Es war ein langer Weg von Trinidad nach Oslo, wo er im Jahre 2001 den Literatur-Nobelpreis verliehen bekam. Es galt, drei Kulturen verstehen zu lernen: Indien, das Land seiner Ahnen. Das post-koloniale Trinidad, das Eiland seiner Kindheit. Und nicht zuletzt das England der Romane, die er verschlang. Am Anfang stand die Erkenntnis, wie wenig er wusste. Indien kannte er nur aus veralteten Erzählungen, die Geschichte Trinidads war in Vergessenheit geraten - und England schien auf einem anderen Planeten zu liegen. Doch die Neugier war geweckt und damit der Wunsch, das Gefühl der Fremdheit zu überwinden. Naipaul rang von Buch zu Buch und von Reise zu Reise um ein unerschöpfliches Reservoir an Erfahrung und Wissen. Heute kann er von sich sagen, dass er Licht in seine Welt gebracht hat - und damit auch in unsere. Das Lesen und das Schreiben ist die perfekte Ergänzung zu den Briefen zwischen Vater und Sohn, da es Naipauls schriftstellerischen Werdegang zusammenfasst und auf den Punkt bringt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.05.2003Ich bin die Summe meiner Bücher
Selbstauskunft eines Nobelpreisträgers: Essays von V. S. Naipaul
Wer von der Finsternis redet, kann vom Erhellenden nicht schweigen. Lange diente Aufklärern daher die Rhetorik dunkler Bedrohungen dazu, sich und ihr Werk ins rechte Licht zu rücken. Dann aber schickte Joseph Conrad eine Erzählerfigur so tief ins "Herz der Finsternis", daß sie daraus nur um den Preis des Unbehagens wiederkehrte, das die Moderne von ihren Errungenschaften nicht mehr abschütteln kann. Was vormals strahlende Gewißheit schien, wird seither immer drängender von seinen Schatten heimgesucht - und immer skeptischer von Erzählern untersucht, wenn sie die aufgeklärte Welt aufs neue vor die alten Rätsel stellen.
Genau hundert Jahre nach der Veröffentlichung von Conrads folgenreicher Erzählung trat V. S. Naipaul 2001 ins Rampenlicht der Nobelpreisfeier und erklärte, wie er zum Schreiben kam: "Als ich Schriftsteller wurde, fand ich meine Themen in diesen Ländern der Finsternis, zwischen denen ich aufgewachsen war." Seit Kinderjahren schon sah er sich stets als Autor; erst lange Jahre später allerdings erkannte er, daß es gerade die Hindernisse auf dem Weg zum Literarischen waren, die ihm letztlich dazu verhelfen sollten. Als Enkel indischer Einwanderer in Trinidad geboren, verbrachte er die ersten achtzehn Jahre seines Lebens in einer Plantagenkolonie, deren Abseitigkeit und Abhängigkeit er als "Finsternis" empfand und der er seither zu entkommen sucht. Wovon er in englischen Romanen las, schien völlig fremd und phantastisch. Doch den ersten eigenen Romananfang zu finden gelang nur um den Preis, alles Vertraute schreibend auf die Probe zu stellen: "Ich mußte meine Welt erhellen, ich mußte sie mir selbst erklären."
Dies ist seit fünf Jahrzehnten Naipauls obsessives Thema, mit dem er nicht nur ein umfangreiches Werk, sondern auch sich selbst erschaffen hat: "Ich bin die Summe meiner Bücher." Das Erstaunliche und Verstörende seiner Romane, Reisebücher, Reportagen und Essays jedoch ist, wie unerbittlich sie zugleich die Brüchigkeit der Selbstgewißheiten protokollieren, an denen sie sich festhalten. Die romantische Pose des intuitiven Welt- und Selbstschöpfers, die Naipaul in der Nobelpreisrede einnimmt, ist ebenso geborgt und ungesichert wie die Rolle des imperialen Reisenden, die er für seine Erkundungen in Asien, Afrika und der Karibik so oft angenommen hat. Nicht zuletzt dadurch erscheint dieser Autor als ein postkolonialer Wiedergänger Conrads, daß seine Lektüre uns den Glauben an die Aufgeklärtheit moderner Lebenswelten nimmt.
Die Rede und die beiden neueren Essays, mit denen der Claassen Verlag das verdienstvolle Projekt seiner deutschen Werkausgabe fortsetzt, gehören gewiß nicht zu Naipauls stärksten Arbeiten. Die Motive, Argumente und Beispiele, die entfaltet werden, finden sich in früheren Texten schon sehr viel prägnanter. Wie bereits in seinem letzten Roman, "Ein halbes Leben", zitiert und collagiert Naipaul hier vorwiegend, was vom Schreiben übrigblieb. Dennoch ist auch dieses kleine Bändchen durchaus lesenswert. Zum einen, weil es uns auf Naipauls bleibend große Werke wie "Das Rätsel der Ankunft" rückblickend verweist. Und zum anderen, weil noch sein Selbstzitat den Nachhall weitreichender Welterschütterungen hörbar macht. Zu Zeiten, da eine Rhetorik von Licht und Finsternis, von Gut und Böse die Achsen der Weltpolitik bestimmt, sind Naipauls literarische Erkundungen weiterhin so unbehaglich wie erhellend.
