Als im späten 16. Jahrhundert der englische Universalgelehrte Robert Hooke und der holländische Tuchhändler Antonie van Leeuwenhoek durch ihre handgefertigten Mikroskope blickten, sahen sie etwas, was der Biologie und der Medizin ein radikal neues Konzept hinzufügte und beide Wissenschaften für immer veränderte: Komplexe lebende Organismen bestehen aus winzigen, in sich geschlossenen und sich selbst regulierenden Einheiten. Unsere Organe, unsere Physiologie, unser Selbst - Herz, Blut, Gehirn - sind aus diesen kleinen Teilen aufgebaut: den Zellen. Sie ermöglichen all unsere komplexen Körperfunktionen: Immunabwehr, Fortpflanzung, Empfindungsvermögen, Kognition und Erneuerung. Die Schattenseite ist die ungemeine Zerstörungskraft dysfunktionaler Zellen, die einen Körper seiner Lebensfähigkeit berauben können.
Mukherjee erzählt vom enormen Potenzial unseres vertieften Verständnisses der Zellphysiologie und -pathologie. Es hat eine Revolution in Biologie und Medizin ausgelöst, transformative Medikamente hervorgebracht und Menschen verändert.
Mukherjee erzählt vom enormen Potenzial unseres vertieften Verständnisses der Zellphysiologie und -pathologie. Es hat eine Revolution in Biologie und Medizin ausgelöst, transformative Medikamente hervorgebracht und Menschen verändert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.03.2023Zellen im Verbund
Nach der Pandemie: Siddhartha Mukherjee macht als Forscher und Arzt eindrucksvoll mit Entwicklungen der Molekularbiologie bekannt.
Wer die letzten 75 Jahre biologischer Forschung überblickt, kann in ihr mit guten Gründen drei Umschwünge - man mag sie auch Revolutionen nennen - identifizieren. Man könnte sie mit den folgenden drei Schlagworten belegen: molekulare Biologie des Gens (1940 bis 1970); molekulare Biologie der Zelle (1970 bis 2000); molekulare Biologie des Organismus (2000 bis ?). Das "Lied der Zelle", das heißt die Interaktion der Zellen untereinander, ist dieser letzten Phase gewidmet, in der wir uns gegenwärtig befinden. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die grundlegenden Errungenschaften der vorhergehenden Phasen in das Zeitalter ihrer technischen Umsetzung, also in Gentechnik und in Zelltechnik, eingetreten sind. Genau dadurch aber, mit anderen Worten durch die Grenzen, an die diese Techniken stoßen, haben sie zu ganz neuen Einsichten in die Komplexität nicht nur des Genoms und der einzelnen Zelle geführt, sondern von ganzen Zell- und Organverbänden, die einen vielzelligen Organismus wie den Menschen ausmachen.
Nach "Der König aller Krankheiten: Krebs" und "Das Gen - eine sehr persönliche Geschichte" legt Siddhartha Mukherjee, amerikanischer Onkologe indischer Abstammung, mit dem "Lied der Zelle" nun seinen dritten Bestseller-Kandidaten vor. Nach Ausbildungsstationen an renommierten Institutionen arbeitet Mukherjee heute als Arzt und Forscher am Columbia University Medical Center in New York. Er versteht es meisterhaft, Leserinnen und Leser in seinen Bann zu schlagen. In 22 Kapiteln führt er durch die Welt der Zellen, die Entdeckung ihrer Strukturen und Funktionen, ihre Differenzierungen und ihre Pathologien, die uns allen als Krankheiten früher oder später zu schaffen machen.
Wie Mukherjee drei Erzählstränge miteinander verbindet und ineinander verwebt, ist hohe Kunst. Er ist nicht nur mit einer Künstlerin verheiratet, sondern selbst ein Schreibkünstler. Da ist zum einen die Wissenschaftsgeschichte der Zelle, die immer wieder schlaglichtartig aufblitzt und ganz beiläufig einen historischen Horizont aufbaut, der die kulturhistorische Dimension der Forschung aufscheinen lässt. Dabei bedient sich der Autor keiner Textbuchklischees, sondern greift an zentralen Stellen immer wieder auf neue und neueste wissenschaftshistorische Forschungsliteratur zurück.
