Misa, Rita und Slavka sind Freundinnen, seit sie denken können. Sie alle wohnen in einem Haus in der Stadt Zilina: die Ich-Erzählerin Misa, 14 Jahre alt, zusammen mit ihrem älteren Bruder Alan und ihren Eltern, die gleichaltrige Rita in der Wohnung darüber, Slavka in der Wohnung darunter. Sie vertrauen sich Geheimnisse an, sprechen über ihre ersten Liebschaften. Dabei könnten sie unterschiedlicher kaum sein: Rita ist überzeugte Pionierin, umso unerhörter erscheint es den Freundinnen, dass gerade Ritas Eltern hinter vorgehaltener Hand über eine Flucht nach Österreich sprechen. Rita ist empört, sie will nicht enden wie Slavka, deren Vater sich bereits vor zehn Jahren nach Schweden abgesetzt hat. Slavka interessiert sich wenig für Politik, dafür umso mehr für den neuen Geschichtslehrer, Genosse Baník, und für die Gymnastik, ihre große Leidenschaft. Misa ist die Sensibelste der drei, ihre erste und (vorerst) einzige Liebe gilt der Literatur, was so recht niemand nachvollziehen kann, am wenigsten ihr Vater. Misa bewundert ihre Freundinnen, Rita für ihre Willenskraft, Slavka für ihre Disziplin, sie hat das Gefühl, das Leben würde immer so weitergehen - das Gegenteil ist der Fall: Denn wir schreiben das Jahr 1989, und nichts wird mehr so sein, wie es einmal war. Drei Freundinnen und ihre Familien erleben das Jahr vor dem Untergang des sozialistischen Regimes in der Slowakei: Opportunismus oder Rebellion, Anpassung oder Auflehnung - die Mädchen an der Schwelle zum Erwachsensein, aber auch die Eltern, begegnen dem sinkenden Stern des Sozialismus jeder auf seine Weise.Einfühlsam, in einer klaren, eleganten Sprache erkundet Susanne Gregor die Außen- und Innenwelten der drei jungen Freundinnen, lässt große Umwälzungen anhand von kleinen Verschiebungen greifbar werden und führt den Leser an sicherer Hand durch die Jahreszeiten des Jahres 1989: Es ist »Das letzte rote Jahr«.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.2020Umbruch zu dritt
"Das letzte rote Jahr" von Susanne Gregor
Wie war das wirklich, als der Maschendrahtzaun zwischen Österreich und Ungarn durchgezwickt wurde? Als viele Bürger der DDR gleichsam durch dieses Loch im Zaun erst nach Österreich und von dort weiter in die Bundesrepublik zogen? Wie war das zum Beispiel für die Menschen in der Tschechoslowakei, damals im Jahr 1989 auch als CSSR - Tschechoslowakische Sozialistische Republik - bekannt? Im selben Jahr begannen viele, am Wenzelsplatz in Prag, am Platz des 4. April (heute Hauptplatz) in Pressburg (Bratislava) und wohl auch in Zilina in der nördlichen Slowakei zu demonstrieren, Freiheit zu fordern. Und hast du nicht gesehen, trat Präsident Gustáv Husák zurück (am 10. Dezember), wurde Václav Havel sein Amtsnachfolger (am 29. Dezember), und vorbei war es auch mit diesem kommunistischen Experiment in Mitteleuropa. Die Tschechoslowakei spaltete sich keine drei Jahre später in die Tschechische und die Slowakische Republik auf. Nicht unbedingt auf Wunsch der Gesamtbevölkerung. Aber das ist schon wieder eine ganz andere Geschichte.
In Zilina, damals wie heute eine bedeutende Industriestadt, kam 1981 Susanne Gregor zur Welt. 1990 zog ihre Familie nach Oberösterreich, und seit nunmehr fünfzehn Jahren lebt Susanne Gregor in Wien. Und nun ist ihr neuer Roman erschienen: "Das letzte rote Jahr". Der Titel verrät bereits, dass es um die Ereignisse von 1989 geht. Gegliedert in ein sehr kurzes im Heute angesiedeltes Vorwort und vier nach den Jahreszeiten benannte Abschnitte, berichtet die Ich-Erzählerin Misa von ihrer Erinnerung an jene einschneidenden Monate. Sie und ihre beiden besten Freundinnen wohnen in derselben Mietshausanlage. Rita ist eine engagierte Pionierin und gleichzeitig Provokateurin, Slavka eine erfolgreiche Sportlerin. Die drei Mädchen sind um die vierzehn Jahre alt und besuchen die Unterstufe des örtlichen Gymnasiums.
