Die Ukraine, der zweitgrößte europäische Staat, ist auf unserer literarischen Landkarte nicht einmal in Umrissen vorhanden. Juri Andruchowytsch, der international renommierteste ukrainische Autor, nimmt die begrenzten Kenntnisse seines Publikums in Westeuropa und in den USA ernst und bringt ihm in einer Reihe brillanter Essays diese unbekannte Region nahe. Jeder, der einmal die westliche Staatsgrenze der Ukraine überquert hat, erfährt, daß hier auch zehn Jahre nach der Unabhängigkeit noch immer eine Trennlinie verläuft: »zwischen Europa und etwas anderem«. Erfrischend im Ton, farbig im Detail und voller Ironie beschreibt er die postsowjetische Realität seines Landes: Lemberg und Kiew, Spuren des untergegangenen Galiziens und die Katastrophe von Tschernobyl, den Exodus der Bevölkerung Richtung Westen und die repressive Medienpolitik der Regierung, aber auch die sonderbare Existenz von Künstlern, Schriftstellern und Intellektuellen in einem Land, »aus dem man weggeht«.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.09.2003Platz nehmen im Vorzimmer Europas
In Juri Andruchowytsch hat die Ukraine ihren politisch-historischen Landvermesser gefunden
Europa, Du hast es besser! So möchte man rufen. Gerade da die europäische Nabelschau als eine Art wehr- und wahnhafter Wesensschau in Mode kommt, da die europäische Geschichte geradewegs auf die europäische Nation zuzulaufen scheint und man der Schimäre einer politischen Kollektividentität als Surrogat der wegrationalisierten lebensweltlichen Verankerung einer gewissen Ich-Stärke hinterherjagt und dabei hier drinnen, in EU, so furchtbar selbstzufrieden ist, angesichts des bösen großen atlantischen Bruders, erscheint das Buch eines europäischen Freundes, das uns, also den Bewohnern von Schengen-Land, den Spiegel vorhält. Dabei sprechen dieses Buch und sein Autor, Juri Andruchowytsch, hauptsächlich davon, wie das Leben aussieht, wenn man es in der Ukraine lebt - immerhin dem zweitgrößten europäischen Staat, der von Mai nächstes Jahres an, wenn Polen zur Europäischen Union beigetreten sein wird, das erste Land jenseits unserer Ostgrenze sein wird.
Die Ukraine, das ist fast ein Synonym für einen Zustand zwischen draußen und drinnen. Dies scheint die Essenz ihrer wechselvollen und schweren Geschichte zu sein. So hat beispielsweise der ukrainische Ministerpräsident gerade seine Bereitschaft erklärt, zehn Jahre nach der Unabhängigkeit von Moskau sich vertraglich gemeinsam mit einer Reihe anderer östlicher Länder wieder enger an Rußland schließen zu wollen, um dem Land wenigstens hier eine Perspektive zu öffnen. Da überlegt man in Brüssel, ob man den Ukrainern womöglich Visa-Erleichterungen verschafft - und somit die Ukraine an sich bindet, ohne sich selbst auf Versprechungen einzulassen. Dieser scharfe Grat, auf dem man in der post-sowjetischen Ukraine lebt, schärft die Selbstwahrnehmung der Ukrainer ebenso wie die Sicht auf die Nachbarn.
Die Ukraine ist "das letzte Territorium": Juri Andruchowytsch faltet in seiner bemerkenswerten politisch-historischen Essaysammlung die "mental maps" dieser europäischen Peripherie auseinander, und indem er zeigt, wo er steht, sehen wir, wo wir nicht stehen sollten, wenn wir von Europa und europäischer Geschichte sprechen. Die Methode des Juri Andruchowytsch ist, kurz gesagt, der Schwindelanfall, ein phantasmagorischer Stil, in dessen Medium Gegenwart und Vergangenheit verschmolzen werden bis zum glühend heißen Moment einer wahren Anschauung. Dieser Stil müßte eigentlich unter die Bestimmungen der bewußtseinserweiternden Drogen gerechnet werden, so halluzigen genau ist er. Es kann dabei durchaus bedächtig und rational zugehen, aber immer wieder gelingen Andruchowytsch Durchbrüche, eine schnelle Wendung hier, eine angetäuschte Richtung dort, und die Worte katapultieren ihn und seine Leser in einen Bühnenaufbau, in dem ein merkwürdiges fremdes Stück gespielt wird, von dem wir erst nach und nach begreifen: Es ist unseres.