Zurecht nimmt Rudolf Virchow als der Begründer der Zellularpathologie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts dabei eine zentrale Stellung ein. Und obwohl Mukherjee die wichtigen Stationen dieser Geschichte aus der Perspektive der Wissensschübe und derer erzählt, die sie auslösten, ist er sich der Rolle bewusst, die den instrumentellen Voraussetzungen ihrer Realisierung zukommen. "Vielleicht könnte man eine Geschichte der Zellbiologie sogar unter dem Gesichtspunkt der Geschichte des Glases schreiben", liest man in einem Klammersatz im Zusammenhang mit den entwicklungsbiologischen Experimenten von Hilde Mangold und Hans Spemann zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. In der Tat: von den mikroskopischen Linsen der Histologen über die Reagenzgläser der Biochemikerinnen bis zu den Petrischalen der heutigen In-vitro-Zellkulturen der Reproduktionsbiologie: Ohne Glas in seinen vielfältigen Ausprägungen hätte diese Geschichte nicht den Verlauf nehmen können, den sie uns heute darbietet.
Eine zweite Erzählebene bildet die Vermittlung von grundlegenden Wissensbeständen der Zellforschung des zwanzigsten Jahrhunderts. Hier greift Mukherjee auf eine Fülle von Originalliteratur zurück und bettet deren Erkenntnisse in episodenhaft berichtete Ereignisse ein, die den jeweiligen Forschungskontext lebendig werden lassen. Je mehr er sich der Gegenwart nähert, desto lebendiger werden sie durch eigene Begegnungen und Gespräche mit den Akteuren ergänzt.
So entsteht Kapitel für Kapitel ein immer komplexeres Bild der Zellen, ihrer Differenzierung, ihrer Feinstrukturen, ihrer molekularen Funktionen und ihrer Kommunikation mit der inneren und äußeren Umgebung. Die Zelle singt.
Der dritte Erzählstrang ist geprägt von den Erfahrungen Mukherjees als experimenteller Krebsforscher, sowohl im Labor am Tierversuch als auch in der experimentellen Therapie am Krankenbett. Erfolge und Niederlagen halten sich hier die Waage, es wird nicht geschönt, wo es nichts zu beschönigen gibt, etwa bei Fehlschlägen in der Therapie mit Knochenmarktransplantationen. Aber es werden auch die Krankenschicksale lebendig, wenn Routinebehandlungen ihren Dienst versagen. Nirgendwo wird deutlicher als bei den Myriaden verschiedener Krebsformen, dass es Zellen sind, die hier außer Kontrolle geraten sind und zu bösartigem Wachstum führen, und dass es Zellen sind, die wieder unter Kontrolle gebracht werden müssen.
Dieses Buch wurde in Zeiten der Corona-Pandemie geschrieben, in New York, einer der am stärksten von ihr betroffenen Städte. Der Kampf gegen das Virus ist nicht spurlos an dem Arzt und Forscher Mukherjee in einer Klinik der Metropole vorbeigegangen. Und wieder sind es Zellen, die die Abwehr gegen die Infektion in Gang setzen oder dabei versagen, und es sind Zellen, in die das Virus eindringt, um sich dort zu vermehren, indem es den Reproduktionsapparat des Wirts umfunktioniert. Der Verlauf der Epidemie hat auch Mukherjee demütig gemacht, denn er hat gezeigt, wie wenig wir letztlich immer noch über die Virusbiologie und über die ökologische Dynamik einer Pandemie wissen. So wird das kurze Kapitel über die Pandemie zum eindrücklichen Zentrum des Buches - und auch zum Zentrum einer wissenschaftstheoretischen Reflexion über Wissen und Wissenschaft.
Man liest den Bericht eines Akteurs im Feld der Wissenschaften, der mit ganzem Einsatz drei Missionen zu vereinen und zu erfüllen sucht: die eines Forschers, die eines Arztes, und die eines Buchautors. Der Wille, Faszination und Herausforderungen aller drei Aufgaben gleichermaßen sichtbar zu machen, prägt die Seiten dieses Buchs. Es sei all jenen wissbegierigen Lesern empfohlen, die schon immer einmal etwas über die molekulare Biologie der Zelle wissen wollten. Und es sei all jenen zum Studium empfohlen, die sich damit beschäftigen, wie man die Arbeit am wissenschaftlichen Wissen - und seiner Kehrseite, dem Nichtwissen - so zur Darstellung bringen kann, dass es unter die Haut geht. HANS-JÖRG RHEINBERGER
Siddhartha Mukherjee: "Das Lied der Zelle". Wie die Biologie die Medizin revolutioniert - Medizinischer Fortschritt und der Neue Mensch.
