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Eine junge Frau aus Warschau kommt mit einem Stipendium nach New York. Sie lernt Jose, einen Brasilianer, kennen. Eine große Liebe beginnt. Doch von Anfang an wissen beide, daß ihre Beziehung nicht von Dauer sein kann, denn Jose hat in Sao Paulo Frau und Kind. Sechsundsiebzig glückliche Tage verbringen sie miteinander. Dann geschieht, was die polnische Dichterin präzise vorausgeplant hat: "Hätte mich jetzt jemand mit den Fakten der vergangenen drei Tage meines Lebens konfrontiert, dann sähe es tatsächlich so aus, als hätte ich kaltblütig und vorsätzlich jemanden ermordet - nämlich meinen…mehr

Produktbeschreibung
Eine junge Frau aus Warschau kommt mit einem Stipendium nach New York. Sie lernt Jose, einen Brasilianer, kennen. Eine große Liebe beginnt. Doch von Anfang an wissen beide, daß ihre Beziehung nicht von Dauer sein kann, denn Jose hat in Sao Paulo Frau und Kind. Sechsundsiebzig glückliche Tage verbringen sie miteinander. Dann geschieht, was die polnische Dichterin präzise vorausgeplant hat: "Hätte mich jetzt jemand mit den Fakten der vergangenen drei Tage meines Lebens konfrontiert, dann sähe es tatsächlich so aus, als hätte ich kaltblütig und vorsätzlich jemanden ermordet - nämlich meinen Geliebten Jose. Oberflächlich betrachtet, habe ich das auch getan." Und oberflächlich betrachtet, scheint sie sogar gänzlich unbeschadet damit durchzukommen. In einer klaren, knappen und dabei überaus poetischen Sprache spürt Slavenka Drakulic der Frage nach, wieviel man auf dem Altar der Liebe opfern kann und darf.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997

Der Hunger einer frommen Katholikin
Guten Appetit: Slavenka Drakulic spürt dem Kannibalismus der Liebe nach / Von Ralph Dutli

Schon der furiose Wohnungsputz auf der ersten Seite ist mehr als verdächtig. Schnell wird klar, daß die Spuren einer Tötung beseitigt werden sollen. Die putzende Romanheldin, eine Doktorandin aus Warschau, die an der New Yorker Universität eine Arbeit über die "Metaphysical Poets" schreibt, hat ihren Geliebten gegessen. Ja, richtig gelesen. Er hieß José, war Brasilianer aus São Paulo und hatte ein dreimonatiges Stipendium in New York, um ein Buch über Kannibalismus zu schreiben. Das wird er nun nicht mehr tun können.

Überaus kühn enthüllt die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulic schon im ersten Kapitel, was vorgefallen ist. Doch welch ein Irrtum, zu glauben, ein Roman sei damit zum Scheitern verurteilt. Er funktioniert sogar verblüffend gut: durch die feinen Fäden, die eine hinterlistige Autorin in der Hand behält, und dank einer vorzüglichen Übersetzung von Astrid Philippsen. Der Leser erliegt bald dem Sog dieser klaren, auf strikte Logik bedachten, noch das Haarsträubende mit größter Natürlichkeit vorbringenden Sprache.

Wer das Thema vorschnell als unappetitlich abtut, verkennt seine archaische Tiefe und seinen immer neuen Reiz für die menschliche Phantasie. Slavenka Drakulic hat bereits mit ihrem essayistischen Werk "Sterben in Kroatien. Vom Krieg mitten in Europa" (1992) gezeigt, daß es ihr um die Abgründe des Menschlichen geht, daß sie das Unvorstellbare begreifen will. "Wir sind der Krieg", schrieb sie damals, "wir tragen die Möglichkeit zu dieser Krankheit in uns, die uns allmählich auf etwas reduziert, das wir nie für möglich gehalten hätten." Läßt sich das auch auf ihren Roman übertragen? Lauert im Menschen der Kannibale?