Wie Andruchowytsch, der mit seiner Lyrik und seinen drei, ins Russische und Polnische übersetzten Romanen - unfreiwillig - zu den Klassikern der ukrainischen Gegenwartsliteratur zählt, ukrainisches Leben und ukrainische Geschichte in diesem poetischen Sachbuch zusammenbringt, ist unerhört. Nehmen wir den "Versuch einer fiktiven Landeskunde", den ersten Essay dieser Sammlung, der den schönen Obertitel "Carpathologia Cosmophilica" trägt. Andruchowytsch folgt jenem mythischen Lemberger-Warschauer-Wiener-Pariser-Vektor, wie er sagt, der heute nur noch aus Gerüchten und Vermutungen besteht, und findet hier die "Bürger aller Flickenmonarchien und Kleinstadtrepubliken", die er für die treuesten Bürger eines nichtexistenten Mitteleuropas hält.
Es ist diese Peripherie der Karpaten, die ihn fasziniert. Die Grenze zwischen römischer und byzantinischer Welt. Auf den Feldern von Chotyn, wo vor dreihundert Jahren die Polen und Kosaken die Türken vernichtend geschlagen haben, werden im Frühjahr noch immer Schädel gefunden. Ein Ort der Überschneidungen, "bis schließlich die Riesen in Zelttuchjacken kamen und die hiesigen Brunnen mit den Leichen von hinten Erschossener vollstopften und damit die Sprengsätze an die Fundamente ihrer Herrschaft legten, die genau ein halbes Jahrhundert später, im milden Herbst des Jahres 89, explodieren sollten".
Weiter geht der Blick nach Lemberg - nach Lwiw ukrinisch, nach Lwow russisch, nach Leopolis lateinisch und nach Singapur in Sanskrit -, wo nördlich einer bestimmten Linie alle Gewässer zur Ostsee, südlich davon zum Schwarzen Meer fließen. Andruchowytsch spürt dem In- und Gegeneinander der Kulturen an dieser Schnittstelle nach. Und er bezweifelt, daß es je eine idylische und schmerzlose Überlagerung von Kulturen gegeben habe, hält diese Annahme für einen Mythos, der womöglich das Zusammenleben der Menschen bloß erschwere. Denn die Überlagerung der Kulturen sei nicht nur "ein Fest der verwischten Grenzen, das ist auch Blut, Schmutz, ethnische Säuberungen, Menschenvernichtung". Lemberg: polnisch, ukrainisch, deutsch und doch etwas ganz Eigenes, ein großes Schiff, ein schwimmender Hafen.
Andruchowytsch bemerkt voller Sarkasmus, daß er zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts kein Visum benötigt hätte, um sich mit Rilke zu treffen. Die Ukraine taucht hier auf wie eine gewaltiges tektonisches Stück Erde und Kultur, das durch die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts losgerissen ist und nun mehr Sekundenkleber braucht, um wieder irgendwo dazuzugehören. Das betrifft selbst die inneren Verhältnisse: Die Beziehung der Ukraine zu ihren Städten sei gestört, die Ukrainer fühlen sich insbesondere gegenüber einer Gesellschaft mit einst starken adligen Strukturen wie Polen als ewige Bauern. Sie hätten die negativen Gewohnheiten des ländlichen Lebens beibehalten, die positiven aber abgelegt in den beispiellosen Jahren des Niedergangs der vergangenen fünfzig Jahre.
