Produktdetails
- Verlag: Hanani Verlag
- Seitenzahl: 112
- Erscheinungstermin: 7. Februar 2013
- Deutsch
- Abmessung: 210mm x 140mm x 11mm
- Gewicht: 110g
- ISBN-13: 9783944174013
- ISBN-10: 3944174011
- Artikelnr.: 36869528
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.03.2013Auf Wiedersehen im Hackeschen Hof
Da kiekste: Irina Liebmann sitzt im Café und besingt den verschwundenen Berliner, der einmal ein Romantiker war und wie Novalis träumen konnte
Ob in Berlin Brötchen als Schrippen oder als Wecken verkauft werden sollen, hat sich seit Wolfgang Thierses Klagen als Sache von enormer sozialer und politischer Tragweite erwiesen. In der erregten Diskussion über Gentrifizierung und schwäbische Usurpation des Prenzlbergs scheint aber die Erinnerung abhandengekommen zu sein, welches Berlin man denn glaubte haben zu können. Das könnte damit zusammenhängen, dass irgendwann nach der Wende nicht nur eine aufschlussreiche Unterscheidung, sondern eine ganze Spezies verschwunden ist. Seinerzeit gab es neben den Touristen nämlich nicht nur einerseits Eingeborene, andererseits Zugezogene (Wessis), sondern auch die Schnittmenge der "richtigen Berliner".
Der richtige Berliner zeichnete sich durch die Bereitschaft aus, sich der Stadt als einer unvergleichlichen Trümmerstätte der Geschichte in ihrer tragischen Würde anzunehmen. Nach seiner Vorstellung sollte Berlin eine Insel im reißenden Strom des bewusstlosen Fortschritts sein und bleiben, eine "Sonderzone" des melancholischen Sinnzweifels und der skeptischen Langsamkeit, des ruhigen Nachdenkens und Erzählens. Aufgehoben und beheimatet wollte sich das richtige Berliner Subjekt fühlen und doch frei, zu tun und zu lassen, was ihm beliebt und seinem Biorhythmus frommt.
Für einen kurzen geschichtlichen Moment schien es, als könnte diese Minderheit der elegischen Spätaufsteher ("Frühstück nur bis 17 Uhr") ein Modell für das Zusammenwachsen von West und Ost werden, denn es war für viele, wie Eichendorff die Frühromantik beschrieb: "eine schöne Zeit des Erwachens, der Erwartung und Verheißung". Kein Zweifel, der richtige Berliner war damals Romantiker und träumte wie Novalis von einer "inneren Regeneration des Gesamtlebens".
Die 1943 in Moskau geborene Schriftstellerin Irina Liebmann, die 1987 von Ost- nach West-Berlin übersiedelte, ist solch eine richtige Berlinerin. In ihren jetzt erst im Druck erscheinenden Texten aus den neunziger Jahren hat sie den Traum aufbewahrt wie "eine Fliege im Bernstein". Das war für sie die Zeit eines "Berlin, das heilte. Alles lag offen da, alles war sichtbar." Da war die Innenstadt noch voller richtiger Berliner, nämlich voller "Menschen, die geübt waren, aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lesen". Wo sind sie geblieben?
Es begann mit einer Wunscherfüllung. Zu DDR-Zeiten hatte sich Irina Liebmann vorgestellt, es könnte am Hackeschen Markt dereinst ein Café geben, "ein warmes, helles, großes Café, wo ich mir ein Croissant bestellen könnte und eine Zeitung lesen". Dann gibt es den Hackeschen Hof, das Wünschen scheint geholfen zu haben: ein Glück! Die toten Fenster beginnen zu leuchten, "und in der Dämmerung, da funkelt es am schönsten". In dem Café kommen alle wieder zusammen, die schon einmal weggegangen waren. Da ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich. Poesie als Erinnerung und Ahnung, wie Novalis sagt; "alle, die hier sitzen, haben das Gefühl, sie wären hier schon früher mal gewesen".
Aber dass hier die Gaswagen, vom jüdischen Altersheim kommend, entlangfuhren oder dass die Leichen der Russen und der Deutschen durcheinander lagen auf dem jüdischen Friedhof, bis sie sortiert wurden, will nicht jeder wissen im Café. Das Pflaster ist neu. "Wir wollen hier leben und nicht / Diese alten Geschichten hören."
