Zur Debatte stehen dabei drei Konzepte: Die »Formen des Lebens« untersucht Fassin angesichts der widersprüchlichen Interpretationen von Ludwig Wittgensteins Begriff der Lebensform. Mit der »Ethik des Lebens« beschäftigt er sich unter Bezug auf Walter Benjamins Idee der Heiligkeit des Lebens als höchstem Gut. Und die »Politik des Lebens« erkundet Didier Fassin im Anschluss an Michel Foucaults Konzept der Biopolitik. Gestützt auf zahlreiche ethnografische Fallstudien, die zeigen, wie Leben in verschiedenen kulturellen und historischen Kontexten betrachtet und erfahren wird, entwickelt Fassin eine kritische Ethnologie gegenwärtiger Gesellschaften.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2017Für eine Welt, in der wir gut und gerne leben
Leben gegen Leben darf man nicht abwägen, sagt das Menschenrecht. Und doch geschieht es ständig. Der französische Anthropologe Didier Fassin zeigt in Fallstudien, was das konkret bedeutet.
Einer der Slogans der Neonazis, die durch Charlottesville marschierten, lautete "White Lives Matter". Folgt man dem politischen Philosophen Mark Lilla, dessen polemische Kritik der Identitätspolitik auch im deutschen Justemilieu auf große Resonanz stößt, so hatten es sich die Erfinder des Namens der jüngsten schwarzen Bürgerrechtsbewegung selbst zuzuschreiben, dass ihnen ihre Feinde die Losung entwendeten, um sie in rassistischer Absicht umzupolen. Für Lilla ist "Black Lives Matter" ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie man Solidarität nicht organisiert. Die Aktivisten, die aus dem Tod von Michael Brown in der Kleinstadt Ferguson im Umland von St. Louis ein Fanal machten, hätten den Fehler begangen, an ihre Mitbürger nicht als Mitbürger zu appellieren, sondern ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der Schwarzen zu betonen.
Lilla hat seine Reputation mit Auslegungen philosophischer Autoren des Dichtheitsgrades von Leo Strauss erworben. Die Mangelhaftigkeit seiner Interpretation des Drei-Wörter-Satzes "Black Lives Matter" zeigt schon der Blick auf den Wortlaut. Der Satz appelliert unüberlesbar an etwas, was Schwarze und Weiße gemeinsam haben: die Eigenschaft, menschliche Lebewesen zu sein.
Der Begriff des Lebens als Generalschlüssel der gegenwärtigen Politik ist der Gegenstand der Adorno-Vorlesungen, die der französische Anthropologe Didier Fassin im Vorjahr an der Universität Frankfurt hielt (F.A.Z. vom 20. Juni 2016). In den drei Vorlesungen, die dem jetzt erschienenen Buch zugrunde liegen, geht er jeweils von terminologischen Überlegungen in Anknüpfung an Klassiker der Sozialtheorie unter besonderer Berücksichtigung Frankfurter Hausgötter aus, um eine begriffliche Ambivalenz herauszupräparieren, die er in einem zweiten Schritt mit Befunden seiner Feldforschung illustriert - denkbar konkrete Befunde, typischerweise einzelne Fallgeschichten.
Fassin, geboren 1955, bekleidet seit 2009 die weltweit wohl luxuriöseste Position, die sein Fach zu bieten hat, den Lehrstuhl von Clifford Geertz am Institute for Advanced Study in Princeton. Seine empirischen Studien führen ihn, der über die Medizin zur gesellschaftlichen Symptomatik und politischen Ätiologie gekommen ist, in Krankenhäuser, Gefängnisse, Hospize, Flüchtlingslager und Elendsquartiere in Frankreich, Afrika und Palästina.
Zur Diskussion um "Black Lives Matter" steuert Fassin eine Notiz aus seinen Feldforschungen zur Polizeiarbeit in den Vorstädten von Paris bei. In diesem Fall handelt es sich um die Bemerkung eines Mitforschers. Der Kollege hatte viele Jahre lang in den Armenvierteln von Großstädten der Vereinigten Staaten gearbeitet. "Als ich ihm erzählte, dass in Frankreich alle Unruhen in den Städten seit den 1980er Jahren eine Reaktion auf den Tod von Jugendlichen aus ethnisch-rassischen Minderheiten und sozialen Schichten mit niedrigem Einkommen gewesen seien, dessen Ursache gewaltsame Zusammenstöße mit den Ermittlungsbeamten waren, scherzte er, dass wenn solche Vorfälle in den Vereinigten Staaten ähnliche Reaktionen hervorrufen würden, das Land ständig im Aufruhr wäre. Der Tod von Afroamerikanern unter solchen Umständen würde im Grunde genommen niemanden kümmern." Anders gesagt: Auf schwarze Leben kam es nicht an.