Nicht direkt klischeehaft, aber ein bisschen als Typen gekennzeichnet, entstammen die drei Freundinnen unterschiedlichen Milieus. Misas Vater arbeitet in einem technischen Industriebetrieb, die Familie hat als erste im Stadtviertel eine Satellitenschüssel und kann damit "Westfernsehen" empfangen - man schaut dann hauptsächlich Werbekanäle, gleichzeitig fasziniert, ungläubig und angewidert. Misa ist literaturbegeistert, hat gerade "Der geteilte Himmel" von Christa Wolf entdeckt, freilich in der slowakischen Übersetzung, und erfährt fasziniert, dass das deutsche Wort "teilen" mehrere Bedeutungen hat, man könnte auch sagen: verbindet.
Ritas Eltern sind leicht systemkritische, im Endeffekt aber durchaus angepasste Mediziner. Wegen deren Dienstzeiten bleibt es meist Rita überlassen, auf ihren kleinen Bruder aufzupassen, eine Aufgabe, die sie mehr schlecht als recht erledigt. Und Slavka lebt mit ihrer Mutter allein, der Vater, ebenfalls Sportler, hat sich nach Schweden abgesetzt, schickt aber Briefe ("die in letzter Zeit oft sogar ungeöffnet ankommen") und kleine Geschenke. Slavka selbst träumt davon, an der nächsten Spartakiade teilzunehmen. Und neben all dem, neben ersten romantischen, sogar sexuellen Erlebnissen, neben Streitereien und Versöhnungen mit den Freundinnen hört Misa, wie sich ihre Eltern, die Nachbarn, aber auch schon Schulkollegen und Lehrpersonal über die beunruhigenden Vorgänge in der Welt draußen unterhalten. Wird man nächstes Jahr auch noch Urlaub am Plattensee in Ungarn machen können? Wird Vater von den Dienstreisen nach Österreich vielleicht auch einmal nicht mehr zurückkommen?
Das alles beschreibt Susanne Gregor in einem fast nüchternen, bisweilen Naivität vorschützenden und manchmal überraschend wenig von Satzzeichen unterbrochenen Hauptsatz-Kaskaden-Stil. Dabei bleibt sie stets glaubhaft und überzeugend, und würde ihr eigenes Alter besser zu Misa passen, hätte man "Das letzte rote Jahr" autobiographisch nennen wollen. Letztlich aber tut das nichts wirklich zur Sache. Es handelt sich, ganz schlicht gesagt, um einen großen, beeindruckenden Roman. Liest man, am Ende angekommen, dann noch einmal, nun mit geschärftem Blick, das kurze Vorwort, sieht man vielleicht auch, zumindest als Westler, die Umbruchszeit vor rund dreißig Jahren mit etwas anderen Augen.
MARTIN LHOTZKY
Susanne Gregor: "Das letzte rote Jahr". Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2019. 224 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Das letzte rote Jahr" von Susanne Gregor
Wie war das wirklich, als der Maschendrahtzaun zwischen Österreich und Ungarn durchgezwickt wurde? Als viele Bürger der DDR gleichsam durch dieses Loch im Zaun erst nach Österreich und von dort weiter in die Bundesrepublik zogen? Wie war das zum Beispiel für die Menschen in der Tschechoslowakei, damals im Jahr 1989 auch als CSSR - Tschechoslowakische Sozialistische Republik - bekannt? Im selben Jahr begannen viele, am Wenzelsplatz in Prag, am Platz des 4. April (heute Hauptplatz) in Pressburg (Bratislava) und wohl auch in Zilina in der nördlichen Slowakei zu demonstrieren, Freiheit zu fordern. Und hast du nicht gesehen, trat Präsident Gustáv Husák zurück (am 10. Dezember), wurde Václav Havel sein Amtsnachfolger (am 29. Dezember), und vorbei war es auch mit diesem kommunistischen Experiment in Mitteleuropa. Die Tschechoslowakei spaltete sich keine drei Jahre später in die Tschechische und die Slowakische Republik auf. Nicht unbedingt auf Wunsch der Gesamtbevölkerung. Aber das ist schon wieder eine ganz andere Geschichte.