Und dann: Galizien. "Eine hundertfünfzig Jahre alte Erfindung einiger österreichischer Minister." So konnte hier kein Europa werden, sondern es entstand eine Pufferzone, eine "ewig beargwöhnte und benachteiligte Weltgegend". Galizien, ein "Raum ohne Wurzeln, geeignet für jeden Nomadenstamm". Andruchowytsch opponiert gegen die Vorstellung, man könne die Ukraine in zwei Teile zerschlagen, wie sie amerikanische Geo-Strategen sich ausgedacht haben: ein östlicher Teil, wo das ukrainische Nationalgefühl ohnehin schwächer ist, mag Rußland gehören, ein westlicher solle dann ein - ziemlich ungemütliches - Vorzimmer Europas sein. Der Autor beklagt die Folgen einer primitiven Russifizierung, die sich ins Land gefressen haben. Für Leute wie ihn, sagt Juri Andruchowysch, bleibt angesichts der Verknotung aller Probleme in alle politischen Himmelsrichtungen die "Festung aus Alkohol, Sex und Musik", eine Festung, die er nicht allein bewohnt.
Andruchowytsch schreibt über den ukrainischen Nationaldichter Schewtschenko, und schildert, wie er selbst, als ukrainischer Dichter, in New York von einer höchst multikulturellen Zuhörerschaft erst in dem Moment richtig verstanden wird, da sie annehmen kann, die Ukraine sei so etwas wie eine Kolonie Europas. Man würde gern fortfahren mit dieser unglaublichen Reise durch dieses Land und seine realen Imaginationen, ein Land, in dem die Seiten der Geschichte über die Straßen und durch die Gassen wirbeln. Hier liegt die Geschichte wirklich auf der Straße und manchmal in der Gosse. Man hoffte, daß Günther Verheugen, wenn er im Rahmen des "wider Europe"-Konzepts diese Woche in der Ukraine über Kooperationsmöglichkeiten mit der Euroapäischen Union Gespräche führt, Juri Andruchowytsch trifft. Das wäre eine Traum-Begegnung, die Mut machte für Europa.
MICHAEL JEISMANN.
Juri Andruchowytsch: "Das letzte Territorium". Essays. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 192 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Juri Andruchowytsch hat die Ukraine ihren politisch-historischen Landvermesser gefunden
Europa, Du hast es besser! So möchte man rufen. Gerade da die europäische Nabelschau als eine Art wehr- und wahnhafter Wesensschau in Mode kommt, da die europäische Geschichte geradewegs auf die europäische Nation zuzulaufen scheint und man der Schimäre einer politischen Kollektividentität als Surrogat der wegrationalisierten lebensweltlichen Verankerung einer gewissen Ich-Stärke hinterherjagt und dabei hier drinnen, in EU, so furchtbar selbstzufrieden ist, angesichts des bösen großen atlantischen Bruders, erscheint das Buch eines europäischen Freundes, das uns, also den Bewohnern von Schengen-Land, den Spiegel vorhält. Dabei sprechen dieses Buch und sein Autor, Juri Andruchowytsch, hauptsächlich davon, wie das Leben aussieht, wenn man es in der Ukraine lebt - immerhin dem zweitgrößten europäischen Staat, der von Mai nächstes Jahres an, wenn Polen zur Europäischen Union beigetreten sein wird, das erste Land jenseits unserer Ostgrenze sein wird.
Die Ukraine, das ist fast ein Synonym für einen Zustand zwischen draußen und drinnen. Dies scheint die Essenz ihrer wechselvollen und schweren Geschichte zu sein. So hat beispielsweise der ukrainische Ministerpräsident gerade seine Bereitschaft erklärt, zehn Jahre nach der Unabhängigkeit von Moskau sich vertraglich gemeinsam mit einer Reihe anderer östlicher Länder wieder enger an Rußland schließen zu wollen, um dem Land wenigstens hier eine Perspektive zu öffnen. Da überlegt man in Brüssel, ob man den Ukrainern womöglich Visa-Erleichterungen verschafft - und somit die Ukraine an sich bindet, ohne sich selbst auf Versprechungen einzulassen. Dieser scharfe Grat, auf dem man in der post-sowjetischen Ukraine lebt, schärft die Selbstwahrnehmung der Ukrainer ebenso wie die Sicht auf die Nachbarn.
