»In den letzten Jahren hat mich kein Buch über junge Erwachsene so begeistert wie Jan Schomburgs 'Das Licht und die Geräusche'.« Denis Scheck
Johanna versteht einfach nicht, warum Boris und sie kein Paar sind. Klar, eigentlich ist Boris mit Ana-Clara zusammen, aber die ist weit weg in Portugal, während Johanna und Boris jede freie Minute miteinander verbringen und über alles reden, außer darüber, warum sie sich noch nicht geküsst haben. Und dann ist Boris nach dieser großen Nacht am See auch noch plötzlich verschwunden. In Island, auf der Suche nach Boris, findet Johanna einiges heraus - auch, dass viele Dinge ihr Wesen verändern, je länger man sie betrachtet. Pointiert und mit zartem Witz erzählt Jan Schomburg von drei jungen Menschen und ihren Versuchen zu erkennen, wie das eigentlich überhaupt gehen soll: leben.
Johanna versteht einfach nicht, warum Boris und sie kein Paar sind. Klar, eigentlich ist Boris mit Ana-Clara zusammen, aber die ist weit weg in Portugal, während Johanna und Boris jede freie Minute miteinander verbringen und über alles reden, außer darüber, warum sie sich noch nicht geküsst haben. Und dann ist Boris nach dieser großen Nacht am See auch noch plötzlich verschwunden. In Island, auf der Suche nach Boris, findet Johanna einiges heraus - auch, dass viele Dinge ihr Wesen verändern, je länger man sie betrachtet. Pointiert und mit zartem Witz erzählt Jan Schomburg von drei jungen Menschen und ihren Versuchen zu erkennen, wie das eigentlich überhaupt gehen soll: leben.
Die einfühlsame Coming-of-Age-Geschichte um Johanna, Boris und Ana-Clara erzählt von Liebe und Familie, Leben und Tod. myself 20180101
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.02.2017Wir könnten den Jaguar nehmen
Die literarischen Debüts des Frühjahrs: Takis Würger will in den Club. Tijan Sila führt uns in das belagerte Sarajevo. Alina Herbing rechnet mit dem Leben auf dem Land ab. Jan Schomburg kann schreiben. Und dann kommt Juliana Kálnay und bricht alle Regeln
Es gibt für jeden, der mit seinem ersten Roman die literarische Bühne betritt, die Chance, alle für sich zu gewinnen: den Buchhandel, die Kritik und die Leser, und als Schriftstellerin oder Schriftsteller mit einem Mal da zu sein. Alle kennen einen, alle reden über einen, alle wollen das neue Buch haben. Das passiert nicht oft, aber die Chance ist jedes Mal da und die Hoffnung darauf völlig berechtigt. Und weil der Literaturbetrieb nicht einfach ein Glücksspiel ist, sondern vor allem auch ein ziemlich unerbittlicher Markt, versuchen manche Autoren, ihre Chancen ein bisschen zu erhöhen, und machen vorab schon mal Wind. Es ist ihr gutes Recht, alles zu versuchen.
Wenn man die Debüts dieses Frühjahrs auspackt, um sich zwei Wochen lang durch sie hindurchzulesen, was eine tolle Erfahrung ist, gerade weil man nichts Bestimmtes erwartet, ist es dann aber schon lustig, mit dem Roman von Takis Würger, "Der Club", der Anfang März erscheinen wird, gleich eine Handvoll Zitate von prominenten "Kollegen" mitgeliefert zu bekommen. Darunter: "Takis Würgers zauberzarte Geschichte ist ein Buch, das man zum Freund will" (Benjamin von Stuckrad-Barre). Oder: "Es gibt nur wenige echte Schriftsteller. Ich glaube, Takis Würger ist einer" (Thomas Glavinic). In der Praxis bedeutet dies, dass der Autor Stuckrad-Barre und Glavinic gebeten hat, sein Buch vorab zu lesen und zu loben. Das gibt es oft, fünf solcher Zitate beweisen allerdings einen großen Ehrgeiz. Zumal Takis Würger, Jahrgang 1985, Reporter beim "Spiegel", mit lackierten Nägeln und verschmierter Mascara auf Instagram neulich verkleidet als Schriftstellerin Ronja von Rönne für seinen bald erscheinenden Roman geworben hatte, was sich natürlich herumsprach. Das ist schon sehr viel Wind.