Fassin belegt mit der kollegialen Einschätzung, dass der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft vor dem Ereignis von Ferguson ein Bewusstsein dafür fehlte, wie alltäglich für Schwarze das Risiko ist, zum Opfer von Polizeigewalt zu werden. Das lebensweltliche Wissen der Minderheit und das Wissen, an dem sich die Mehrheit orientiert, klafften auseinander. Nicht nur ist das Leben zumal junger schwarzer Männer in anderer Weise gefährdet als das ihrer weißen Altersgenossen, es wird außerdem als Erfahrungsreservoir und Erkenntnisquelle ignoriert. Und diese Missachtung wird als Verdopplung der körperlichen Gewalt erlebt.
Schwarze Leben sind etwas wert. Der absolute Gebrauch des Verbs "to matter" ist üblich. Aber jedermann weiß, wie der Satz zu ergänzen ist: Schwarze Leben sind genauso viel wert wie weiße. Der Witz der Devise ist nicht die philosophische These der Gleichheit der Menschen ungeachtet der Hautfarbe, die der Abolitionismus des neunzehnten Jahrhunderts noch gegen die Verteidiger der Sklaverei durchsetzen musste. Die wohlmeinenden Liberalen, die noch vor der Appropriation von "White Lives Matter" durch die Neonazis zu bedenken gaben, weiße Leben seien doch auch etwas wert, verfehlten den Punkt. Erst recht gilt das für die Polizeilobbyisten, die sich die Variation "Blue Lives Matter" einfallen ließen. Dieser Spruch blendet aus, dass bei Polizisten erstens die Möglichkeit der Lebensgefahr zu den Berufsrisiken zählt und dass ihre Aufgabe zweitens der Schutz des Lebens ist.
Ein Hauptgedanke Fassins, der 2010 eine Geschichte der "humanitären Vernunft" vorlegte, ist: Eine dem Leben als Höchstwert verpflichtete Politik manövriert sich in Aporien. Wenn Leben gegen Leben steht, kann scheinbar keine Entscheidung mehr fallen. Betrachtet man freilich wie bei den "blauen Leben" die tatsächlichen Funktionen und Ansprüche, die in die Waagschalen gelegt werden, so erweisen sich manche Pattsituationen als trügerisch.
Fassins Arbeit am Lebensbegriff steht in der französischen Tradition der Selbstkritik des Universalismus, die in Deutschland meist nur in der ideologischen Zurichtung durch die gealterten "neuen Philosophen" ankommt. Das Leben, oft als nacktes oder bloßes apostrophiert, wird als natürliches Substrat und Inbegriff des Konkreten gegen die Allgemeinbegriffe einer idealistischen Moral ausgespielt, verwandelt sich aber ebenfalls in eine abstrakte Münze.
Mark Lilla bestreitet nicht, dass die "Black Lives Matter"-Bewegung mit der polizeilichen Misshandlung von Schwarzen ein ernstes Problem zur Sprache gebracht hat. Im Jargon eines Bernard-Henri Lévy redet er von einem Weckruf ans Gewissen. Aber er wirft der Bewegung vor, aus ihrem Monitum eine Anklage gegen die amerikanische Gesellschaft und den Justiz- und Polizeiapparat als ganzen gemacht zu haben. Diese Zurückweisung der Frage nach den allgemeinen Bedingungen von Einzelfällen, die eine fatale Kette bilden, sobald man hinblickt, verträgt sich schlecht mit Lillas Selbstbild als Champion des Universalismus.
Der Skandal, den der Satz "Black Lives Matter" mit kontrafaktischer Nüchternheit der Verzweiflung auf den Punkt bringt, liegt in der Empirie von Handicaps, die stabil bleiben, auch wenn rassistische Gesinnung sich verflüchtigt: Schwarze Leben sind de facto weniger wert, weil Schwarze in schlechten Wohngegenden konzentriert werden, wo die Schulen ebenso schlecht sind wie die öffentlichen Verkehrsmittel und wo das Polizeirevier auch nicht die besten Nachwuchskräfte anzieht. Alles scheint sich verschworen zu haben, um das Leben missglücken zu lassen. Diesen Schein einer unmenschlichen Totalität nicht zu dementieren, sondern als Bedingungsgeflecht zu analysieren ist die Mission der Anthropologie von Didier Fassin.