TOBIAS DÖRING
V. S. Naipaul: "Das Lesen und das Schreiben". Aus dem Englischen übersetzt von Kathrin Razum und Dirk van Gunsteren. Claassen Verlag, München 2003. 96 S., geb., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Selbstauskunft eines Nobelpreisträgers: Essays von V. S. Naipaul
Wer von der Finsternis redet, kann vom Erhellenden nicht schweigen. Lange diente Aufklärern daher die Rhetorik dunkler Bedrohungen dazu, sich und ihr Werk ins rechte Licht zu rücken. Dann aber schickte Joseph Conrad eine Erzählerfigur so tief ins "Herz der Finsternis", daß sie daraus nur um den Preis des Unbehagens wiederkehrte, das die Moderne von ihren Errungenschaften nicht mehr abschütteln kann. Was vormals strahlende Gewißheit schien, wird seither immer drängender von seinen Schatten heimgesucht - und immer skeptischer von Erzählern untersucht, wenn sie die aufgeklärte Welt aufs neue vor die alten Rätsel stellen.
Genau hundert Jahre nach der Veröffentlichung von Conrads folgenreicher Erzählung trat V. S. Naipaul 2001 ins Rampenlicht der Nobelpreisfeier und erklärte, wie er zum Schreiben kam: "Als ich Schriftsteller wurde, fand ich meine Themen in diesen Ländern der Finsternis, zwischen denen ich aufgewachsen war." Seit Kinderjahren schon sah er sich stets als Autor; erst lange Jahre später allerdings erkannte er, daß es gerade die Hindernisse auf dem Weg zum Literarischen waren, die ihm letztlich dazu verhelfen sollten. Als Enkel indischer Einwanderer in Trinidad geboren, verbrachte er die ersten achtzehn Jahre seines Lebens in einer Plantagenkolonie, deren Abseitigkeit und Abhängigkeit er als "Finsternis" empfand und der er seither zu entkommen sucht. Wovon er in englischen Romanen las, schien völlig fremd und phantastisch. Doch den ersten eigenen Romananfang zu finden gelang nur um den Preis, alles Vertraute schreibend auf die Probe zu stellen: "Ich mußte meine Welt erhellen, ich mußte sie mir selbst erklären."
Dies ist seit fünf Jahrzehnten Naipauls obsessives Thema, mit dem er nicht nur ein umfangreiches Werk, sondern auch sich selbst erschaffen hat: "Ich bin die Summe meiner Bücher." Das Erstaunliche und Verstörende seiner Romane, Reisebücher, Reportagen und Essays jedoch ist, wie unerbittlich sie zugleich die Brüchigkeit der Selbstgewißheiten protokollieren, an denen sie sich festhalten. Die romantische Pose des intuitiven Welt- und Selbstschöpfers, die Naipaul in der Nobelpreisrede einnimmt, ist ebenso geborgt und ungesichert wie die Rolle des imperialen Reisenden, die er für seine Erkundungen in Asien, Afrika und der Karibik so oft angenommen hat. Nicht zuletzt dadurch erscheint dieser Autor als ein postkolonialer Wiedergänger Conrads, daß seine Lektüre uns den Glauben an die Aufgeklärtheit moderner Lebenswelten nimmt.
Die Rede und die beiden neueren Essays, mit denen der Claassen Verlag das verdienstvolle Projekt seiner deutschen Werkausgabe fortsetzt, gehören gewiß nicht zu Naipauls stärksten Arbeiten. Die Motive, Argumente und Beispiele, die entfaltet werden, finden sich in früheren Texten schon sehr viel prägnanter. Wie bereits in seinem letzten Roman, "Ein halbes Leben", zitiert und collagiert Naipaul hier vorwiegend, was vom Schreiben übrigblieb. Dennoch ist auch dieses kleine Bändchen durchaus lesenswert. Zum einen, weil es uns auf Naipauls bleibend große Werke wie "Das Rätsel der Ankunft" rückblickend verweist. Und zum anderen, weil noch sein Selbstzitat den Nachhall weitreichender Welterschütterungen hörbar macht. Zu Zeiten, da eine Rhetorik von Licht und Finsternis, von Gut und Böse die Achsen der Weltpolitik bestimmt, sind Naipauls literarische Erkundungen weiterhin so unbehaglich wie erhellend.
TOBIAS DÖRING
V. S. Naipaul: "Das Lesen und das Schreiben". Aus dem Englischen übersetzt von Kathrin Razum und Dirk van Gunsteren. Claassen Verlag, München 2003. 96 S., geb., 10,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Nicht zu Naipauls stärksten Werken zählt Rezensent Tobias Döring die im Band enthaltene Nobelpreisrede sowie zwei Essays. Der Rezensent findet die Pose des intuitiven Selbst- und Weltschöpfers", die Naipaul in diesen Texten eingenommen hat, "geborgt und ungesichert wie die Rolle des imperialen Reisenden", die er in seiner Prosa oft angenommen habe. Dennoch findet er das Bändchen lesenswert, da es den Leser rückblickend auf Naipauls "bleibend große Werke" verweise und Döring selbst noch in Naipauls Selbstzitaten den "Nachhall weitreichender Welterschütterungen" hört. Seine Bedeutung erhält das Buch besonders im Kontext der deutschen Naipaul-Werkausgabe, die sie Döring zufolge nun fortsetzt: ein, wie er findet, insgesamt "verdienstvolles Projekt".
© Perlentaucher Medien GmbH"
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