"Der Club" erzählt die Geschichte von Hans, dessen Eltern bereits auf Seite 18 tot sind (es wirkt ein bisschen so, als müssten die erst mal weg, damit die Geschichte losgehen kann), so dass Hans, der noch ein Kind ist, aufs Internat kommt. Dort bringt ihm ein Pater im Weinkeller das Boxen bei, was wichtig ist für diesen Roman, der im weiteren Verlauf auch ein Boxroman ist. Auf Seite 30 sitzt er aber schon bei seiner Tante, einer Professorin, die am St. John's College in Cambridge lehrt. Sie verspricht, ihm einen Studienplatz, ein Stipendium und einen neuen Namen zu besorgen, wie man das sonst nur mit den Kindern von Politikern und Milliardären macht. Er soll im sogenannten Pitt Club Mitglied werden und dort für sie verdeckt ermitteln: "Es geht um ein Verbrechen, Hans. Ich brauche deine Hilfe, weil ich ein Verbrechen aufklären muss." Von da an ist das Buch ein Krimi.
Aber eben nicht nur. Denn Takis Würger will viel auf einmal. Er will eindringen in eine elitäre dunkle Herrenclubwelt mit alten Traditionen und teurer Ausstattung. Er will mit einem Ausflug aufs Land in ein leer stehendes Herrenhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert eine romantische Liebesgeschichte erzählen, die er an Evelyn Waughs "Wiedersehen mit Brideshead" anlehnt: ",Wir sollten nach Somerset fahren', sagte sie. ,Es ist zauberhaft im Frühjahr, du musst die Apfelplantagen im Raureif sehen, wir könnten den Jaguar nehmen und wären in drei Stunden dort.'" Er bringt sogar ein paar Kochrezepte unter. Und er dopt, mit den Boxkämpfen ("Arm, reich, egal. Heute Nacht war ich ein Boxer") und den gewalttätigen Ritualen der Clubwelt, die gesamte Erzählung mit viel Testosteron, was vermutlich Gefährlichkeit signalisieren soll.
Das liest sich ganz charmant, Angst hat man allerdings nicht. Takis Würger schaut in den Abgrund, von dem er erzählen will, lieber nicht hinein, sondern gleitet mit Sätzen darüber hinweg, die Poesie bloß suggerieren: "Ich hatte vergessen, wie gut es mir tat, zu schreiben. Mein Stift glitt über die Linien. Draußen wurde es hell, als ich das Heft zuklappte. Ich öffnete ein Fenster, schlafen würde ich in dieser Nacht nicht mehr. Die Luft roch nach Frühling und einem neuen Tag."
In den Abgrund blickt man woanders: in "Tierchen unlimited", dem ersten Roman von Tijan Sila. Sila lebt in Kaiserslautern, wo er als Lehrer an einer Berufsschule arbeitet. Er wurde 1981 in Sarajevo geboren und emigrierte 1994 mit seiner Familie nach Deutschland. Und von genau dieser Zeit erzählt der Roman, von einem Neuanfang in Deutschland und, in Rückblenden, von Sarajevo in den Neunzigern während des Kriegs.
"Ich floh nackt und blutend auf einem Rennrad", heißt der erste Satz des Romans, der sich nicht auf Sarajevo bezieht, sondern auf die Flucht des jungen Ich-Erzählers vor dem Neonazibruder seiner deutschen Freundin, der ihn soeben krankenhausreif geschlagen hat. Er versucht, sich auf dem Rad zu halten, das Blut fließt ihm aus den Platzwunden. Jedes Mal, wenn er durch Schlaglöcher fährt, jault er auf. Sein Penis und seine Hoden haben ihre ursprüngliche Form aufgegeben und sind zu einem dunklen Ödem verwachsen. Dann halten drei BASF-Rentner, die von einem Vereinstreffen heimkehren, in einem weißen Corsa neben ihm: "Du siehst schlecht aus. Magst du dir nicht helfen lassen?" Sauerei, Schande, finden sie, derart von einem Nazi verdroschen zu werden, da hätte er genauso gut in Bosnien bleiben können.
