Nach dreißig Jahren wiederentdeckt: Martin Gross: Das letzte Jahr. Aufzeichnungen aus einem ungültigen LandDer westdeutsche Autor Martin Gross lebte 1990 überwiegend in der DDR, um den Niedergang und die Neugestaltung des Landes aus nächster Nähe zu beobachten. In zahlreichen Alltagsnotizen beschrieb er, wie die Menschen den Wechsel vom alten in das neue System vollzogen. Er porträtierte so unterschiedliche Personen wie den Bewacher eines ehemaligen Stasi-Gefängnisses, den Filialleiter eines der neuen Supermärkte, die Heizer eines Kraftwerks, die Personenschützer eines Ministers und die Reinigungskräfte eines Regierungsgebäudes. Sein Buch Das letzte Jahr erschien 1992 bei BasisDruck Berlin, geriet dann aber in Vergessenheit. 2019 stieß Jan Wenzel bei seinen Recherchen für sein Buch Das Jahr 1990 freilegen auf Martin Gross und übernahm viele seiner Aufzeichnungen. Mit 30 Jahren Abstand wurden sie von der Kritik nun als "hellsichtige", "präzise", "stilistisch brillante" Beobachtungen des Wendejahres wahrgenommen. Der Autor selbst war aber nicht auffindbar. Erst im Juni 2020 entstand auf Umwegen ein Kontakt, und die Neuausgabe des Titels konnte geplant werden. Martin Gross, geboren 1952 im Schwarzwald, ging 1970 nach West-Berlin. Ab 1981 arbeitete er als Lehrbeauftragter im Fach Germanistik und als Feuilletonist. Später dann als Koordinator für Projekte zwischen russischen, indischen und europäischen Universitäten. Heute lebt er in der Nähe von Lüneburg.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2020Sollte die Revolution im Osten den Westen befreit haben?
Wiederentdeckung: Der Bericht von Martin Gross über das Jahr der deutschen Wiedervereinigung erscheint nach dreißig Jahren in einer neuen Ausgabe
Dieses Buch ist ein Glücksfall für den Herbst 2020, in dem dreißig Jahre deutsche Wiedervereinigung begangen werden. Eine Generation liegt das Geschehen nun zurück. Fast genauso lang dauerte es, um ein vergessenes Buch wiederzuentdecken, das die Wurzeln der heutigen deutsch-deutschen Problemgeschichte aus dem Jahr 1990 in bestechender Weise offenlegt. Das als tagebuchartiger Briefroman aufgebaute Buch von Martin Gross, "Das letzte Jahr", ist in seiner Mischung aus literarischer Reportage und scharfsinniger Beobachtung ein beeindruckendes Zeitzeugnis. Aus den lebendigen Schilderungen seiner Begegnungen mit Noch-DDR-Bürgern formt Gross mit Sinn für scheinbare Nebensächlichkeiten die dichte Beschreibung eines kulturellen Systems im Zerfall und eines anderen im Aufbau.
Der aus dem Schwarzwald stammende Germanist Gross ging im Januar 1990 nach Dresden, wo einige entfernte Verwandte von ihm lebten, um den Umbruch im Osten aus nächster Nähe mitzuerleben. Er kam zu einem Zeitpunkt, als auf den Montagsdemos bereits die schwarzrotgoldenen Fahnen dominierten und der politische Aufbruch schon zur Erinnerung geworden war. "Ich gehe in diesem Land umher, wie in einem stillgelegten Bahnhof . . . durch ein Land, das sich aufgegeben hat. Was ich jetzt sehe, ist nicht mehr gültig - oder höchstens noch eine Weile", schildert Gross seine Ankunft in der fremden Stadt. Weitsichtig deutet Gross die Lkw-Kolonnen aus dem Westen: "Sie transportieren die Arbeitslosigkeit in den Osten."