Die Ukraine ist "das letzte Territorium": Juri Andruchowytsch faltet in seiner bemerkenswerten politisch-historischen Essaysammlung die "mental maps" dieser europäischen Peripherie auseinander, und indem er zeigt, wo er steht, sehen wir, wo wir nicht stehen sollten, wenn wir von Europa und europäischer Geschichte sprechen. Die Methode des Juri Andruchowytsch ist, kurz gesagt, der Schwindelanfall, ein phantasmagorischer Stil, in dessen Medium Gegenwart und Vergangenheit verschmolzen werden bis zum glühend heißen Moment einer wahren Anschauung. Dieser Stil müßte eigentlich unter die Bestimmungen der bewußtseinserweiternden Drogen gerechnet werden, so halluzigen genau ist er. Es kann dabei durchaus bedächtig und rational zugehen, aber immer wieder gelingen Andruchowytsch Durchbrüche, eine schnelle Wendung hier, eine angetäuschte Richtung dort, und die Worte katapultieren ihn und seine Leser in einen Bühnenaufbau, in dem ein merkwürdiges fremdes Stück gespielt wird, von dem wir erst nach und nach begreifen: Es ist unseres.
Wie Andruchowytsch, der mit seiner Lyrik und seinen drei, ins Russische und Polnische übersetzten Romanen - unfreiwillig - zu den Klassikern der ukrainischen Gegenwartsliteratur zählt, ukrainisches Leben und ukrainische Geschichte in diesem poetischen Sachbuch zusammenbringt, ist unerhört. Nehmen wir den "Versuch einer fiktiven Landeskunde", den ersten Essay dieser Sammlung, der den schönen Obertitel "Carpathologia Cosmophilica" trägt. Andruchowytsch folgt jenem mythischen Lemberger-Warschauer-Wiener-Pariser-Vektor, wie er sagt, der heute nur noch aus Gerüchten und Vermutungen besteht, und findet hier die "Bürger aller Flickenmonarchien und Kleinstadtrepubliken", die er für die treuesten Bürger eines nichtexistenten Mitteleuropas hält.
Es ist diese Peripherie der Karpaten, die ihn fasziniert. Die Grenze zwischen römischer und byzantinischer Welt. Auf den Feldern von Chotyn, wo vor dreihundert Jahren die Polen und Kosaken die Türken vernichtend geschlagen haben, werden im Frühjahr noch immer Schädel gefunden. Ein Ort der Überschneidungen, "bis schließlich die Riesen in Zelttuchjacken kamen und die hiesigen Brunnen mit den Leichen von hinten Erschossener vollstopften und damit die Sprengsätze an die Fundamente ihrer Herrschaft legten, die genau ein halbes Jahrhundert später, im milden Herbst des Jahres 89, explodieren sollten".
Weiter geht der Blick nach Lemberg - nach Lwiw ukrinisch, nach Lwow russisch, nach Leopolis lateinisch und nach Singapur in Sanskrit -, wo nördlich einer bestimmten Linie alle Gewässer zur Ostsee, südlich davon zum Schwarzen Meer fließen. Andruchowytsch spürt dem In- und Gegeneinander der Kulturen an dieser Schnittstelle nach. Und er bezweifelt, daß es je eine idylische und schmerzlose Überlagerung von Kulturen gegeben habe, hält diese Annahme für einen Mythos, der womöglich das Zusammenleben der Menschen bloß erschwere. Denn die Überlagerung der Kulturen sei nicht nur "ein Fest der verwischten Grenzen, das ist auch Blut, Schmutz, ethnische Säuberungen, Menschenvernichtung". Lemberg: polnisch, ukrainisch, deutsch und doch etwas ganz Eigenes, ein großes Schiff, ein schwimmender Hafen.