Man braucht nach diesem rasant erzählten Anfang eine kleine Weile, bis man dem Humor von Tijan Sila richtig auf die Spur gekommen ist. Spätestens als die zweite Freundin mit Nazibruder auftaucht, ist alles klar. Neu in Rheinland-Pfalz, begegnet der Ich-Erzähler vor allem Leuten, die entweder Neonazis, Polizisten oder Verfassungsschützer sind. Und es ist nicht gerade so, dass der Erzähler selbst, der sich auf Einbrüche spezialisiert, sich gradlinig zwischen diesen Figuren bewegte. Angetan hat es ihm ein bosnischer Neonazi, den er in Hassloch im Supermarkt kennengelernt hat und der als Bosnier die deutschen Neonazis anführt. Semso heißt er und nimmt ihn immer "in die Knochenbude und ins Boxen mit". Es wird ziemlich viel geboxt in den neuen Romanen dieses Frühjahrs.
Der Abgrund in "Tierchen unlimited", das sind die Passagen, die vom belagerten und von der Außenwelt abgeschlossenen Sarajevo erzählen. Es sind eindrucksvolle Erinnerungen daran, wie der Abfall seit Kriegsbeginn nicht mehr abgeholt wurde und aus den Innenhöfen der Häuser allmählich auf die Straße quoll, wo die Kinder ihn als Zeitvertreib anzündeten. Erinnerungen an Badeszenen in der Miljacka, wo alle, die badeten, unterernährt waren, auf dünnen, behaarten Beinen herumliefen und krank aussahen. Oder Erinnerungen an die Flucht, erst durch den Tunnel, dann mit dem Bus, aus dem sie nicht raus aufs Klo durften. Deutschland kann nach all dem nicht die Rettung sein: "Wenn man einen Krieg hinter sich hat und in Frieden und Wohlstand leben kann, ist erst mal alles ein Skandalon", schreibt Tijan Sila - und lässt seinem unversöhnlichen Erzähler die neue Welt ungeordnet als Farce begegnen.
Das ist zum Teil ziemlich versponnen, aber Sila entwickelt einen sehr eigenen Ton, dunkel und durchdrungen von schrillem Humor. Und das ist es ja, worauf man beim Lesen neuer Autoren immer so gespannt ist: auf den Tonfall und die Sprache. Das ist es, worum es geht. Alina Herbing zum Beispiel, die 1984 in Lübeck geboren wurde, Literarisches Schreiben studiert hat und deren erster Roman, "Niemand ist bei den Kälbern", vom NDR gerade zum "Buch des Monats" gewählt wurde, hat auch eine abgründige Geschichte zu erzählen: die vom erstickenden Gefängnis des Landlebens, eine Gegengeschichte zu allen Landlust-Sehnsüchten. Gleich auf den ersten Seiten wird vom Mähwerk eines Treckers ein Rehkitz zerhäckselt, und ein vom Windrad erschlagener Raubvogel liegt verkrümmt am Feldrand. Die Ich-Erzählerin ist zwanzig, hat einen Alkoholiker-Vater und einen Freund, bei dem sie wohnt, lässt sich aber mit dem Mann von der Windrad-Firma ein, einfach nur, damit etwas passiert. Auch hier schlägt jemand zu. Sie verbrennt die Erde, auf der sie steht, um endlich einen Grund zu haben, für immer zu gehen.
Und es ist schon so, dass, was in "Niemand ist bei den Kälbern" erzählt wird, interessant und niederschmetternd ist. Nur wie es erzählt wird, ist konventionell und in seiner Wirkung in derselben Weise harmlos wie "Der Club": "Über mir ist dieser riesige Himmel, und als ich hochgucke, sehe ich dieses verdammt blaue Blau, das sich über die ganze Welt zieht wie eine Plane, unter der wir gefangen sind." Es ist auch nicht so, dass man das Mädchen, das hier spricht, so sehr vor Augen hätte, dass man sie am Ende des Buchs mit hinaus ins eigene Leben nehmen möchte. Das gibt es ja auch.
