Pro:
John Hart ist grandios darin, Atmosphäre zu erzeugen. Das beginnt schon in den ersten Szenen, in denen an sich wenig passiert: der kleine Johnny unternimmt eine lange Busfahrt und durchstreift dann den Wald, auf der Suche nach dem Nest eines Adlers, dessen Federn er für magisch hält. Aber
schon auf diesen wenigen Seiten spürt man die stickige Hitze, begreift die verzweifelte Entschlossenheit…mehrPro:
John Hart ist grandios darin, Atmosphäre zu erzeugen. Das beginnt schon in den ersten Szenen, in denen an sich wenig passiert: der kleine Johnny unternimmt eine lange Busfahrt und durchstreift dann den Wald, auf der Suche nach dem Nest eines Adlers, dessen Federn er für magisch hält. Aber schon auf diesen wenigen Seiten spürt man die stickige Hitze, begreift die verzweifelte Entschlossenheit von Johnny, der nur ein Kind ist und doch auch merkwürdig alt vor Kummer, und taucht ein in die düstere, beklemmende Welt dieses Buches. Trostlos, ernüchternd, klaustrophobisch... Das Buch ist voller dunkler Emotionen und dunkler Botschaften.
Das Verschwinden von Alyssa hat mehr als ein Leben zerstört. Ihr Bruder kann nicht loslassen, kann nicht akzeptieren, dass sie tot sein könnte, und er verrennt sich mehr und mehr in eine obsessive, gefährliche Suche nach ihr. Die Ehe ihrer Eltern hat die Tragödie nicht überstanden. Die Mutter kann den Verlust nicht ertragen, ohne sich durch Drogen und Alkohol zu betäuben, und dabei vergisst sie, sich um das Kind zu kümmern, das ihr noch bleibt. Sie flüchtet sich in eine Beziehung zu einem gewalttätigen Mann - will sie sich selbst bestrafen? Der Kommissar, der damals Alyssas Verschwinden untersucht hat, ist immer noch so besessen von dem Fall, dass darüber seine eigene Familie zerbricht.
Johnnys Leben ist ein Scherbenhaufen, aber er gibt die Hoffnung nicht auf, dass er seine Schwester lebend finden kann und dass dann alles wieder gut wird. Er beschattet freigelassene Sexualstraftäter, ohne sich um seine eigene Sicherheit zu kümmern. Es ist oft weniger der Kommissar, dem wir als Ermittler durch die Handlung folgen, sondern dieser mutige Junge. Dabei fand ich Johnny sehr sympathisch, und ich konnte gar nicht anders, als jeden Schritt des Weges mit ihm mitzufiebern. Zur Seite steht ihm sein bester Freund Jack, der raucht und trinkt wie ein Erwachsener und aufgrund seines verkrüppelten Arms ständig zum Opfer von Mobbing wird. Ihn fand ich sehr viel zwiespältiger als Johnny, aber ein guter Charakter war er dennoch.
Der Kommissar war mir manchmal sympathisch, und dann auch wieder nicht. Seine Entschlossenheit, Alyssa zu finden - und später ein anderes kleines Mädchen, das verschwindet - ist sicher löblich, aber seine Motive waren gelegentlich etwas fraglich. Aber es bestand nie ein Zweifel daran, dass er sich um Johnny sorgt wie um seinen eigenen Sohn.
Es gibt kaum einen Charakter, der nicht in irgendeiner Form von Verlust und Trauer gezeichnet ist, und gut und böse sind ab und an sehr relative Konzepte. Wir begegnen einem Mörder, den ich beim besten Willen nicht verurteilen konnte. Einem aufrechten Musterbürger ohne Gewissen oder Mitleid. Einer liebenden Mutter, die ihre Liebe ertränkt.
Das Buch IST ein Thriller, es IST spannend. Aber es ist eben keine gradlinige Reise von A nach Z, sondern ein verschlungener Umweg durch den Sumpf menschlichen Elends. Dabei ist es für mich ein Beweis für das Können des Autors, dass diese Reise nie schleppend wurde - oder bedrückender, als man als Leser aushalten kann. Es bleibt immer genug Hoffnung, dass man weiterliest.
Der Schreibstil ist fantastisch. Mal karg, mal beinahe poetisch, aber immer evokativ.
Kontra:
Die Geschichte ist streckenweise sehr verschachtelt, und zum Teil häufen sich die Zufälle etwas zu sehr, um noch 100%ig glaubhaft zu sein. Mich hat das eher weniger gestört - irgendwie hatte das etwas fast Mystisches, als würde das Schicksal dafür sorgen, dass Johnny der Wahrheit immer näherkommt -, aber ich denke, dass sich viele eingefleischte Krimileser daran stören könnten.
Das Tempo ist manchmal sehr gemächlich, und ich denke, man muss sich wirklich auf das Buch und seine über die reine Krimihandlung hinausgehenden Grundthemen einlassen, um es zu mögen. Meiner Meinung nach lohnt sich das aber.