Während des Großreinemachens nach der Tötung und Verspeisung des Geliebten reflektiert das weibliche Ich in der New Yorker Wohnung, in der das "wichtigste Ereignis meines Lebens" stattgefunden hat, über die Besonderheit seiner Liebe zu José, rekapituliert die Etappen der Beziehung bis hin zum letzten Akt. Das Merkwürdige und Verstörende an dem brillanten Roman ist, daß in ihm keine Rede von Schuld und Sühne aufkommt. Zum ersteren fehlt das Schuldbewußtsein, und das zweite findet schlicht nicht statt. Nun könnte dieser Roman eine jener Gewaltorgien zelebrieren, die in Kino und Literatur längst dumpfe Mode geworden sind. Nichts dergleichen. Zartheit, eigentümliche Sensibilität und magische Religiosität offenbaren sich in einer Beichte, die keine ist.

Aus diesem Paradox bezieht der Roman seine Spannung. Denn offensichtlich wird eines der grundlegenden Tabus der Menschheit verletzt. Doch so einfach ist die Sache nicht: Die gläubige Katholikin, Tochter einer Musikerfamilie ("In meiner Kindheit hatte ich zwei Verpflichtungen: Klavier spielen und beten"), ist in einem Kulturkreis aufgewachsen, in dessen religiösem Zentrum ein gleichsam kannibalistischer Akt steht: "Dies ist mein Leib, nehmt und eßt. Dies ist mein Blut, nehmt und trinkt."

Sechsundsiebzig Tage verbringen die Liebenden gemeinsam in New York, drei Tage sind sie getrennt, als José seine Ehefrau Inês und den kleinen Sohn Felipe in San Francisco trifft. Während dieser Trennung reift in der Liebenden der Entschluß, eine Lösung zu finden, eine "Möglichkeit der Verlängerung des gemeinsamen Lebens, einen Weg, der es uns erlaubte, beieinander zu bleiben". Josés Tod wird zu einer "unausweichlichen Stufe zum Erreichen des Einsseins", er ist "ein Mittel, aber nicht das Ziel". Die Sprache hat als Mittel längst abgedankt, sie ist "unvollkommen, löchrig wie ein Spinngewebe". Der Körper aber spricht weder Polnisch noch Portugiesisch, er hat sein eigenes Idiom. Die Sprache wird sogar zum "Feind": Wenn José sein vertrautes Portugiesisch spricht, droht er zu entgleiten. Kein Wunder, denn Sprache ist Logos, ein ordnendes, erhellendes, das uranfängliche, kannibalistische Dunkel zerteilendes Instrument. Man spricht nicht mit vollem Mund. Auch nicht mit einem Mund voll Menschenfleisch.

Der Leser wird dazu verführt, seine Vorstellungen von Moral und Gesetz für die Dauer des Romans zu vergessen und zu akzeptieren, daß die Liebe ihre eigenen Gesetze kennt. Allmählich stellt sich die Überzeugung ein, die Erzählerin habe für sich und ihren Geliebten die einzig mögliche Lösung gefunden. Kein blutrünstiges Monstrum ist am Werk, sondern eine fast rührend besorgte, liebende Frau, die in ihrem Begehren, den "anderen ganz und für immer zu besitzen", ein bißchen weit gegangen ist. Sie will das "absolute Einssein" mit dem Geliebten erreichen: "Daß er in mir ist, endgültig! Daß er in mir endet!" Statt einer der abgedroschenen Beziehungskisten schildert die kroatische Autorin die unerhörte Geschichte einer "verinnerlichten, vollständig verwirklichten Liebe". Ist der Akt vollzogen, stellt sich ein neues Lebensgefühl ein: "Ich fühlte mich wie in einem doppelten Mantel, als sei meine Haut von innen mit seiner Haut gefüttert." Gefüttert!

Tatsächlich geht es um die Möglichkeit der Vereinigung zweier Seelen, und da hat die polnische Doktorandin das richtige Arbeitsthema gewählt. Denn die "Metaphysical Poets" der Zeit Elisabeths I. haben sich brennend für die Art und Weise interessiert, wie die Seelen zweier Liebender zueinander in Kontakt treten könnten. Als Motto und als ganzes Gedicht im Innern, in den Eingeweiden des Romans, wird George Herberts "Love" (III) zitiert: "You must sit down, says Love, and taste my meat. So I did sit and eat."