Bei Jan Schomburg ist es so. "Das Licht und die Geräusche" heißt der erste Roman des 1976 in Aachen geborenen Filmregisseurs und Drehbuchautors. Auch er lässt ein Mädchen erzählen, Johanna. Auf der ersten Seite kommen ständig Vornamen vor, Boris und Ana-Clara und Ana-Clara und Boris, und man hat schon Angst vor diesem Vornamensirrsinn, der seit Judith Hermanns "Sommerhaus, später" nicht aufgehört zu haben scheint. Aber da hat einen der Roman schon, der sich wie ein Jugendroman liest und zugleich wie ein Roman über das Ende der Kindheit.
Das Mädchen, dem Jan Schomburg eine Stimme gibt, sie ist 17 oder 18, gesteht sich irgendwann ein, sich in den Jungen verliebt zu haben, der neu ist in der Klasse und sich eigensinnig immer etwas anders verhält als die anderen. Nach einem ausgeflippten Abend (schon wieder wird zugeschlagen, es fließt Blut, aber Boris, der getroffen wird, kann nicht aufhören zu lachen) und nach einem nächtlichen Badeausflug an den See verschwindet er. Und was sich eben noch wie das pralle Leben angefühlt hat, verwandelt sich in einen Abgrund, in den die Figuren dieses Romans das erste Mal blicken. Es verändert sie für immer.
Es gibt so viele Romane, die Handlungsstränge und Erzählstimmen aufwendig auseinandernehmen, um sie dann künstlich wieder zusammenzumontieren, weil Autoren meinen, aus dem Zusammenhang gerissen wirke alles literarischer. Jan Schomburgs "Das Licht und die Geräusche" ist dagegen ein dramaturgisches Zauberstück. Nie wirkt die Konstruktion aufgesetzt, nie ist sie von dem Willen getragen, besonders literarisch sein zu wollen. Und das Mädchen wird zu einer Figur, die man nicht vergisst.
Aber dann kommt Juliana Kálnay und bricht mit allen Regeln. Denn in ihrer "Chronik des allmählichen Verschwindens", die gleich nach Erscheinen auf der SWR-Bestenliste gelandet ist, gelten nicht die Vorgaben realistischen Erzählens. Kálnay wurde 1988 in Hamburg geboren und studierte wie Alina Herbing Literarisches Schreiben in Hildesheim. Mit ihrem Roman, der von einem Haus mit der Nummer 29 erzählt - von Nachbarn, die einander heimlich durch Löcher in der Wand beobachten, von Schatten im Treppenhaus, von Bewohnern, die schon immer hier waren, und Menschen, deren Wohnung aufgebrochen werden muss, weil sich in ihnen nichts mehr regt, von "chronisch Schlaflosen" und Kindern - knüpft sie an die Tradition des magischen Realismus an.
Nichts ist sicher. Irgendwann verwandelt sich ein Mann in einen Baum, der dann auf dem Balkon steht, und ein unbemerkter Mitbewohner nistet sich im Fahrstuhl ein. "Erdgeschoss rechts" oder "3. Stock, links" heißen die Kapitel. Man denkt an "Das Leben. Gebrauchsanweisung", den experimentellen Haus-Roman des französischen Schriftstellers Georges Perec, den Juliana Kálnay am Ende auch als stilistische Vorlage anführt. Doch während bei Perec die Romankonstruktion mathematisch kalkuliert ist und den Regeln des Schachspiels folgt, driftet die junge Autorin ins Phantastische ab. Ihre Sprache ist dabei glasklar, jeder Satz in sich stimmig. Und die Verschränkung von phantastischen Elementen und einer so klaren Sprache macht ihr Buch, dessen Atmosphäre jedem, der einmal in einem großen anonymen Mietshaus gewohnt hat, eigentümlich vertraut ist, so besonders. "Es ist das Haus, es steckt mir in den Knochen. Oder bin ich es, die dem Haus in den Mauern steckt?"
"Wie hat Ihnen mein Buch gefallen? Ich beantworte jede E-Mail persönlich", steht unter dem Autorenfoto auf der letzten Seite von Takis Würgers Roman. Würger hat sich das von Sebastian Fitzek abgeguckt, dem Bestsellerautor, der bekannt dafür ist, die vielen E-Mails, die er bekommt, tatsächlich zu beantworten. Man stellt sich kurz vor, Juliana Kálnay hätte am Ende ihres Romans dieses Angebot gemacht. Die Fragen hätten kein Ende, gerade weil nichts gewiss ist. Und eigentlich geht es in der Literatur ja auch nicht vorrangig darum, Antworten zu geben, sondern darum, Fragen zu stellen. Und wir, die wir die Bücher lesen, können dann sehen, was diese Fragen mit uns machen.