Wenn man die Umbruchsereignisse in der DDR mit den Ethnologen als ein großes Übergangsritual, als einen "rite de passage", betrachtet, dann ist das, was Gross vor allem dokumentiert, der "liminale Schwellenzustand": ein Zeitraum, der unbestimmt und diffus zwischen alter und neuer Zugehörigkeit liegt. Für kurze Zeit ist alles möglich, Regeln sind außer Kraft gesetzt oder durch andere ersetzt worden. In dieser Lücke bewegt sich Gross, der in Manier eines Günter Wallraff die Reinigungskraft im Rat des Bezirks genauso bei der Arbeit begleitet wie die Personenschützer eines neu ernannten Ministers.
Der Westdeutsche Gross dokumentiert genau, wie sich die DDR-Bürger in kürzester Zeit in Sprache und Verhalten die Kulturtechniken des Kapitalismus aneignen, wie rasch die Gespräche mit seinen Verwandten sich auf "das Geld" fokussieren, auf Steuerklassen, auf Versicherungen und Sonderangebote. In der Beschreibung der Gesichter der Menschen und in der Schilderung von Straßenszenen findet Gross seine Stilmittel, in überhitzten Räumen und einer allumfassenden Müdigkeit seine Motive. Die Straßen der Stadt, einst Orte der Staatspropaganda, werden zu Konsumflächen. Anfangs bleiben die Menschen noch neugierig an den Verkaufsständen stehen, lauschen den Marktschreiern und beäugen skeptisch die kostenlosen Buchexemplare einer religiösen Sekte. Wenige Monate später gehen sie achtlos vorüber. Sie haben inzwischen gelernt, nicht an jedem Warenreiz hängenzubleiben und durch ein Gegenüber hindurchzusehen.
Auch der Beobachter Gross verändert sich im Laufe des Jahres, wird vom neugierigen Chronisten zum Polemiker, der kurz nach dem 3. Oktober 1990 eine allgemeine "Degradierung, Entmündigung, Ausplünderung" im Osten konstatiert. Am Ende steht die bittere Bilanz einer ehemaligen Zeitungsredakteurin aus dem Januar 1991: "Eigentlich hat ja die ganze Vergangenheit ihren Sinn verloren."
Das Buch gewinnt seine Qualität auch dadurch, dass die Selbstreflexionen des Autors in den Text einfließen. Immer wieder sinniert Gross über seine westdeutsche Beobachter- und Sprecherposition, die er nicht als selbstverständlich hinnimmt: "Wir sprechen alle deutsch, aber nicht dieselbe Sprache." Und er denkt darüber nach, ob das, was sich vor seinen Augen abspielt, denn nun eine Revolution sei. Was er beschreibt, ist genau das: eine völlige Umkehrung der Machtverhältnisse auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Wie wäre es sonst möglich, dass ihn ein Polizist im Januar 1990 durch die verlassene Bezirkszentrale der Staatssicherheit führt, in der "am Ende ein riesiger Apparat seine eigenen Fiktionen verwaltete". Und Gross scheut auch nicht den radikalen Perspektivwechsel: "Es sieht ganz danach aus, als habe die Revolution im Osten vor allem den Westen befreit."
Das Buch gewährt dem Leser einen Einblick in den Maschinenraum der Transformation, wenn sein Autor sich immer wieder in Fabriken und Verwaltungsgebäude begibt, um als stiller Chronist den personellen, institutionellen und räumlichen Umbau zu beobachten. Für die zahlreichen aus dem Westen entsandten Beamten und Berater muss Platz geschaffen werden, Kompetenzen werden neu verteilt und Hierarchien eingerichtet.
Wiederentdeckt wurde Gross vom Leipziger Verleger Jan Wenzel, der bei seiner Arbeit an dem Buch "Das Jahr 1990 freilegen" (F.A.Z. vom 6. März 2020) auf den Band aufmerksam wurde, seinen Autor aber zunächst nicht ausfindig machen konnte. Erst im Juni dieses Jahres gelang über Umwege die Kontaktaufnahme, und nicht einmal drei Monate später verwirklichte Wenzel eine geradezu bibliophile Neuausgabe des 1992 erstmals beim Berliner Basisdruck-Verlag erschienenen Buches. In seinem Nachwort spricht der Verleger von 1990 als einem "Jahr von langer Dauer". Genau so beschreibt es Martin Gross in seinen literarischen Miniaturen, als ein Jahr vieler Ungewissheiten, Gefühlslagen und Weichenstellungen, das bis heute nachwirkt.