Also treten auch die Forschungsthemen der polnischen Doktorandin und des brasilianischen Stipendiaten im Schmelztiegel New York ihre eigentümliche Vermählung an. Über einem Buch mit dem vielsagenden Titel "Göttlicher Hunger" kommen sie einander in der Bibliothek näher. Der Mann schreibt eine Studie über den Flugzeugabsturz in den Anden 1972, als junge Rugby-Spieler aus Uruguay siebzig Tage im Gebirge überlebten, indem sie Menschenfleisch aßen und diesen Akt als strenge Katholiken mit der heiligen Kommunion verglichen. An einer anderen Stelle erzählt José beiläufig von einem Kannibalenstamm auf Papua-Neuguinea namens Gini, dessen Frauen die Leichen ihrer Männer äßen. Die Gini glauben, dieses Ritual verleihe den Männern das ewige Leben: "Komm, komm zu mir, damit du nicht in der Erde verwest. Laß deinen Körper in meinem verschwinden." Die polnische Doktorandin ist lernbegierig und dankbar für solche Ermutigungen. José selber hat sie auf die Lösung ihres Liebesdilemmas gebracht.

Von ihrem Geliebten ein Kind zu bekommen ist kein Ausweg, der völliges Vereintsein garantiert. Sie träumt von diesem "Schwere- und Völlegefühl, wenn sich der Mann in mir in mein eigenes, ungeborenes Kind verwandelt." So geht in diesem ungewöhnlichen Roman die Frau mit dem Mann schwanger. José aber wird einmal als "Schwächling" bezeichnet, er ist ein Zauderer, der sich in Erstarrung, Wodka und Schlaf flüchten muß. Den ihm zugedachten Tod scheint er vage herbeizusehnen, während sich die Frau zumutet, den gefaßten Entschluß durchzuführen bis zum "großen Finale". Es wäre müßig, darüber zu streiten, ob ein Schwächling ist, wer sich nicht ausmalen kann, die Fingerkuppen des Liebespartners oder seine Waden zu verspeisen, doch Josés Passivität ist irgendwann ganz einfach nicht mehr gefragt. Drakulic zeigt ein durchaus feministisches Weltbild: Die Frau stellt das stärkere, radikalere, schlüssiger denkende und dennoch in urtümlichen Verhaltensweisen wurzelnde Geschlecht dar. Nur Vorsicht: Die Autorin ist viel zu klug, um in vulgär-feministisches Raunen vom Urweib zu verfallen.

Irgendwann kommt das Praktische. Die hungrige Protagonistin hat von Kindesbeinen an einen starken Drang nach Reinheit und Sauberkeit. Gestank, Schmutz und Unrat ekeln sie. Das Messer-Set, das im Laden mit der Aufschrift "Für jeden Zweck" auftrumpft, wird als allzu großes Blutvergießen erzeugendes Mittel verworfen, die elektrische Säge "Für Haus und Garten" bekommt den Zuschlag. Der Kühlschrank wird für den Männerleib fatal zu klein sein, weshalb die Stipendiatin nach Genuß einiger ausgewählter Körperteile doch diverses Kostbare in den New Yorker Müll entsorgen muß: "Ganz New York würde Josés Grabstein sein."

Slavenka Drakulic hat einen der denkbar radikalsten Liebesromane geschrieben. Auch das alte Thema des Liebeswahnsinns hat sie damit zu Ende gedacht. Jedenfalls ist es hier in Zonen vorangetrieben, wo es einen schwindeln machen könnte. Doch keine Angst, die menschliche Zivilisation ist nicht aus den Fugen. Die polnische Doktorandin bleibt gläubige Katholikin bis zum Schluß. Vor der Tötung des Geliebten geht sie zur Kirche, um die Hostie zu empfangen. Keine Spur von einem zynischen, blasphemischen Ritual - sie tut es in lauter Frömmigkeit. Ist das Großreinemachen zu Ende, der Geliebte verspeist, die Überreste entsorgt, will sie vor dem Rückflug nach Warschau noch zur Mitternachtsmesse gehen. Es ist Weihnachten, das Fest der Geburt!

Slavenka Drakulic: "Das Liebesopfer". Roman. Aus dem Kroatischen übersetzt von Astrid Philippsen. Aufbau-Verlag, Berlin 1997. 226. S., geb., 36,- DM.

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