Die Konzerte von Aki Kaurismäkis Knallchargen-Band "Leningrad Cowboys" mit dem Chor der russischen Armee, in denen Coverversionen von "Delilah" bis "Kalinka" gegeben werden, sind inzwischen Trash-Kult auf Youtube. Für Irina Liebmann sind sie der Ausdruck einer peinlichen Profanierung der historischen Tragik der russischen Armee, die Berlin befreite und in Prag die Freiheit verriet. Die "Ruhmreiche Rote Armee / Verarscht sich hier selber für Dollars vielleicht, für / Ein tragbares Telefon". Zwei Säufer schreien: "Det gloobste nich!" Da ist es dann vielleicht schon wieder zu spät für alles, was "wir hätten machen können". Nicht wenige hätten ja lieber den Viermächtestatus behalten. Da wäre Berlin vielleicht geworden wie Rom unter Napoleon, besetzt, aber unregiert, eine Freiheitszone auf Trümmern.
An einem Jahrestag des 9. November sitzt man dann im "Borchardt" und ist elegisch. Einer mit Namen Schröder, der acht Jahre in Bautzen saß und doch nicht wegging, fällt unangenehm auf, spricht zu laut "von / Bonzen und Staatssicherheit und den Spitzeln / In dem Knast". Und bei der Podiumsdiskussion mit dem Kanzler, dem anderen "Russen-Schröder", zwei Ostler sind auch dabei, ruft er: "Ihr habt mal die Mauer gestürmt, und jetzt / Seid ihr quietschende Schräubchen in der / Unterhaltungsindustrie / Dieser Mediendemokratie!" Da soll er nach oben, anstatt unten zu toben. Aber nach oben will er nicht, so werden alle sanft zum Ausgang gedrängt. Selbst im Traum sind dann alle weg "und weg / Die Stadt Berlin". Die Bücher aber sind noch da.
In der Tradition Heines und Wolf Biermanns beklagen Irina Liebmanns politische Poeme eine versäumte geschichtliche Möglichkeit, die sich nirgends besser hätte realisieren lassen als in Berlin. Und wie bei Heine weigert sich das lyrische Subjekt zu vergessen, was doch unwiederbringlich verloren ist, es kämpft ohne Hoffnung zu siegen und ist also melancholisch und zuversichtlich und ein bisschen pampig, wie der richtige Berliner eben ist.
FRIEDMAR APEL
Irina Liebmann: "Das Lied vom Hackeschen Markt". Drei politische Poeme.
Hanani Verlag, Berlin 2012. 112 S., br., 12,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Da kiekste: Irina Liebmann sitzt im Café und besingt den verschwundenen Berliner, der einmal ein Romantiker war und wie Novalis träumen konnte
Ob in Berlin Brötchen als Schrippen oder als Wecken verkauft werden sollen, hat sich seit Wolfgang Thierses Klagen als Sache von enormer sozialer und politischer Tragweite erwiesen. In der erregten Diskussion über Gentrifizierung und schwäbische Usurpation des Prenzlbergs scheint aber die Erinnerung abhandengekommen zu sein, welches Berlin man denn glaubte haben zu können. Das könnte damit zusammenhängen, dass irgendwann nach der Wende nicht nur eine aufschlussreiche Unterscheidung, sondern eine ganze Spezies verschwunden ist. Seinerzeit gab es neben den Touristen nämlich nicht nur einerseits Eingeborene, andererseits Zugezogene (Wessis), sondern auch die Schnittmenge der "richtigen Berliner".
Der richtige Berliner zeichnete sich durch die Bereitschaft aus, sich der Stadt als einer unvergleichlichen Trümmerstätte der Geschichte in ihrer tragischen Würde anzunehmen. Nach seiner Vorstellung sollte Berlin eine Insel im reißenden Strom des bewusstlosen Fortschritts sein und bleiben, eine "Sonderzone" des melancholischen Sinnzweifels und der skeptischen Langsamkeit, des ruhigen Nachdenkens und Erzählens. Aufgehoben und beheimatet wollte sich das richtige Berliner Subjekt fühlen und doch frei, zu tun und zu lassen, was ihm beliebt und seinem Biorhythmus frommt.
Für einen kurzen geschichtlichen Moment schien es, als könnte diese Minderheit der elegischen Spätaufsteher ("Frühstück nur bis 17 Uhr") ein Modell für das Zusammenwachsen von West und Ost werden, denn es war für viele, wie Eichendorff die Frühromantik beschrieb: "eine schöne Zeit des Erwachens, der Erwartung und Verheißung". Kein Zweifel, der richtige Berliner war damals Romantiker und träumte wie Novalis von einer "inneren Regeneration des Gesamtlebens".
Die 1943 in Moskau geborene Schriftstellerin Irina Liebmann, die 1987 von Ost- nach West-Berlin übersiedelte, ist solch eine richtige Berlinerin. In ihren jetzt erst im Druck erscheinenden Texten aus den neunziger Jahren hat sie den Traum aufbewahrt wie "eine Fliege im Bernstein". Das war für sie die Zeit eines "Berlin, das heilte. Alles lag offen da, alles war sichtbar." Da war die Innenstadt noch voller richtiger Berliner, nämlich voller "Menschen, die geübt waren, aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lesen". Wo sind sie geblieben?