RENÉ SCHLOTT.
Martin Gross: "Das letzte Jahr". Aufzeichnungen aus einem ungültigen Land.
Spector Books, Leipzig 2020. 368 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wiederentdeckung: Der Bericht von Martin Gross über das Jahr der deutschen Wiedervereinigung erscheint nach dreißig Jahren in einer neuen Ausgabe
Dieses Buch ist ein Glücksfall für den Herbst 2020, in dem dreißig Jahre deutsche Wiedervereinigung begangen werden. Eine Generation liegt das Geschehen nun zurück. Fast genauso lang dauerte es, um ein vergessenes Buch wiederzuentdecken, das die Wurzeln der heutigen deutsch-deutschen Problemgeschichte aus dem Jahr 1990 in bestechender Weise offenlegt. Das als tagebuchartiger Briefroman aufgebaute Buch von Martin Gross, "Das letzte Jahr", ist in seiner Mischung aus literarischer Reportage und scharfsinniger Beobachtung ein beeindruckendes Zeitzeugnis. Aus den lebendigen Schilderungen seiner Begegnungen mit Noch-DDR-Bürgern formt Gross mit Sinn für scheinbare Nebensächlichkeiten die dichte Beschreibung eines kulturellen Systems im Zerfall und eines anderen im Aufbau.
Der aus dem Schwarzwald stammende Germanist Gross ging im Januar 1990 nach Dresden, wo einige entfernte Verwandte von ihm lebten, um den Umbruch im Osten aus nächster Nähe mitzuerleben. Er kam zu einem Zeitpunkt, als auf den Montagsdemos bereits die schwarzrotgoldenen Fahnen dominierten und der politische Aufbruch schon zur Erinnerung geworden war. "Ich gehe in diesem Land umher, wie in einem stillgelegten Bahnhof . . . durch ein Land, das sich aufgegeben hat. Was ich jetzt sehe, ist nicht mehr gültig - oder höchstens noch eine Weile", schildert Gross seine Ankunft in der fremden Stadt. Weitsichtig deutet Gross die Lkw-Kolonnen aus dem Westen: "Sie transportieren die Arbeitslosigkeit in den Osten."
Wenn man die Umbruchsereignisse in der DDR mit den Ethnologen als ein großes Übergangsritual, als einen "rite de passage", betrachtet, dann ist das, was Gross vor allem dokumentiert, der "liminale Schwellenzustand": ein Zeitraum, der unbestimmt und diffus zwischen alter und neuer Zugehörigkeit liegt. Für kurze Zeit ist alles möglich, Regeln sind außer Kraft gesetzt oder durch andere ersetzt worden. In dieser Lücke bewegt sich Gross, der in Manier eines Günter Wallraff die Reinigungskraft im Rat des Bezirks genauso bei der Arbeit begleitet wie die Personenschützer eines neu ernannten Ministers.
Der Westdeutsche Gross dokumentiert genau, wie sich die DDR-Bürger in kürzester Zeit in Sprache und Verhalten die Kulturtechniken des Kapitalismus aneignen, wie rasch die Gespräche mit seinen Verwandten sich auf "das Geld" fokussieren, auf Steuerklassen, auf Versicherungen und Sonderangebote. In der Beschreibung der Gesichter der Menschen und in der Schilderung von Straßenszenen findet Gross seine Stilmittel, in überhitzten Räumen und einer allumfassenden Müdigkeit seine Motive. Die Straßen der Stadt, einst Orte der Staatspropaganda, werden zu Konsumflächen. Anfangs bleiben die Menschen noch neugierig an den Verkaufsständen stehen, lauschen den Marktschreiern und beäugen skeptisch die kostenlosen Buchexemplare einer religiösen Sekte. Wenige Monate später gehen sie achtlos vorüber. Sie haben inzwischen gelernt, nicht an jedem Warenreiz hängenzubleiben und durch ein Gegenüber hindurchzusehen.