Aus dem Englischen von S. Vogel. Ullstein Verlag, Berlin 2023. 672 S., geb., 32,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach der Pandemie: Siddhartha Mukherjee macht als Forscher und Arzt eindrucksvoll mit Entwicklungen der Molekularbiologie bekannt.
Wer die letzten 75 Jahre biologischer Forschung überblickt, kann in ihr mit guten Gründen drei Umschwünge - man mag sie auch Revolutionen nennen - identifizieren. Man könnte sie mit den folgenden drei Schlagworten belegen: molekulare Biologie des Gens (1940 bis 1970); molekulare Biologie der Zelle (1970 bis 2000); molekulare Biologie des Organismus (2000 bis ?). Das "Lied der Zelle", das heißt die Interaktion der Zellen untereinander, ist dieser letzten Phase gewidmet, in der wir uns gegenwärtig befinden. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die grundlegenden Errungenschaften der vorhergehenden Phasen in das Zeitalter ihrer technischen Umsetzung, also in Gentechnik und in Zelltechnik, eingetreten sind. Genau dadurch aber, mit anderen Worten durch die Grenzen, an die diese Techniken stoßen, haben sie zu ganz neuen Einsichten in die Komplexität nicht nur des Genoms und der einzelnen Zelle geführt, sondern von ganzen Zell- und Organverbänden, die einen vielzelligen Organismus wie den Menschen ausmachen.
Nach "Der König aller Krankheiten: Krebs" und "Das Gen - eine sehr persönliche Geschichte" legt Siddhartha Mukherjee, amerikanischer Onkologe indischer Abstammung, mit dem "Lied der Zelle" nun seinen dritten Bestseller-Kandidaten vor. Nach Ausbildungsstationen an renommierten Institutionen arbeitet Mukherjee heute als Arzt und Forscher am Columbia University Medical Center in New York. Er versteht es meisterhaft, Leserinnen und Leser in seinen Bann zu schlagen. In 22 Kapiteln führt er durch die Welt der Zellen, die Entdeckung ihrer Strukturen und Funktionen, ihre Differenzierungen und ihre Pathologien, die uns allen als Krankheiten früher oder später zu schaffen machen.
Wie Mukherjee drei Erzählstränge miteinander verbindet und ineinander verwebt, ist hohe Kunst. Er ist nicht nur mit einer Künstlerin verheiratet, sondern selbst ein Schreibkünstler. Da ist zum einen die Wissenschaftsgeschichte der Zelle, die immer wieder schlaglichtartig aufblitzt und ganz beiläufig einen historischen Horizont aufbaut, der die kulturhistorische Dimension der Forschung aufscheinen lässt. Dabei bedient sich der Autor keiner Textbuchklischees, sondern greift an zentralen Stellen immer wieder auf neue und neueste wissenschaftshistorische Forschungsliteratur zurück.
Zurecht nimmt Rudolf Virchow als der Begründer der Zellularpathologie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts dabei eine zentrale Stellung ein. Und obwohl Mukherjee die wichtigen Stationen dieser Geschichte aus der Perspektive der Wissensschübe und derer erzählt, die sie auslösten, ist er sich der Rolle bewusst, die den instrumentellen Voraussetzungen ihrer Realisierung zukommen. "Vielleicht könnte man eine Geschichte der Zellbiologie sogar unter dem Gesichtspunkt der Geschichte des Glases schreiben", liest man in einem Klammersatz im Zusammenhang mit den entwicklungsbiologischen Experimenten von Hilde Mangold und Hans Spemann zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. In der Tat: von den mikroskopischen Linsen der Histologen über die Reagenzgläser der Biochemikerinnen bis zu den Petrischalen der heutigen In-vitro-Zellkulturen der Reproduktionsbiologie: Ohne Glas in seinen vielfältigen Ausprägungen hätte diese Geschichte nicht den Verlauf nehmen können, den sie uns heute darbietet.
Eine zweite Erzählebene bildet die Vermittlung von grundlegenden Wissensbeständen der Zellforschung des zwanzigsten Jahrhunderts. Hier greift Mukherjee auf eine Fülle von Originalliteratur zurück und bettet deren Erkenntnisse in episodenhaft berichtete Ereignisse ein, die den jeweiligen Forschungskontext lebendig werden lassen. Je mehr er sich der Gegenwart nähert, desto lebendiger werden sie durch eigene Begegnungen und Gespräche mit den Akteuren ergänzt.