JULIA ENCKE.
Alina Herbing: "Niemand ist bei den Kälbern". Roman. Arche, 224 Seiten, 20 Euro.
Juliana Kálnay: "Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens". Roman. Wagenbach, 192 Seiten, 20 Euro.
Jan Schomburg: "Das Licht und die Geräusche". Roman. dtv, 256 Seiten, 20 Euro (erscheint am 10. März).
Tijan Sila: "Tierchen unlimited". Roman. Kiepenheuer & Witsch, 224 Seiten, 18 Euro.
Takis Würger: "Der Club". Roman. Kein & Aber, 240 Seiten, 22 Euro (erscheint am 3. März)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die literarischen Debüts des Frühjahrs: Takis Würger will in den Club. Tijan Sila führt uns in das belagerte Sarajevo. Alina Herbing rechnet mit dem Leben auf dem Land ab. Jan Schomburg kann schreiben. Und dann kommt Juliana Kálnay und bricht alle Regeln
Es gibt für jeden, der mit seinem ersten Roman die literarische Bühne betritt, die Chance, alle für sich zu gewinnen: den Buchhandel, die Kritik und die Leser, und als Schriftstellerin oder Schriftsteller mit einem Mal da zu sein. Alle kennen einen, alle reden über einen, alle wollen das neue Buch haben. Das passiert nicht oft, aber die Chance ist jedes Mal da und die Hoffnung darauf völlig berechtigt. Und weil der Literaturbetrieb nicht einfach ein Glücksspiel ist, sondern vor allem auch ein ziemlich unerbittlicher Markt, versuchen manche Autoren, ihre Chancen ein bisschen zu erhöhen, und machen vorab schon mal Wind. Es ist ihr gutes Recht, alles zu versuchen.
Wenn man die Debüts dieses Frühjahrs auspackt, um sich zwei Wochen lang durch sie hindurchzulesen, was eine tolle Erfahrung ist, gerade weil man nichts Bestimmtes erwartet, ist es dann aber schon lustig, mit dem Roman von Takis Würger, "Der Club", der Anfang März erscheinen wird, gleich eine Handvoll Zitate von prominenten "Kollegen" mitgeliefert zu bekommen. Darunter: "Takis Würgers zauberzarte Geschichte ist ein Buch, das man zum Freund will" (Benjamin von Stuckrad-Barre). Oder: "Es gibt nur wenige echte Schriftsteller. Ich glaube, Takis Würger ist einer" (Thomas Glavinic). In der Praxis bedeutet dies, dass der Autor Stuckrad-Barre und Glavinic gebeten hat, sein Buch vorab zu lesen und zu loben. Das gibt es oft, fünf solcher Zitate beweisen allerdings einen großen Ehrgeiz. Zumal Takis Würger, Jahrgang 1985, Reporter beim "Spiegel", mit lackierten Nägeln und verschmierter Mascara auf Instagram neulich verkleidet als Schriftstellerin Ronja von Rönne für seinen bald erscheinenden Roman geworben hatte, was sich natürlich herumsprach. Das ist schon sehr viel Wind.
"Der Club" erzählt die Geschichte von Hans, dessen Eltern bereits auf Seite 18 tot sind (es wirkt ein bisschen so, als müssten die erst mal weg, damit die Geschichte losgehen kann), so dass Hans, der noch ein Kind ist, aufs Internat kommt. Dort bringt ihm ein Pater im Weinkeller das Boxen bei, was wichtig ist für diesen Roman, der im weiteren Verlauf auch ein Boxroman ist. Auf Seite 30 sitzt er aber schon bei seiner Tante, einer Professorin, die am St. John's College in Cambridge lehrt. Sie verspricht, ihm einen Studienplatz, ein Stipendium und einen neuen Namen zu besorgen, wie man das sonst nur mit den Kindern von Politikern und Milliardären macht. Er soll im sogenannten Pitt Club Mitglied werden und dort für sie verdeckt ermitteln: "Es geht um ein Verbrechen, Hans. Ich brauche deine Hilfe, weil ich ein Verbrechen aufklären muss." Von da an ist das Buch ein Krimi.