PATRICK BAHNERS
Didier Fassin: "Das Leben". Eine kritische Gebrauchsanweisung.
Aus dem Englischen von Christine Pries. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
191 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Leben gegen Leben darf man nicht abwägen, sagt das Menschenrecht. Und doch geschieht es ständig. Der französische Anthropologe Didier Fassin zeigt in Fallstudien, was das konkret bedeutet.
Einer der Slogans der Neonazis, die durch Charlottesville marschierten, lautete "White Lives Matter". Folgt man dem politischen Philosophen Mark Lilla, dessen polemische Kritik der Identitätspolitik auch im deutschen Justemilieu auf große Resonanz stößt, so hatten es sich die Erfinder des Namens der jüngsten schwarzen Bürgerrechtsbewegung selbst zuzuschreiben, dass ihnen ihre Feinde die Losung entwendeten, um sie in rassistischer Absicht umzupolen. Für Lilla ist "Black Lives Matter" ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie man Solidarität nicht organisiert. Die Aktivisten, die aus dem Tod von Michael Brown in der Kleinstadt Ferguson im Umland von St. Louis ein Fanal machten, hätten den Fehler begangen, an ihre Mitbürger nicht als Mitbürger zu appellieren, sondern ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der Schwarzen zu betonen.
Lilla hat seine Reputation mit Auslegungen philosophischer Autoren des Dichtheitsgrades von Leo Strauss erworben. Die Mangelhaftigkeit seiner Interpretation des Drei-Wörter-Satzes "Black Lives Matter" zeigt schon der Blick auf den Wortlaut. Der Satz appelliert unüberlesbar an etwas, was Schwarze und Weiße gemeinsam haben: die Eigenschaft, menschliche Lebewesen zu sein.
Der Begriff des Lebens als Generalschlüssel der gegenwärtigen Politik ist der Gegenstand der Adorno-Vorlesungen, die der französische Anthropologe Didier Fassin im Vorjahr an der Universität Frankfurt hielt (F.A.Z. vom 20. Juni 2016). In den drei Vorlesungen, die dem jetzt erschienenen Buch zugrunde liegen, geht er jeweils von terminologischen Überlegungen in Anknüpfung an Klassiker der Sozialtheorie unter besonderer Berücksichtigung Frankfurter Hausgötter aus, um eine begriffliche Ambivalenz herauszupräparieren, die er in einem zweiten Schritt mit Befunden seiner Feldforschung illustriert - denkbar konkrete Befunde, typischerweise einzelne Fallgeschichten.
Fassin, geboren 1955, bekleidet seit 2009 die weltweit wohl luxuriöseste Position, die sein Fach zu bieten hat, den Lehrstuhl von Clifford Geertz am Institute for Advanced Study in Princeton. Seine empirischen Studien führen ihn, der über die Medizin zur gesellschaftlichen Symptomatik und politischen Ätiologie gekommen ist, in Krankenhäuser, Gefängnisse, Hospize, Flüchtlingslager und Elendsquartiere in Frankreich, Afrika und Palästina.
Zur Diskussion um "Black Lives Matter" steuert Fassin eine Notiz aus seinen Feldforschungen zur Polizeiarbeit in den Vorstädten von Paris bei. In diesem Fall handelt es sich um die Bemerkung eines Mitforschers. Der Kollege hatte viele Jahre lang in den Armenvierteln von Großstädten der Vereinigten Staaten gearbeitet. "Als ich ihm erzählte, dass in Frankreich alle Unruhen in den Städten seit den 1980er Jahren eine Reaktion auf den Tod von Jugendlichen aus ethnisch-rassischen Minderheiten und sozialen Schichten mit niedrigem Einkommen gewesen seien, dessen Ursache gewaltsame Zusammenstöße mit den Ermittlungsbeamten waren, scherzte er, dass wenn solche Vorfälle in den Vereinigten Staaten ähnliche Reaktionen hervorrufen würden, das Land ständig im Aufruhr wäre. Der Tod von Afroamerikanern unter solchen Umständen würde im Grunde genommen niemanden kümmern." Anders gesagt: Auf schwarze Leben kam es nicht an.
