Ricarda hat zwischen sich und ihre Familie die größtmögliche Strecke gelegt, sie tingelt als Barpianistin durch tropische Urlaubsparadiese. Als die Nachricht vom Tod ihrer Mutter sie erreicht, ist Rixa eher genervt als betroffen. Warum soll sie als Jüngste sich um die nötigen Behördengänge kümmern?
Mutter Dorothea Retzlaff verunglückte mit dem Auto - am 12. Todestag ihres jüngsten Sohnes. Ivo…mehrRicarda hat zwischen sich und ihre Familie die größtmögliche Strecke gelegt, sie tingelt als Barpianistin durch tropische Urlaubsparadiese. Als die Nachricht vom Tod ihrer Mutter sie erreicht, ist Rixa eher genervt als betroffen. Warum soll sie als Jüngste sich um die nötigen Behördengänge kümmern? Mutter Dorothea Retzlaff verunglückte mit dem Auto - am 12. Todestag ihres jüngsten Sohnes. Ivo starb ebenfalls unter ungeklärten Umständen, auch sein Tod könnte ein Selbstmord gewesen sein. Ricarda hat ihre Mutter offenbar kaum gekannt und fühlt sich schuldig dafür. Rixa, die Icherzählerin, hat sich im Vergleich zu ihren Brüdern stets zu wenig beachtet gefühlt und schreibt ihr Scheitern als Konzertpianistin u. a. dem ambivalenten Verhalten ihrer Mutter gegenüber der geplanten Karriere der Tochter zu. Mit Rückblenden bis zurück in die Generation von Rixas Großeltern entfaltet Gisa Klönne einen umfangreichen Familienroman, angesiedelt im ländlichen Mecklenburg. Rixa selbst hatte als kleines Mädchen den Eindruck, ihre Mutter würde ihr – und nur ihr – ständig von früher erzählen. Doch kein Familienmitglied ahnte, warum die vordergründig so gesprächige Mutter an ihrem Todestag mit dem Auto in der Gegend von Güstrow unterwegs war. Zwar erfuhr die Tochter als Kind die Erinnerungen, die ihre Mutter sich von der Seele reden wollte, doch nicht das, was zum Begreifen der Kriegsereignisse nötig gewesen wäre. Des Rätsels Lösung liegt in Geschehnissen der Jahre 1942 bis 1950, die selbst die 1945 als letztes von neun Kindern der Retzlaffs geboren Dorothea nur vom Hörensagen kennen kann. - Rückblenden wandern bis zu Rixas Großeltern Elise und Theodor, der noch Kriegsteilnehmer im Ersten Weltkrieg war und seine Alpträume aus den Schützengräben mit in die Ehe bringt. Elise, dem Mädchen aus der Stadt, traut zunächst niemand zu, unter (für die damalige Zeit nicht ungewöhnlichen) einfachen Lebensbedingen einen riesigen Pfarrhaushalt mit wachsender Kinderschar zu organisieren. Aus den wenigen hinterlassenen Familienfotos kann Rixa entnehmen, dass der von ihr geliebte und verehrte Großvater Partei- und SA-Mitglied war. Immer wenn der Name des (fiktiven) Ortes Sellin fällt, in dem die Retzlaffs zwischen 1942 und 1950 lebten, verstummen Rixas Verwandte. Niemand will sich an die dunklen Nachkriegsjahre erinnern. In dieser Familie hat nicht nur Dorothea zwei Gesichter. Das Familiengeheimnis wird zusätzlich kompliziert, weil Dorotheas älteste Schwester offenbar kurz nach dem Krieg umgekommen ist und auch darüber in der Familie eisern geschwiegen wird. Wie in einem Krimi bietet sich Rixa ein ganzes Bündel von Spuren zum Schicksal ihrer Familie an, die sie aufnimmt, indem sie in das Haus ihrer Mutter in Sellin zieht. - Gisa Klönne spricht ihre Leserinnen auf unterschiedlichen Ebenen an. Da sind zunächst Frauen aus drei Generationen, der Mutter-Tochter-Konflikt und Rixas schwieriges Verhältnis zu ihren Brüdern. Die Beschreibung eines großen, durch die deutsche Teilung getrennten, Familienclans kommt gerade zur richtigen Zeit, in der sich viele noch an die heikle deutsch-deutsche Situation erinnern. Mir haben es die Landschaftsbeschreibungen sehr angetan und auch wie Rixa ihre Kindheitserinnerungen in die Gegenwart integriert. Die interessanteste Figur war für mich Dorothea, stellvertretend für eine ganze Generation von Frauen, die ohne Ansprüche auf persönliches Glück vordergründig schnoddrig ihre Erlebnisse bei Kriegsende wegstecken. Hauptsache man hat überlebt. Über den Nationalsozialismus wird allenfalls indirekt gesprochen. Ein weiterer Zugang zu Klönnes Roman sind die von Dorothea so deutlich vertretene protestantische Arbeitsethik und das durch das Elternhaus der deutschen Bundeskanzlerin wieder in den Focus gelangte protestantische Pfarrhaus als Sozialisationsort. Ein beeindruckender Familienroman, den ich allen empfehle, die sich für den Handlungsort Mecklenburg und den zeitgeschichtlichen Rahmen interessieren.