Auch der Beobachter Gross verändert sich im Laufe des Jahres, wird vom neugierigen Chronisten zum Polemiker, der kurz nach dem 3. Oktober 1990 eine allgemeine "Degradierung, Entmündigung, Ausplünderung" im Osten konstatiert. Am Ende steht die bittere Bilanz einer ehemaligen Zeitungsredakteurin aus dem Januar 1991: "Eigentlich hat ja die ganze Vergangenheit ihren Sinn verloren."
Das Buch gewinnt seine Qualität auch dadurch, dass die Selbstreflexionen des Autors in den Text einfließen. Immer wieder sinniert Gross über seine westdeutsche Beobachter- und Sprecherposition, die er nicht als selbstverständlich hinnimmt: "Wir sprechen alle deutsch, aber nicht dieselbe Sprache." Und er denkt darüber nach, ob das, was sich vor seinen Augen abspielt, denn nun eine Revolution sei. Was er beschreibt, ist genau das: eine völlige Umkehrung der Machtverhältnisse auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Wie wäre es sonst möglich, dass ihn ein Polizist im Januar 1990 durch die verlassene Bezirkszentrale der Staatssicherheit führt, in der "am Ende ein riesiger Apparat seine eigenen Fiktionen verwaltete". Und Gross scheut auch nicht den radikalen Perspektivwechsel: "Es sieht ganz danach aus, als habe die Revolution im Osten vor allem den Westen befreit."
Das Buch gewährt dem Leser einen Einblick in den Maschinenraum der Transformation, wenn sein Autor sich immer wieder in Fabriken und Verwaltungsgebäude begibt, um als stiller Chronist den personellen, institutionellen und räumlichen Umbau zu beobachten. Für die zahlreichen aus dem Westen entsandten Beamten und Berater muss Platz geschaffen werden, Kompetenzen werden neu verteilt und Hierarchien eingerichtet.
Wiederentdeckt wurde Gross vom Leipziger Verleger Jan Wenzel, der bei seiner Arbeit an dem Buch "Das Jahr 1990 freilegen" (F.A.Z. vom 6. März 2020) auf den Band aufmerksam wurde, seinen Autor aber zunächst nicht ausfindig machen konnte. Erst im Juni dieses Jahres gelang über Umwege die Kontaktaufnahme, und nicht einmal drei Monate später verwirklichte Wenzel eine geradezu bibliophile Neuausgabe des 1992 erstmals beim Berliner Basisdruck-Verlag erschienenen Buches. In seinem Nachwort spricht der Verleger von 1990 als einem "Jahr von langer Dauer". Genau so beschreibt es Martin Gross in seinen literarischen Miniaturen, als ein Jahr vieler Ungewissheiten, Gefühlslagen und Weichenstellungen, das bis heute nachwirkt.
RENÉ SCHLOTT.
Martin Gross: "Das letzte Jahr". Aufzeichnungen aus einem ungültigen Land.
Spector Books, Leipzig 2020. 368 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Fasziniert ist Tobias Lehmkuhl von diesen zutiefst "melancholisch" eingefärbten Notizen, in denen einer aus dem Westen denen aus dem Osten Deutschlands die enorme Veränderungsnotwendigkeit ihrer Leben nach der Wende beinahe neidet, aber auch schon gleich am Anfang eine ungeheure Müdigkeit im Osten ausmacht. Er sieht beides, Veränderung und Müdigkeit, in den Gesten etwa der Dresdner, überhaupt in den Unterschieden des Auftretens der einen und der anderen. In einem neuen Vorwort bestätigt der Autor seine damalige Beobachtung einer so schnell "verpufften Revolution". Und der Kritiker gratuliert ihm dazu, wie "hellsichtig" er in jenem letzten Jahr der DDR weniger das Ende einer sozialistischen Gesellschaft als den "ultimativen Beginn der Weltwirtschaft" ausgemacht hat und stellt ihn und seine Beobachtungen den großen Flaneuren Kracauer und Hessel zur Seite.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.10.2020Priamos
in der Ex-DDR
Neu aufgelegt: Martin Gross’
Wende-Bericht „Das letzte Jahr“
„Ich bin doch kein Flaneur“, schreibt Martin Gross, und das, obwohl er ein Jahr lang nichts anderes tut, als durch Dresden zu laufen und mit anzusehen, was die Wende dort für Folgen zeitigt. Er beobachtet die Menschen auf der Straße und in Versammlungen, er befragt Supermarktleiter und Staatsanwälte, er geht mit einem Zeitungsredakteur zweifelhaften Immobiliengeschäften nach und trifft sich mit der Ostverwandtschaft. Martin Gross kommt aus dem tiefsten Westen, aus dem Schwarzwald, um eben dieses „letzte Jahr“ der DDR vor Ort mitzuerleben, und was er sieht, sind die feinen Unterschiede: „An den Einheimischen sind jedenfalls weniger Gesten zu erkennen, keine abrupten Bewegungen, alles gedämpft, gebremst, vielleicht müde.“
Eine typische Flaneurs-Beobachtung eigentlich, aber anders als Franz Hessel und Siegfried Kracauer mimt Gross nicht den unbeteiligten Beobachter, den ironischen Kommentator der allgemeinen Zeitläufte. Gross wendet den Blick auch auf sich selbst, aufs eigene Befremden angesichts einer Revolution, deren revolutionäre Kraft schon im Januar 1990 verpufft zu sein scheint.
Gleichzeitig wünscht er sich, angesichts dessen, dass in kürzester Zeit ganze Lebensläufe von Millionen von Menschen umgepflügt werden, selbst noch einmal neu anfangen zu können: „Schade, wenn ich diese Leute sehe, wie sich alles für sie ändert, denke ich: warum nur sie? Warum haben nicht auch wir die Chance, noch einmal alles zu ändern? Das Abenteuer, einmal zu erfahren, dass man alles auch ganz anders machen könnte. Aber wie es scheint, begegnet mir nur noch das Leben, das ich bereits kenne.“
Das ist keine Koketterie, der melancholische Duktus, die bis zur Verzweiflung reichende Ratlosigkeit ist nicht aufgesetzt; Gross selbst spricht in seinem Vorwort zur Neuausgabe des 1992 erschienenen und lange Zeit gründlich vergessenen Buches von der „Depression“ des damals knapp Vierzigjährigen. Aber „diese Depression und dieser Schwebezustand waren ja wohl auch der Seelenzustand vieler Menschen, denen er damals begegnete: Wo ist mein Platz in der neuen Gesellschaft? Und was hat es für einen Sinn, was ich hier mache oder gemacht habe?“
Im Nachwort berichtet der Verleger Jan Wenzel, wie er bei seiner Recherche zum Jahr 1990, aus dem dann der große Text-Bild-Band „Das Jahr 1990 freilegen“ hervorging, auf Gross’ Buch gestoßen sei, es für zwei Euro im Online-Antiquariat gekauft habe und, als er zu lesen begann, begriff, „dass ich gerade – um es in der Terminologie der Archäologie auszudrücken – meinen Schatz des Priamos gefunden hatte. Es gibt keinen zweiten Autor, der das Jahr 1990 so detailreich und genau festgehalten hat.“
„Hellsichtig“ könnte man als weiteres Attribut hinzufügen: „Alle Welt glaubt“, schreibt Gross, „hier und heute erlebe man das Ende des Sozialismus. Offensichtlich erleben wir aber vor allem den ultimativen Beginn der Weltwirtschaft. Womöglich verdeckt das politische Drama einen viel weitreichenderen Skandal: dass es heute möglich ist, jedes Land über seinen Außenhandel aufzuknacken.“
Zu Hilfe kam dem Autor Gross bei seiner Arbeit die allgemeine Verunsicherung. Diese beförderte für kurze Zeit ein Redebedürfnis, einen Frage- und Mitteilungsdrang, wie man ihn sich heute nicht mehr vorstellen kann, eine Offenheit, die großteils ins Gegenteil umgeschlagen ist.