So entsteht Kapitel für Kapitel ein immer komplexeres Bild der Zellen, ihrer Differenzierung, ihrer Feinstrukturen, ihrer molekularen Funktionen und ihrer Kommunikation mit der inneren und äußeren Umgebung. Die Zelle singt.
Der dritte Erzählstrang ist geprägt von den Erfahrungen Mukherjees als experimenteller Krebsforscher, sowohl im Labor am Tierversuch als auch in der experimentellen Therapie am Krankenbett. Erfolge und Niederlagen halten sich hier die Waage, es wird nicht geschönt, wo es nichts zu beschönigen gibt, etwa bei Fehlschlägen in der Therapie mit Knochenmarktransplantationen. Aber es werden auch die Krankenschicksale lebendig, wenn Routinebehandlungen ihren Dienst versagen. Nirgendwo wird deutlicher als bei den Myriaden verschiedener Krebsformen, dass es Zellen sind, die hier außer Kontrolle geraten sind und zu bösartigem Wachstum führen, und dass es Zellen sind, die wieder unter Kontrolle gebracht werden müssen.
Dieses Buch wurde in Zeiten der Corona-Pandemie geschrieben, in New York, einer der am stärksten von ihr betroffenen Städte. Der Kampf gegen das Virus ist nicht spurlos an dem Arzt und Forscher Mukherjee in einer Klinik der Metropole vorbeigegangen. Und wieder sind es Zellen, die die Abwehr gegen die Infektion in Gang setzen oder dabei versagen, und es sind Zellen, in die das Virus eindringt, um sich dort zu vermehren, indem es den Reproduktionsapparat des Wirts umfunktioniert. Der Verlauf der Epidemie hat auch Mukherjee demütig gemacht, denn er hat gezeigt, wie wenig wir letztlich immer noch über die Virusbiologie und über die ökologische Dynamik einer Pandemie wissen. So wird das kurze Kapitel über die Pandemie zum eindrücklichen Zentrum des Buches - und auch zum Zentrum einer wissenschaftstheoretischen Reflexion über Wissen und Wissenschaft.
Man liest den Bericht eines Akteurs im Feld der Wissenschaften, der mit ganzem Einsatz drei Missionen zu vereinen und zu erfüllen sucht: die eines Forschers, die eines Arztes, und die eines Buchautors. Der Wille, Faszination und Herausforderungen aller drei Aufgaben gleichermaßen sichtbar zu machen, prägt die Seiten dieses Buchs. Es sei all jenen wissbegierigen Lesern empfohlen, die schon immer einmal etwas über die molekulare Biologie der Zelle wissen wollten. Und es sei all jenen zum Studium empfohlen, die sich damit beschäftigen, wie man die Arbeit am wissenschaftlichen Wissen - und seiner Kehrseite, dem Nichtwissen - so zur Darstellung bringen kann, dass es unter die Haut geht. HANS-JÖRG RHEINBERGER
Siddhartha Mukherjee: "Das Lied der Zelle". Wie die Biologie die Medizin revolutioniert - Medizinischer Fortschritt und der Neue Mensch.
Aus dem Englischen von S. Vogel. Ullstein Verlag, Berlin 2023. 672 S., geb., 32,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Hans-Jörg Rheinberger staunt, wie gut es dem Onkologen Siddhartha Mukherjee gelingt, die Geschichte der Zellularpathologie ihre kulturhistorische Dimension, aktuelle Zellforschung und die Erfahrungen eines Arztes während der Corona-Pandemie auf spannende Weise zu vermitteln. Was der Autor im Tierlabor, Krankenbett und in der Forschung erlebt, fließt auf lebendige Weise ein, meint Rheinberger. Der Ton des Textes ist laut Rezensent geprägt von der Faszination, aber auch von der Demut eines Mediziners.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Er versteht es meisterhaft, Leserinnen und Leser in seinen Bann zu schlagen. [...] Wie Mukherjee drei Erzählstränge miteinander verbindet und ineinander verwebt, ist hohe Kunst." Hans-Jörg Rheinberger Frankfurter Allgemeine Zeitung 20230331