Aber eben nicht nur. Denn Takis Würger will viel auf einmal. Er will eindringen in eine elitäre dunkle Herrenclubwelt mit alten Traditionen und teurer Ausstattung. Er will mit einem Ausflug aufs Land in ein leer stehendes Herrenhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert eine romantische Liebesgeschichte erzählen, die er an Evelyn Waughs "Wiedersehen mit Brideshead" anlehnt: ",Wir sollten nach Somerset fahren', sagte sie. ,Es ist zauberhaft im Frühjahr, du musst die Apfelplantagen im Raureif sehen, wir könnten den Jaguar nehmen und wären in drei Stunden dort.'" Er bringt sogar ein paar Kochrezepte unter. Und er dopt, mit den Boxkämpfen ("Arm, reich, egal. Heute Nacht war ich ein Boxer") und den gewalttätigen Ritualen der Clubwelt, die gesamte Erzählung mit viel Testosteron, was vermutlich Gefährlichkeit signalisieren soll.
Das liest sich ganz charmant, Angst hat man allerdings nicht. Takis Würger schaut in den Abgrund, von dem er erzählen will, lieber nicht hinein, sondern gleitet mit Sätzen darüber hinweg, die Poesie bloß suggerieren: "Ich hatte vergessen, wie gut es mir tat, zu schreiben. Mein Stift glitt über die Linien. Draußen wurde es hell, als ich das Heft zuklappte. Ich öffnete ein Fenster, schlafen würde ich in dieser Nacht nicht mehr. Die Luft roch nach Frühling und einem neuen Tag."
In den Abgrund blickt man woanders: in "Tierchen unlimited", dem ersten Roman von Tijan Sila. Sila lebt in Kaiserslautern, wo er als Lehrer an einer Berufsschule arbeitet. Er wurde 1981 in Sarajevo geboren und emigrierte 1994 mit seiner Familie nach Deutschland. Und von genau dieser Zeit erzählt der Roman, von einem Neuanfang in Deutschland und, in Rückblenden, von Sarajevo in den Neunzigern während des Kriegs.
"Ich floh nackt und blutend auf einem Rennrad", heißt der erste Satz des Romans, der sich nicht auf Sarajevo bezieht, sondern auf die Flucht des jungen Ich-Erzählers vor dem Neonazibruder seiner deutschen Freundin, der ihn soeben krankenhausreif geschlagen hat. Er versucht, sich auf dem Rad zu halten, das Blut fließt ihm aus den Platzwunden. Jedes Mal, wenn er durch Schlaglöcher fährt, jault er auf. Sein Penis und seine Hoden haben ihre ursprüngliche Form aufgegeben und sind zu einem dunklen Ödem verwachsen. Dann halten drei BASF-Rentner, die von einem Vereinstreffen heimkehren, in einem weißen Corsa neben ihm: "Du siehst schlecht aus. Magst du dir nicht helfen lassen?" Sauerei, Schande, finden sie, derart von einem Nazi verdroschen zu werden, da hätte er genauso gut in Bosnien bleiben können.
Man braucht nach diesem rasant erzählten Anfang eine kleine Weile, bis man dem Humor von Tijan Sila richtig auf die Spur gekommen ist. Spätestens als die zweite Freundin mit Nazibruder auftaucht, ist alles klar. Neu in Rheinland-Pfalz, begegnet der Ich-Erzähler vor allem Leuten, die entweder Neonazis, Polizisten oder Verfassungsschützer sind. Und es ist nicht gerade so, dass der Erzähler selbst, der sich auf Einbrüche spezialisiert, sich gradlinig zwischen diesen Figuren bewegte. Angetan hat es ihm ein bosnischer Neonazi, den er in Hassloch im Supermarkt kennengelernt hat und der als Bosnier die deutschen Neonazis anführt. Semso heißt er und nimmt ihn immer "in die Knochenbude und ins Boxen mit". Es wird ziemlich viel geboxt in den neuen Romanen dieses Frühjahrs.
Der Abgrund in "Tierchen unlimited", das sind die Passagen, die vom belagerten und von der Außenwelt abgeschlossenen Sarajevo erzählen. Es sind eindrucksvolle Erinnerungen daran, wie der Abfall seit Kriegsbeginn nicht mehr abgeholt wurde und aus den Innenhöfen der Häuser allmählich auf die Straße quoll, wo die Kinder ihn als Zeitvertreib anzündeten. Erinnerungen an Badeszenen in der Miljacka, wo alle, die badeten, unterernährt waren, auf dünnen, behaarten Beinen herumliefen und krank aussahen. Oder Erinnerungen an die Flucht, erst durch den Tunnel, dann mit dem Bus, aus dem sie nicht raus aufs Klo durften. Deutschland kann nach all dem nicht die Rettung sein: "Wenn man einen Krieg hinter sich hat und in Frieden und Wohlstand leben kann, ist erst mal alles ein Skandalon", schreibt Tijan Sila - und lässt seinem unversöhnlichen Erzähler die neue Welt ungeordnet als Farce begegnen.
Das ist zum Teil ziemlich versponnen, aber Sila entwickelt einen sehr eigenen Ton, dunkel und durchdrungen von schrillem Humor. Und das ist es ja, worauf man beim Lesen neuer Autoren immer so gespannt ist: auf den Tonfall und die Sprache. Das ist es, worum es geht. Alina Herbing zum Beispiel, die 1984 in Lübeck geboren wurde, Literarisches Schreiben studiert hat und deren erster Roman, "Niemand ist bei den Kälbern", vom NDR gerade zum "Buch des Monats" gewählt wurde, hat auch eine abgründige Geschichte zu erzählen: die vom erstickenden Gefängnis des Landlebens, eine Gegengeschichte zu allen Landlust-Sehnsüchten. Gleich auf den ersten Seiten wird vom Mähwerk eines Treckers ein Rehkitz zerhäckselt, und ein vom Windrad erschlagener Raubvogel liegt verkrümmt am Feldrand. Die Ich-Erzählerin ist zwanzig, hat einen Alkoholiker-Vater und einen Freund, bei dem sie wohnt, lässt sich aber mit dem Mann von der Windrad-Firma ein, einfach nur, damit etwas passiert. Auch hier schlägt jemand zu. Sie verbrennt die Erde, auf der sie steht, um endlich einen Grund zu haben, für immer zu gehen.
Und es ist schon so, dass, was in "Niemand ist bei den Kälbern" erzählt wird, interessant und niederschmetternd ist. Nur wie es erzählt wird, ist konventionell und in seiner Wirkung in derselben Weise harmlos wie "Der Club": "Über mir ist dieser riesige Himmel, und als ich hochgucke, sehe ich dieses verdammt blaue Blau, das sich über die ganze Welt zieht wie eine Plane, unter der wir gefangen sind." Es ist auch nicht so, dass man das Mädchen, das hier spricht, so sehr vor Augen hätte, dass man sie am Ende des Buchs mit hinaus ins eigene Leben nehmen möchte. Das gibt es ja auch.
Bei Jan Schomburg ist es so. "Das Licht und die Geräusche" heißt der erste Roman des 1976 in Aachen geborenen Filmregisseurs und Drehbuchautors. Auch er lässt ein Mädchen erzählen, Johanna. Auf der ersten Seite kommen ständig Vornamen vor, Boris und Ana-Clara und Ana-Clara und Boris, und man hat schon Angst vor diesem Vornamensirrsinn, der seit Judith Hermanns "Sommerhaus, später" nicht aufgehört zu haben scheint. Aber da hat einen der Roman schon, der sich wie ein Jugendroman liest und zugleich wie ein Roman über das Ende der Kindheit.
Das Mädchen, dem Jan Schomburg eine Stimme gibt, sie ist 17 oder 18, gesteht sich irgendwann ein, sich in den Jungen verliebt zu haben, der neu ist in der Klasse und sich eigensinnig immer etwas anders verhält als die anderen. Nach einem ausgeflippten Abend (schon wieder wird zugeschlagen, es fließt Blut, aber Boris, der getroffen wird, kann nicht aufhören zu lachen) und nach einem nächtlichen Badeausflug an den See verschwindet er. Und was sich eben noch wie das pralle Leben angefühlt hat, verwandelt sich in einen Abgrund, in den die Figuren dieses Romans das erste Mal blicken. Es verändert sie für immer.
Es gibt so viele Romane, die Handlungsstränge und Erzählstimmen aufwendig auseinandernehmen, um sie dann künstlich wieder zusammenzumontieren, weil Autoren meinen, aus dem Zusammenhang gerissen wirke alles literarischer. Jan Schomburgs "Das Licht und die Geräusche" ist dagegen ein dramaturgisches Zauberstück. Nie wirkt die Konstruktion aufgesetzt, nie ist sie von dem Willen getragen, besonders literarisch sein zu wollen. Und das Mädchen wird zu einer Figur, die man nicht vergisst.
Aber dann kommt Juliana Kálnay und bricht mit allen Regeln. Denn in ihrer "Chronik des allmählichen Verschwindens", die gleich nach Erscheinen auf der SWR-Bestenliste gelandet ist, gelten nicht die Vorgaben realistischen Erzählens. Kálnay wurde 1988 in Hamburg geboren und studierte wie Alina Herbing Literarisches Schreiben in Hildesheim. Mit ihrem Roman, der von einem Haus mit der Nummer 29 erzählt - von Nachbarn, die einander heimlich durch Löcher in der Wand beobachten, von Schatten im Treppenhaus, von Bewohnern, die schon immer hier waren, und Menschen, deren Wohnung aufgebrochen werden muss, weil sich in ihnen nichts mehr regt, von "chronisch Schlaflosen" und Kindern - knüpft sie an die Tradition des magischen Realismus an.
Nichts ist sicher. Irgendwann verwandelt sich ein Mann in einen Baum, der dann auf dem Balkon steht, und ein unbemerkter Mitbewohner nistet sich im Fahrstuhl ein. "Erdgeschoss rechts" oder "3. Stock, links" heißen die Kapitel. Man denkt an "Das Leben. Gebrauchsanweisung", den experimentellen Haus-Roman des französischen Schriftstellers Georges Perec, den Juliana Kálnay am Ende auch als stilistische Vorlage anführt. Doch während bei Perec die Romankonstruktion mathematisch kalkuliert ist und den Regeln des Schachspiels folgt, driftet die junge Autorin ins Phantastische ab. Ihre Sprache ist dabei glasklar, jeder Satz in sich stimmig. Und die Verschränkung von phantastischen Elementen und einer so klaren Sprache macht ihr Buch, dessen Atmosphäre jedem, der einmal in einem großen anonymen Mietshaus gewohnt hat, eigentümlich vertraut ist, so besonders. "Es ist das Haus, es steckt mir in den Knochen. Oder bin ich es, die dem Haus in den Mauern steckt?"
"Wie hat Ihnen mein Buch gefallen? Ich beantworte jede E-Mail persönlich", steht unter dem Autorenfoto auf der letzten Seite von Takis Würgers Roman. Würger hat sich das von Sebastian Fitzek abgeguckt, dem Bestsellerautor, der bekannt dafür ist, die vielen E-Mails, die er bekommt, tatsächlich zu beantworten. Man stellt sich kurz vor, Juliana Kálnay hätte am Ende ihres Romans dieses Angebot gemacht. Die Fragen hätten kein Ende, gerade weil nichts gewiss ist. Und eigentlich geht es in der Literatur ja auch nicht vorrangig darum, Antworten zu geben, sondern darum, Fragen zu stellen. Und wir, die wir die Bücher lesen, können dann sehen, was diese Fragen mit uns machen.
JULIA ENCKE.
Alina Herbing: "Niemand ist bei den Kälbern". Roman. Arche, 224 Seiten, 20 Euro.
Juliana Kálnay: "Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens". Roman. Wagenbach, 192 Seiten, 20 Euro.
Jan Schomburg: "Das Licht und die Geräusche". Roman. dtv, 256 Seiten, 20 Euro (erscheint am 10. März).
Tijan Sila: "Tierchen unlimited". Roman. Kiepenheuer & Witsch, 224 Seiten, 18 Euro.
Takis Würger: "Der Club". Roman. Kein & Aber, 240 Seiten, 22 Euro (erscheint am 3. März)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main