Dass die „Aufzeichnungen aus einem ungültigen Land“, wie „Das letzte Jahr“ im Untertitel heißt, heute noch Gültigkeit besitzen, liegt dann doch in der einem Kracauer oder Franz Hessel alle Ehre machenden Herangehensweise: Nicht um Wahrheit in einem journalistischen Sinn, sondern um Wahrhaftigkeit im literarischen Sinn ging es Martin Gross, als er in seinem Dresdner Zimmer saß und über die Währungsunion, den 3. Oktober, den verzagten Ton und die illusionslosen Gesichter schrieb, die ihm in diesem langen letzten Jahr begegneten, nicht nur in den Supermärkten auf der östlichen Seite der Grenze: „Und so habe ich den Verdacht, dass es gar nicht die Preise sind, deretwegen sie herüberkommen; es ist die Form der Darbietung, das ästhetische Ereignis. Nur eben uneingestanden. In dieser Hinsicht sind sie wie die Durchschnitts-Westler: Dass man kilometerweit fährt, um ein paar Mark zu sparen, gilt als vernünftig. Aber wegen der Ästhetik? Niemals!“
Einem Stilisten von hohen Gnaden, der Martin Gross nicht zuletzt ist, fällt so etwas besonders auf.
TOBIAS LEHMKUHL
Martin Gross: Das letzte Jahr. Aufzeichnungen aus einem ungültigen Land. Spector Books, Leipzig 2020. 368 Seiten, 22 Euro.
Die allgemeine Verunsicherung
beförderte ein Redebedürfnis, das
heute unvorstellbar wäre
Martin Gross, geboren 1952, zog 1990 nach Dresden, um als Westdeutscher das Ende der DDR mitzuerleben. „Das letzte Jahr“, erschienen 1992, war seine letzte Veröffentlichung. Foto: Lehmkuhl
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in der Ex-DDR
Neu aufgelegt: Martin Gross’
Wende-Bericht „Das letzte Jahr“
„Ich bin doch kein Flaneur“, schreibt Martin Gross, und das, obwohl er ein Jahr lang nichts anderes tut, als durch Dresden zu laufen und mit anzusehen, was die Wende dort für Folgen zeitigt. Er beobachtet die Menschen auf der Straße und in Versammlungen, er befragt Supermarktleiter und Staatsanwälte, er geht mit einem Zeitungsredakteur zweifelhaften Immobiliengeschäften nach und trifft sich mit der Ostverwandtschaft. Martin Gross kommt aus dem tiefsten Westen, aus dem Schwarzwald, um eben dieses „letzte Jahr“ der DDR vor Ort mitzuerleben, und was er sieht, sind die feinen Unterschiede: „An den Einheimischen sind jedenfalls weniger Gesten zu erkennen, keine abrupten Bewegungen, alles gedämpft, gebremst, vielleicht müde.“
Eine typische Flaneurs-Beobachtung eigentlich, aber anders als Franz Hessel und Siegfried Kracauer mimt Gross nicht den unbeteiligten Beobachter, den ironischen Kommentator der allgemeinen Zeitläufte. Gross wendet den Blick auch auf sich selbst, aufs eigene Befremden angesichts einer Revolution, deren revolutionäre Kraft schon im Januar 1990 verpufft zu sein scheint.