Es begann mit einer Wunscherfüllung. Zu DDR-Zeiten hatte sich Irina Liebmann vorgestellt, es könnte am Hackeschen Markt dereinst ein Café geben, "ein warmes, helles, großes Café, wo ich mir ein Croissant bestellen könnte und eine Zeitung lesen". Dann gibt es den Hackeschen Hof, das Wünschen scheint geholfen zu haben: ein Glück! Die toten Fenster beginnen zu leuchten, "und in der Dämmerung, da funkelt es am schönsten". In dem Café kommen alle wieder zusammen, die schon einmal weggegangen waren. Da ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich. Poesie als Erinnerung und Ahnung, wie Novalis sagt; "alle, die hier sitzen, haben das Gefühl, sie wären hier schon früher mal gewesen".
Aber dass hier die Gaswagen, vom jüdischen Altersheim kommend, entlangfuhren oder dass die Leichen der Russen und der Deutschen durcheinander lagen auf dem jüdischen Friedhof, bis sie sortiert wurden, will nicht jeder wissen im Café. Das Pflaster ist neu. "Wir wollen hier leben und nicht / Diese alten Geschichten hören."
Die Konzerte von Aki Kaurismäkis Knallchargen-Band "Leningrad Cowboys" mit dem Chor der russischen Armee, in denen Coverversionen von "Delilah" bis "Kalinka" gegeben werden, sind inzwischen Trash-Kult auf Youtube. Für Irina Liebmann sind sie der Ausdruck einer peinlichen Profanierung der historischen Tragik der russischen Armee, die Berlin befreite und in Prag die Freiheit verriet. Die "Ruhmreiche Rote Armee / Verarscht sich hier selber für Dollars vielleicht, für / Ein tragbares Telefon". Zwei Säufer schreien: "Det gloobste nich!" Da ist es dann vielleicht schon wieder zu spät für alles, was "wir hätten machen können". Nicht wenige hätten ja lieber den Viermächtestatus behalten. Da wäre Berlin vielleicht geworden wie Rom unter Napoleon, besetzt, aber unregiert, eine Freiheitszone auf Trümmern.
An einem Jahrestag des 9. November sitzt man dann im "Borchardt" und ist elegisch. Einer mit Namen Schröder, der acht Jahre in Bautzen saß und doch nicht wegging, fällt unangenehm auf, spricht zu laut "von / Bonzen und Staatssicherheit und den Spitzeln / In dem Knast". Und bei der Podiumsdiskussion mit dem Kanzler, dem anderen "Russen-Schröder", zwei Ostler sind auch dabei, ruft er: "Ihr habt mal die Mauer gestürmt, und jetzt / Seid ihr quietschende Schräubchen in der / Unterhaltungsindustrie / Dieser Mediendemokratie!" Da soll er nach oben, anstatt unten zu toben. Aber nach oben will er nicht, so werden alle sanft zum Ausgang gedrängt. Selbst im Traum sind dann alle weg "und weg / Die Stadt Berlin". Die Bücher aber sind noch da.
In der Tradition Heines und Wolf Biermanns beklagen Irina Liebmanns politische Poeme eine versäumte geschichtliche Möglichkeit, die sich nirgends besser hätte realisieren lassen als in Berlin. Und wie bei Heine weigert sich das lyrische Subjekt zu vergessen, was doch unwiederbringlich verloren ist, es kämpft ohne Hoffnung zu siegen und ist also melancholisch und zuversichtlich und ein bisschen pampig, wie der richtige Berliner eben ist.
FRIEDMAR APEL
Irina Liebmann: "Das Lied vom Hackeschen Markt". Drei politische Poeme.
Hanani Verlag, Berlin 2012. 112 S., br., 12,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Warum Irina Liebmanns Berliner Poeme aus den 90ern erst jetzt im Druck erscheinen, weiß Rezensent Friedmar Apel auch nicht. Die elegischen Spätaufsteher, ahnt er, sind jedenfalls längst aus Mitte verschwunden. Den Traum von Berlin als von einem Ort der Möglichkeiten, träumt der Rezensent aber lesend gern (noch einmal). Das war, als Berlin noch voller Berliner war. In ihrer politischen Stoßrichtung beim melancholischen Nachsinnen über den Verlust einer historischen Chance gleichen die Texte laut Apel denen Heines und Biermanns: "Ihr habt mal die Mauer gestürmt, und jetzt / Seid ihr quietschende Schräubchen in der / Unterhaltungsindustrie ..."
© Perlentaucher Medien GmbH
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