In Zilina, damals wie heute eine bedeutende Industriestadt, kam 1981 Susanne Gregor zur Welt. 1990 zog ihre Familie nach Oberösterreich, und seit nunmehr fünfzehn Jahren lebt Susanne Gregor in Wien. Und nun ist ihr neuer Roman erschienen: "Das letzte rote Jahr". Der Titel verrät bereits, dass es um die Ereignisse von 1989 geht. Gegliedert in ein sehr kurzes im Heute angesiedeltes Vorwort und vier nach den Jahreszeiten benannte Abschnitte, berichtet die Ich-Erzählerin Misa von ihrer Erinnerung an jene einschneidenden Monate. Sie und ihre beiden besten Freundinnen wohnen in derselben Mietshausanlage. Rita ist eine engagierte Pionierin und gleichzeitig Provokateurin, Slavka eine erfolgreiche Sportlerin. Die drei Mädchen sind um die vierzehn Jahre alt und besuchen die Unterstufe des örtlichen Gymnasiums.
Nicht direkt klischeehaft, aber ein bisschen als Typen gekennzeichnet, entstammen die drei Freundinnen unterschiedlichen Milieus. Misas Vater arbeitet in einem technischen Industriebetrieb, die Familie hat als erste im Stadtviertel eine Satellitenschüssel und kann damit "Westfernsehen" empfangen - man schaut dann hauptsächlich Werbekanäle, gleichzeitig fasziniert, ungläubig und angewidert. Misa ist literaturbegeistert, hat gerade "Der geteilte Himmel" von Christa Wolf entdeckt, freilich in der slowakischen Übersetzung, und erfährt fasziniert, dass das deutsche Wort "teilen" mehrere Bedeutungen hat, man könnte auch sagen: verbindet.
Ritas Eltern sind leicht systemkritische, im Endeffekt aber durchaus angepasste Mediziner. Wegen deren Dienstzeiten bleibt es meist Rita überlassen, auf ihren kleinen Bruder aufzupassen, eine Aufgabe, die sie mehr schlecht als recht erledigt. Und Slavka lebt mit ihrer Mutter allein, der Vater, ebenfalls Sportler, hat sich nach Schweden abgesetzt, schickt aber Briefe ("die in letzter Zeit oft sogar ungeöffnet ankommen") und kleine Geschenke. Slavka selbst träumt davon, an der nächsten Spartakiade teilzunehmen. Und neben all dem, neben ersten romantischen, sogar sexuellen Erlebnissen, neben Streitereien und Versöhnungen mit den Freundinnen hört Misa, wie sich ihre Eltern, die Nachbarn, aber auch schon Schulkollegen und Lehrpersonal über die beunruhigenden Vorgänge in der Welt draußen unterhalten. Wird man nächstes Jahr auch noch Urlaub am Plattensee in Ungarn machen können? Wird Vater von den Dienstreisen nach Österreich vielleicht auch einmal nicht mehr zurückkommen?
Das alles beschreibt Susanne Gregor in einem fast nüchternen, bisweilen Naivität vorschützenden und manchmal überraschend wenig von Satzzeichen unterbrochenen Hauptsatz-Kaskaden-Stil. Dabei bleibt sie stets glaubhaft und überzeugend, und würde ihr eigenes Alter besser zu Misa passen, hätte man "Das letzte rote Jahr" autobiographisch nennen wollen. Letztlich aber tut das nichts wirklich zur Sache. Es handelt sich, ganz schlicht gesagt, um einen großen, beeindruckenden Roman. Liest man, am Ende angekommen, dann noch einmal, nun mit geschärftem Blick, das kurze Vorwort, sieht man vielleicht auch, zumindest als Westler, die Umbruchszeit vor rund dreißig Jahren mit etwas anderen Augen.
MARTIN LHOTZKY
Susanne Gregor: "Das letzte rote Jahr". Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2019. 224 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main