Gleichzeitig wünscht er sich, angesichts dessen, dass in kürzester Zeit ganze Lebensläufe von Millionen von Menschen umgepflügt werden, selbst noch einmal neu anfangen zu können: „Schade, wenn ich diese Leute sehe, wie sich alles für sie ändert, denke ich: warum nur sie? Warum haben nicht auch wir die Chance, noch einmal alles zu ändern? Das Abenteuer, einmal zu erfahren, dass man alles auch ganz anders machen könnte. Aber wie es scheint, begegnet mir nur noch das Leben, das ich bereits kenne.“
Das ist keine Koketterie, der melancholische Duktus, die bis zur Verzweiflung reichende Ratlosigkeit ist nicht aufgesetzt; Gross selbst spricht in seinem Vorwort zur Neuausgabe des 1992 erschienenen und lange Zeit gründlich vergessenen Buches von der „Depression“ des damals knapp Vierzigjährigen. Aber „diese Depression und dieser Schwebezustand waren ja wohl auch der Seelenzustand vieler Menschen, denen er damals begegnete: Wo ist mein Platz in der neuen Gesellschaft? Und was hat es für einen Sinn, was ich hier mache oder gemacht habe?“
Im Nachwort berichtet der Verleger Jan Wenzel, wie er bei seiner Recherche zum Jahr 1990, aus dem dann der große Text-Bild-Band „Das Jahr 1990 freilegen“ hervorging, auf Gross’ Buch gestoßen sei, es für zwei Euro im Online-Antiquariat gekauft habe und, als er zu lesen begann, begriff, „dass ich gerade – um es in der Terminologie der Archäologie auszudrücken – meinen Schatz des Priamos gefunden hatte. Es gibt keinen zweiten Autor, der das Jahr 1990 so detailreich und genau festgehalten hat.“
„Hellsichtig“ könnte man als weiteres Attribut hinzufügen: „Alle Welt glaubt“, schreibt Gross, „hier und heute erlebe man das Ende des Sozialismus. Offensichtlich erleben wir aber vor allem den ultimativen Beginn der Weltwirtschaft. Womöglich verdeckt das politische Drama einen viel weitreichenderen Skandal: dass es heute möglich ist, jedes Land über seinen Außenhandel aufzuknacken.“
Zu Hilfe kam dem Autor Gross bei seiner Arbeit die allgemeine Verunsicherung. Diese beförderte für kurze Zeit ein Redebedürfnis, einen Frage- und Mitteilungsdrang, wie man ihn sich heute nicht mehr vorstellen kann, eine Offenheit, die großteils ins Gegenteil umgeschlagen ist.
Dass die „Aufzeichnungen aus einem ungültigen Land“, wie „Das letzte Jahr“ im Untertitel heißt, heute noch Gültigkeit besitzen, liegt dann doch in der einem Kracauer oder Franz Hessel alle Ehre machenden Herangehensweise: Nicht um Wahrheit in einem journalistischen Sinn, sondern um Wahrhaftigkeit im literarischen Sinn ging es Martin Gross, als er in seinem Dresdner Zimmer saß und über die Währungsunion, den 3. Oktober, den verzagten Ton und die illusionslosen Gesichter schrieb, die ihm in diesem langen letzten Jahr begegneten, nicht nur in den Supermärkten auf der östlichen Seite der Grenze: „Und so habe ich den Verdacht, dass es gar nicht die Preise sind, deretwegen sie herüberkommen; es ist die Form der Darbietung, das ästhetische Ereignis. Nur eben uneingestanden. In dieser Hinsicht sind sie wie die Durchschnitts-Westler: Dass man kilometerweit fährt, um ein paar Mark zu sparen, gilt als vernünftig. Aber wegen der Ästhetik? Niemals!“
Einem Stilisten von hohen Gnaden, der Martin Gross nicht zuletzt ist, fällt so etwas besonders auf.
TOBIAS LEHMKUHL
Martin Gross: Das letzte Jahr. Aufzeichnungen aus einem ungültigen Land. Spector Books, Leipzig 2020. 368 Seiten, 22 Euro.
Die allgemeine Verunsicherung
beförderte ein Redebedürfnis, das
heute unvorstellbar wäre
Martin Gross, geboren 1952, zog 1990 nach Dresden, um als Westdeutscher das Ende der DDR mitzuerleben. „Das letzte Jahr“, erschienen 1992, war seine letzte Veröffentlichung. Foto: Lehmkuhl
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