Fassin belegt mit der kollegialen Einschätzung, dass der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft vor dem Ereignis von Ferguson ein Bewusstsein dafür fehlte, wie alltäglich für Schwarze das Risiko ist, zum Opfer von Polizeigewalt zu werden. Das lebensweltliche Wissen der Minderheit und das Wissen, an dem sich die Mehrheit orientiert, klafften auseinander. Nicht nur ist das Leben zumal junger schwarzer Männer in anderer Weise gefährdet als das ihrer weißen Altersgenossen, es wird außerdem als Erfahrungsreservoir und Erkenntnisquelle ignoriert. Und diese Missachtung wird als Verdopplung der körperlichen Gewalt erlebt.
Schwarze Leben sind etwas wert. Der absolute Gebrauch des Verbs "to matter" ist üblich. Aber jedermann weiß, wie der Satz zu ergänzen ist: Schwarze Leben sind genauso viel wert wie weiße. Der Witz der Devise ist nicht die philosophische These der Gleichheit der Menschen ungeachtet der Hautfarbe, die der Abolitionismus des neunzehnten Jahrhunderts noch gegen die Verteidiger der Sklaverei durchsetzen musste. Die wohlmeinenden Liberalen, die noch vor der Appropriation von "White Lives Matter" durch die Neonazis zu bedenken gaben, weiße Leben seien doch auch etwas wert, verfehlten den Punkt. Erst recht gilt das für die Polizeilobbyisten, die sich die Variation "Blue Lives Matter" einfallen ließen. Dieser Spruch blendet aus, dass bei Polizisten erstens die Möglichkeit der Lebensgefahr zu den Berufsrisiken zählt und dass ihre Aufgabe zweitens der Schutz des Lebens ist.
Ein Hauptgedanke Fassins, der 2010 eine Geschichte der "humanitären Vernunft" vorlegte, ist: Eine dem Leben als Höchstwert verpflichtete Politik manövriert sich in Aporien. Wenn Leben gegen Leben steht, kann scheinbar keine Entscheidung mehr fallen. Betrachtet man freilich wie bei den "blauen Leben" die tatsächlichen Funktionen und Ansprüche, die in die Waagschalen gelegt werden, so erweisen sich manche Pattsituationen als trügerisch.
Fassins Arbeit am Lebensbegriff steht in der französischen Tradition der Selbstkritik des Universalismus, die in Deutschland meist nur in der ideologischen Zurichtung durch die gealterten "neuen Philosophen" ankommt. Das Leben, oft als nacktes oder bloßes apostrophiert, wird als natürliches Substrat und Inbegriff des Konkreten gegen die Allgemeinbegriffe einer idealistischen Moral ausgespielt, verwandelt sich aber ebenfalls in eine abstrakte Münze.
Mark Lilla bestreitet nicht, dass die "Black Lives Matter"-Bewegung mit der polizeilichen Misshandlung von Schwarzen ein ernstes Problem zur Sprache gebracht hat. Im Jargon eines Bernard-Henri Lévy redet er von einem Weckruf ans Gewissen. Aber er wirft der Bewegung vor, aus ihrem Monitum eine Anklage gegen die amerikanische Gesellschaft und den Justiz- und Polizeiapparat als ganzen gemacht zu haben. Diese Zurückweisung der Frage nach den allgemeinen Bedingungen von Einzelfällen, die eine fatale Kette bilden, sobald man hinblickt, verträgt sich schlecht mit Lillas Selbstbild als Champion des Universalismus.
Der Skandal, den der Satz "Black Lives Matter" mit kontrafaktischer Nüchternheit der Verzweiflung auf den Punkt bringt, liegt in der Empirie von Handicaps, die stabil bleiben, auch wenn rassistische Gesinnung sich verflüchtigt: Schwarze Leben sind de facto weniger wert, weil Schwarze in schlechten Wohngegenden konzentriert werden, wo die Schulen ebenso schlecht sind wie die öffentlichen Verkehrsmittel und wo das Polizeirevier auch nicht die besten Nachwuchskräfte anzieht. Alles scheint sich verschworen zu haben, um das Leben missglücken zu lassen. Diesen Schein einer unmenschlichen Totalität nicht zu dementieren, sondern als Bedingungsgeflecht zu analysieren ist die Mission der Anthropologie von Didier Fassin.
PATRICK BAHNERS
Didier Fassin: "Das Leben". Eine kritische Gebrauchsanweisung.