Andruchowytsch bemerkt voller Sarkasmus, daß er zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts kein Visum benötigt hätte, um sich mit Rilke zu treffen. Die Ukraine taucht hier auf wie eine gewaltiges tektonisches Stück Erde und Kultur, das durch die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts losgerissen ist und nun mehr Sekundenkleber braucht, um wieder irgendwo dazuzugehören. Das betrifft selbst die inneren Verhältnisse: Die Beziehung der Ukraine zu ihren Städten sei gestört, die Ukrainer fühlen sich insbesondere gegenüber einer Gesellschaft mit einst starken adligen Strukturen wie Polen als ewige Bauern. Sie hätten die negativen Gewohnheiten des ländlichen Lebens beibehalten, die positiven aber abgelegt in den beispiellosen Jahren des Niedergangs der vergangenen fünfzig Jahre.
Und dann: Galizien. "Eine hundertfünfzig Jahre alte Erfindung einiger österreichischer Minister." So konnte hier kein Europa werden, sondern es entstand eine Pufferzone, eine "ewig beargwöhnte und benachteiligte Weltgegend". Galizien, ein "Raum ohne Wurzeln, geeignet für jeden Nomadenstamm". Andruchowytsch opponiert gegen die Vorstellung, man könne die Ukraine in zwei Teile zerschlagen, wie sie amerikanische Geo-Strategen sich ausgedacht haben: ein östlicher Teil, wo das ukrainische Nationalgefühl ohnehin schwächer ist, mag Rußland gehören, ein westlicher solle dann ein - ziemlich ungemütliches - Vorzimmer Europas sein. Der Autor beklagt die Folgen einer primitiven Russifizierung, die sich ins Land gefressen haben. Für Leute wie ihn, sagt Juri Andruchowysch, bleibt angesichts der Verknotung aller Probleme in alle politischen Himmelsrichtungen die "Festung aus Alkohol, Sex und Musik", eine Festung, die er nicht allein bewohnt.
Andruchowytsch schreibt über den ukrainischen Nationaldichter Schewtschenko, und schildert, wie er selbst, als ukrainischer Dichter, in New York von einer höchst multikulturellen Zuhörerschaft erst in dem Moment richtig verstanden wird, da sie annehmen kann, die Ukraine sei so etwas wie eine Kolonie Europas. Man würde gern fortfahren mit dieser unglaublichen Reise durch dieses Land und seine realen Imaginationen, ein Land, in dem die Seiten der Geschichte über die Straßen und durch die Gassen wirbeln. Hier liegt die Geschichte wirklich auf der Straße und manchmal in der Gosse. Man hoffte, daß Günther Verheugen, wenn er im Rahmen des "wider Europe"-Konzepts diese Woche in der Ukraine über Kooperationsmöglichkeiten mit der Euroapäischen Union Gespräche führt, Juri Andruchowytsch trifft. Das wäre eine Traum-Begegnung, die Mut machte für Europa.
MICHAEL JEISMANN.
Juri Andruchowytsch: "Das letzte Territorium". Essays. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 192 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die Karpatologie ist "eine besondere Metawissenschaft von der Zukunft", erklärt uns Lothar Müller. Vieles in Juri Andruchowytsch's Essayband werde den hiesigen Lesern erst einmal reichlich fremd vorkommen, meint Müller, doch nach der Lektüre der Essays betrachte man diesen Teil Osteuropas mit neugierigeren Augen. Und da erscheine die Frage gar nicht mehr so abwegig, ob sich entlang der Karpaten tatsächlich die neue Ostgrenze bilden wird, wo ja die Karpaten schon einmal die Grenzlinie zwischen der römisch-westlichen und östlich-byzantinischen Welt dargestellt haben. Juri Andruchowytsch stammt aus Galizien, wo auch Joseph Roth und Paul Celan herkamen, in seiner Jugend war das Gebiet sowjetisch, heute gehört es zur Ukraine. Bei diesem Autor, Jahrgang 1969, nehmen die Landschaften, die Städte dieser Region, die Andruchowytsch wie ein Archäologe der eigenen Jugend absuche, regelrecht wieder physisch Gestalt an, hält Müller fest. Daneben erkunde der Autor eifrig die neuen Grenzen und Grenzziehungen, die Grenzüberschreitungen von Ost nach West, die Abgrenzungen von Ost gegen West, auch da erweist er sich eben als ein echter Karpatologe, schreibt Müller, ein Grenzwissenschaftler und -tüftler der alten und neuen Verhältnisse.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH