Nach dem großen Erfolg des Bandes »Fatrasien. Absurde Poesie des Mittelalters« setzt Ralph Dutli seine poetische Erkundung eines unbekannten, fremden und dennoch erstaunlich modern wirkenden Mittelalters fort.In 750 Jahren wurde dieses Juwel der mittelalterlichen Literatur noch nie ins Deutsche übersetzt. »Das Liebesbestiarium« bedeutete seinerzeit eine literarische Revolution in europäischem Maßstab. Richard de Fournival (1201-1260) erkundet darin in gewagten Bildern das Geheimnis des Eros und findet für die Liebe eine neue, unerhörte Sprache. In seiner Beschwörung der angebeteten Frau entwirft er einen magischen Liebeszoo zwischen Einhorn und Phönix, Schwalbe und Pantherweibchen, phantastischen und realen Tieren.Er provoziert damit die entschiedene Antwort einer - anonym gebliebenen - selbstbewussten Frau, einen der ersten feministischen Texte überhaupt. Ralph Dutli hat auch diesen Text übersetzt und dem von Fournival hinzugefügt.»Das Liebesbestiarium« ist ein leuchtendes Monument in der Geschichte des Nachdenkens über die Möglichkeiten der Liebe zwischen Mann und Frau, über die Unterschiedlichkeit ihres Begehrens, über Passion und Verfallenheit, Hoffnung und Verzweiflung, Gedächtnis und Liebestod.Ein amüsantes, hintergründiges, nachdenklich stimmendes Buch zum Staunen.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ingeborg Waldinger findet Liebeswerben der altmodischen Art nicht versponnen, sondern gar zauberhaft. Was Richard de Fournival um 1250 an allegorischem "Minne-Jägerlatein" auffährt, um eine Liebe auf Augenhöhe einzufordern, lässt Waldinger erstaunen. Die besondere Leistung Fournivals im Vergleich zu heilsgeschichtlich ausgerichteten Volksbestiarien erkennt Waldinger in der profanen Umdeutung ins Erotische und Ironische. Dass der Übersetzer Ralph Dutli den Leser nicht allein lässt und ihm ein umfassendes Nachwort gönnt sowie eine zeitgenössische Antwort der umworbenen Dame scheint der Rezensentin sinnvoll und hilfreich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.08.2014Wenn die Seele zur Geliebten schreit
Im "Liebesbestiarium" erweist sich Richard de Fournival als früher Psychologe. Ralph Dutli hat das mittelalterliche Werk erstmals ins Deutsche übersetzt.
Was die Liebe mit uns macht, weiß vermutlich niemand besser als der, der unerwidert liebt. Vollkommen abhängig, hoffnungslos wartend, sein Schicksal lauthals beklagend und doch nicht davon lassen könnend - so wenigstens stellt bereits der französische Kleriker, Arzt und Bibliomane Richard de Fournival (1201 bis 1260) diesen Zustand dar, in einem langen Schreiben an eine Frau, die seinem Werben nicht nachgibt. Und das ist, schreibt der Autor, sein allerletzter Versuch, sie zu überzeugen. Wenn auch dieser fehlschlägt, so weiß er, hat er seine letzten Truppen in die Schlacht geführt, die Belagerung jener Dame wird er ergebnislos abbrechen müssen.
Das ist nicht die einzige Metaphorik, die er aufbietet, nicht einmal die wichtigste. Vor allem fasst er, was immer er über die Liebe im Allgemeinen und über seine im Speziellen zu sagen hat, in Tierbilder: So sei es zwischen Mann und Frau wie zwischen Wolf und Jäger. Derjenige, der den anderen zuerst erblicke, sei von da an der Überlegene und könne mit dem anderen machen, was er wolle, glaubt der Autor: "Doch da ich weder Geduld noch die nötige Selbstbeherrschung hatte und Euch den Grund meines Herzens offenbarte, bevor ich irgend etwas von Euren Gefühlen wusste, habt Ihr Euch mir entzogen." Nicht nur der Wolf, auch das Wiesel taugt als Gleichnis für die Frau in der Liebe, wenn auch nicht die verliebte Frau, denn so, wie das Wiesel nach mittelalterlichen Vorstellungen den Nachwuchs durch das Ohr empfängt und durch den Mund gebiert, so nehme auch eine geliebte Frau "angenehme Worte" eines Anbeters in sich auf, um sich des Eindrucks, den diese auf sie machen, durch den Mund wieder zu entledigen - in Form einer Absage an den Liebenden.
All dies ist manchmal krude, oft bedenkenswert, und manchmal trifft man auf Überzeugungen, die wohl zu allen Zeiten einige Wahrheit für sich beanspruchen können. Das Wolfsgleichnis aus dem dreizehnten Jahrhundert trifft man in anderer Gestalt bei einem Autor des zwanzigsten Jahrhunderts wieder: als "Grundgesetz der Liebe" bei Marcel Proust. Insgesamt geht es in den Gleichnissen nie um nur eine Person oder eine Gruppe Ähnlicher, sondern um Konstellationen: um den Liebenden und die Kühle, um die Verehrte und den Verehrer, um das Opfer und den unfreiwilligen Täter. Das nimmt mitunter komplizierte Züge an, die der Kleriker dann ins Bild des Krokodils und seiner Beute fasst - das Krokodil ist natürlich die Dame, die Beute der vergeblich Liebende, und wenn es um diesen erst mal geschehen sei - aufgefressen durch das Krokodil, vernichtet durch die Abweisung der Dame -, dann bereue der Täter seine Tat und weine die berühmten Krokodilstränen. Nur dass an der Sache in beiden Fällen nichts mehr zu ändern sei.
Das "Liebesbestiarium" des Richard de Fournival trägt teils den Gestus eines naturkundlichen Welterklärungsbuchs und erweist seinen Autor gleichzeitig als Psychologen avant la lettre, der seelische Vorgänge verwissenschaftlichen will, etwa indem er sie auf die Eindrücke der fünf Sinne zurückführt. Dabei zieht er bisweilen seltsame Schlüsse: Aufgrund der Annahme, dass ein geschärftes Ohr die Defizite der Blindheit wenigstens teilweise ausgleiche, glaubt er daran, dass wer nicht riechen könne, besonders gut in der Lage sei zu schmecken.
All dies steht schon im Mittelalter in einer langen literarischen Tradition - sie geht zurück auf den "Physiologus", ein naturkundliches Werk aus der Spätantike, das Phänomene beschreibt und christlich allegorisiert. Das "Liebesbestiarium" nun bezeichnet der Heidelberger Autor Ralph Dutli, der das Werk jetzt erstmals ins Deutsche übertragen hat, im Nachwort als einen "Akt inspirierter Verweltlichung eines bislang religiös geprägten Genres", weil die Beschreibungen aus dem Naturreich nun nicht mehr für die Heilsgeschichte, sondern für die Liebeswerbung herangezogen werden. Das ist nicht von der Hand zu weisen - und doch sind es gerade die Überschneidungen zwischen Religion und Weltlichkeit im Gestus des "Liebesbestiariums", die den Leser in Bann schlagen: Da feiert der Autor die gewaltige, alles bezwingende Kraft der Stimme, und nun gar des Gesangs, und es ist von hier nicht allzu weit bis zur Erinnerung an die Schreie Hiobs um Erlösung oder zum "De profundis" des 130. Psalms. Die Seele schreit hier zur Geliebten, sie schreit dort zu Gott, aber sie schreit jedes Mal um das, was sie als Erlösung ansieht.
Der Autor jedenfalls kommt, wenn auch auf Umwegen, immer wieder auf seine Liebe zurück und greift mitunter zu gewagten Analogien, um der Geliebten seine Situation klarzumachen. Ob sie sich nicht den Biber zum Vorbild nehmen könne, fragt er? Denn dieses Tier, das nur wegen eines einzigen Körperteils gejagt werde (es sind die Hoden, weiß der "Physiologus", aber das verschweigt der Autor des "Liebesbestiariums" seiner Dame), entledige sich dessen auf der Flucht vor dem Jäger und bleibe danach ungeschoren. Das könne die Dame doch auch mit ihrem Herz machen, schlägt er vor, damit werde er sich begnügen, und sie hätte ihre Ruhe.
Man meint das Grimassieren der Verzweiflung in solchen Passagen zu spüren, während andere elegant, aber voller Trauer gehalten sind. Es geht ums Ganze, das teilt sich rasch mit, und auch, dass das Spiel längst verloren ist: "Ich weiß nicht, wer mich getötet hat, ob Ihr oder ich selber, ich weiß nur, dass wir beide schuldig sind."
TILMAN SPRECKELSEN
Richard de Fournival: "Liebesbestiarium". Absurde Poesie des Mittelalters. Aus dem Altfranzösischen von Ralph Dutli. Wallstein Verlag, Göttingen 2014. 188 S., Abb., 19,90 [Euro].
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Im "Liebesbestiarium" erweist sich Richard de Fournival als früher Psychologe. Ralph Dutli hat das mittelalterliche Werk erstmals ins Deutsche übersetzt.
Was die Liebe mit uns macht, weiß vermutlich niemand besser als der, der unerwidert liebt. Vollkommen abhängig, hoffnungslos wartend, sein Schicksal lauthals beklagend und doch nicht davon lassen könnend - so wenigstens stellt bereits der französische Kleriker, Arzt und Bibliomane Richard de Fournival (1201 bis 1260) diesen Zustand dar, in einem langen Schreiben an eine Frau, die seinem Werben nicht nachgibt. Und das ist, schreibt der Autor, sein allerletzter Versuch, sie zu überzeugen. Wenn auch dieser fehlschlägt, so weiß er, hat er seine letzten Truppen in die Schlacht geführt, die Belagerung jener Dame wird er ergebnislos abbrechen müssen.
Das ist nicht die einzige Metaphorik, die er aufbietet, nicht einmal die wichtigste. Vor allem fasst er, was immer er über die Liebe im Allgemeinen und über seine im Speziellen zu sagen hat, in Tierbilder: So sei es zwischen Mann und Frau wie zwischen Wolf und Jäger. Derjenige, der den anderen zuerst erblicke, sei von da an der Überlegene und könne mit dem anderen machen, was er wolle, glaubt der Autor: "Doch da ich weder Geduld noch die nötige Selbstbeherrschung hatte und Euch den Grund meines Herzens offenbarte, bevor ich irgend etwas von Euren Gefühlen wusste, habt Ihr Euch mir entzogen." Nicht nur der Wolf, auch das Wiesel taugt als Gleichnis für die Frau in der Liebe, wenn auch nicht die verliebte Frau, denn so, wie das Wiesel nach mittelalterlichen Vorstellungen den Nachwuchs durch das Ohr empfängt und durch den Mund gebiert, so nehme auch eine geliebte Frau "angenehme Worte" eines Anbeters in sich auf, um sich des Eindrucks, den diese auf sie machen, durch den Mund wieder zu entledigen - in Form einer Absage an den Liebenden.
All dies ist manchmal krude, oft bedenkenswert, und manchmal trifft man auf Überzeugungen, die wohl zu allen Zeiten einige Wahrheit für sich beanspruchen können. Das Wolfsgleichnis aus dem dreizehnten Jahrhundert trifft man in anderer Gestalt bei einem Autor des zwanzigsten Jahrhunderts wieder: als "Grundgesetz der Liebe" bei Marcel Proust. Insgesamt geht es in den Gleichnissen nie um nur eine Person oder eine Gruppe Ähnlicher, sondern um Konstellationen: um den Liebenden und die Kühle, um die Verehrte und den Verehrer, um das Opfer und den unfreiwilligen Täter. Das nimmt mitunter komplizierte Züge an, die der Kleriker dann ins Bild des Krokodils und seiner Beute fasst - das Krokodil ist natürlich die Dame, die Beute der vergeblich Liebende, und wenn es um diesen erst mal geschehen sei - aufgefressen durch das Krokodil, vernichtet durch die Abweisung der Dame -, dann bereue der Täter seine Tat und weine die berühmten Krokodilstränen. Nur dass an der Sache in beiden Fällen nichts mehr zu ändern sei.
Das "Liebesbestiarium" des Richard de Fournival trägt teils den Gestus eines naturkundlichen Welterklärungsbuchs und erweist seinen Autor gleichzeitig als Psychologen avant la lettre, der seelische Vorgänge verwissenschaftlichen will, etwa indem er sie auf die Eindrücke der fünf Sinne zurückführt. Dabei zieht er bisweilen seltsame Schlüsse: Aufgrund der Annahme, dass ein geschärftes Ohr die Defizite der Blindheit wenigstens teilweise ausgleiche, glaubt er daran, dass wer nicht riechen könne, besonders gut in der Lage sei zu schmecken.
All dies steht schon im Mittelalter in einer langen literarischen Tradition - sie geht zurück auf den "Physiologus", ein naturkundliches Werk aus der Spätantike, das Phänomene beschreibt und christlich allegorisiert. Das "Liebesbestiarium" nun bezeichnet der Heidelberger Autor Ralph Dutli, der das Werk jetzt erstmals ins Deutsche übertragen hat, im Nachwort als einen "Akt inspirierter Verweltlichung eines bislang religiös geprägten Genres", weil die Beschreibungen aus dem Naturreich nun nicht mehr für die Heilsgeschichte, sondern für die Liebeswerbung herangezogen werden. Das ist nicht von der Hand zu weisen - und doch sind es gerade die Überschneidungen zwischen Religion und Weltlichkeit im Gestus des "Liebesbestiariums", die den Leser in Bann schlagen: Da feiert der Autor die gewaltige, alles bezwingende Kraft der Stimme, und nun gar des Gesangs, und es ist von hier nicht allzu weit bis zur Erinnerung an die Schreie Hiobs um Erlösung oder zum "De profundis" des 130. Psalms. Die Seele schreit hier zur Geliebten, sie schreit dort zu Gott, aber sie schreit jedes Mal um das, was sie als Erlösung ansieht.
Der Autor jedenfalls kommt, wenn auch auf Umwegen, immer wieder auf seine Liebe zurück und greift mitunter zu gewagten Analogien, um der Geliebten seine Situation klarzumachen. Ob sie sich nicht den Biber zum Vorbild nehmen könne, fragt er? Denn dieses Tier, das nur wegen eines einzigen Körperteils gejagt werde (es sind die Hoden, weiß der "Physiologus", aber das verschweigt der Autor des "Liebesbestiariums" seiner Dame), entledige sich dessen auf der Flucht vor dem Jäger und bleibe danach ungeschoren. Das könne die Dame doch auch mit ihrem Herz machen, schlägt er vor, damit werde er sich begnügen, und sie hätte ihre Ruhe.
Man meint das Grimassieren der Verzweiflung in solchen Passagen zu spüren, während andere elegant, aber voller Trauer gehalten sind. Es geht ums Ganze, das teilt sich rasch mit, und auch, dass das Spiel längst verloren ist: "Ich weiß nicht, wer mich getötet hat, ob Ihr oder ich selber, ich weiß nur, dass wir beide schuldig sind."
TILMAN SPRECKELSEN
Richard de Fournival: "Liebesbestiarium". Absurde Poesie des Mittelalters. Aus dem Altfranzösischen von Ralph Dutli. Wallstein Verlag, Göttingen 2014. 188 S., Abb., 19,90 [Euro].
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