Aus dem Englischen von Christine Pries. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
191 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.12.2017Lebensklug
Gesellschaftskritische französische Theorieliteratur mit persönlicher Note – das Genre hat eine gute Presse in letzter Zeit und kann einem doch ziemlich auf die Nerven gehen. Vor allem, weil darin viel davon geredet wird, was sich alles ändern müsste in der Welt, aber wenig davon, wie. Das ist zwar auch in dem Buch „Das Leben. Eine kritische Gebrauchsanweisung“ des Anthropologen Didier Fassin nicht anders. Aber jetzt, wo es behaglich, besinnlich und festlich werden soll, und wo gleichzeitig für arme, geplagte Menschen Spenden gesammelt werden, hat dieses Buch doch eine andere Dringlichkeit: weil es einen scharfen Blick auf das gesamte Verhältnis der gelungenen zur entrechteten Existenz wirft. Der Autor, der in Frankreich im Sozialwohnblock aufwuchs und heute einen renommierten Lehrstuhl in Princeton bekleidet, untersucht, „wie es sein kann, dass die abstrakte Wertschätzung des Lebens als höchstes Gut in den als demokratisch geltenden Gesellschaften nicht verhindert, dass die konkreten Leben unterschiedlich bewertet werden“. Das Besondere dabei ist der Versuch, die Fragen der Lebensphilosophie, die Biologie und die soziale Ungleichheit zusammenzudenken. Geht es etwa bei den Flüchtlingen um die gesamte Würde der Person oder nur ums nackte Überleben? Was heißt eigentlich „Black lives matter?“ Fassin verwebt die philosophische Diskussion mit eindringlichen Fallstudien. Nicht leicht, nicht behaglich zu lesen, aber wichtig. Suhrkamp, 191 Seiten, 25 Euro.
JOHANN SCHLOEMANN
Literaturkritiker
im Feuilleton
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Gesellschaftskritische französische Theorieliteratur mit persönlicher Note – das Genre hat eine gute Presse in letzter Zeit und kann einem doch ziemlich auf die Nerven gehen. Vor allem, weil darin viel davon geredet wird, was sich alles ändern müsste in der Welt, aber wenig davon, wie. Das ist zwar auch in dem Buch „Das Leben. Eine kritische Gebrauchsanweisung“ des Anthropologen Didier Fassin nicht anders. Aber jetzt, wo es behaglich, besinnlich und festlich werden soll, und wo gleichzeitig für arme, geplagte Menschen Spenden gesammelt werden, hat dieses Buch doch eine andere Dringlichkeit: weil es einen scharfen Blick auf das gesamte Verhältnis der gelungenen zur entrechteten Existenz wirft. Der Autor, der in Frankreich im Sozialwohnblock aufwuchs und heute einen renommierten Lehrstuhl in Princeton bekleidet, untersucht, „wie es sein kann, dass die abstrakte Wertschätzung des Lebens als höchstes Gut in den als demokratisch geltenden Gesellschaften nicht verhindert, dass die konkreten Leben unterschiedlich bewertet werden“. Das Besondere dabei ist der Versuch, die Fragen der Lebensphilosophie, die Biologie und die soziale Ungleichheit zusammenzudenken. Geht es etwa bei den Flüchtlingen um die gesamte Würde der Person oder nur ums nackte Überleben? Was heißt eigentlich „Black lives matter?“ Fassin verwebt die philosophische Diskussion mit eindringlichen Fallstudien. Nicht leicht, nicht behaglich zu lesen, aber wichtig. Suhrkamp, 191 Seiten, 25 Euro.
JOHANN SCHLOEMANN
Literaturkritiker
im Feuilleton
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Patrick Bahners liest Didier Fassins "kritische Gebrauchsanweisung" für das Leben, dem drei im vergangenen Jahr an der Universität Frankfurt gehaltene Adorno-Vorlesungen zugrunde liegen, mit Gewinn. Der in Princeton lehrende Anthropologe und Soziologe betrachtet hier unter Rückgriff auf Klassiker der Sozialtheorie und Frankfurter Philosophen, aber auch anhand von zahlreichen konkreten Fallstudien seiner jahrelangen Feldforschung die Ambivalenz des Lebensbegriffs, erklärt der Kritiker. So liest Bahners hier etwa nach, dass erst das Ereignis von Ferguson in der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft ein Bewusstsein dafür schuf, wie alltäglich das Risiko für Schwarze in den USA ist, Opfer von Polizeigewalt zu werden, ihr Leben demnach in anderer Weise gefährdet ist, als jenes ihrer weißen Altersgenossen. Dass der Autor das "Bedingungsgeflecht" der "unmenschlichen Totalität" nicht dementiert, sondern genau analysiert, rechnet ihm Bahners hoch an.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Nicht leicht, nicht behaglich zu lesen, aber wichtig.« Johann Schloemann Süddeutsche Zeitung 20171202