Denkwürdig
Der erfolgreichste Roman von Franz Werfel, «Das Lied von Bernadette», entstand aufgrund eines Gelübdes, das der österreichische Schriftstellers auf der Flucht vor den Nazis im Juni 1940, während seines kurzen Zwischen-Aufenthalts im Wallfahrtsort Lourdes, in großer Bedrängnis abgelegt
hatte: Er würde einen Roman über das Wunder von Lourdes schreiben, wenn er das rettende Amerika…mehrDenkwürdig
Der erfolgreichste Roman von Franz Werfel, «Das Lied von Bernadette», entstand aufgrund eines Gelübdes, das der österreichische Schriftstellers auf der Flucht vor den Nazis im Juni 1940, während seines kurzen Zwischen-Aufenthalts im Wallfahrtsort Lourdes, in großer Bedrängnis abgelegt hatte: Er würde einen Roman über das Wunder von Lourdes schreiben, wenn er das rettende Amerika erreicht. «Ich habe es gewagt, das Lied von Bernadette zu singen, obwohl ich kein Katholik bin, sondern Jude» hat er ein Jahr später beim Erscheinen seines Romans in Los Angeles angemerkt, wo er glücklich Zuflucht gefunden hatte. Die 1933 von Pius XI heiliggesprochene Bernadette Soubirous hatte als 14jähriges Mädchen zwischen 11. Februar und 16. Juli 1858 insgesamt 18 Visionen, die von Wissenschaft, Politik und Kirche zunächst argwöhnisch bezweifelt, später dann aber als Marien-Erscheinung gedeutet wurden.
Beim Holzsuchen erscheint Bernadette in der Grotte von Massabielle nahe dem Fluss Grave plötzlich eine wunderschöne Dame im weißen Kleid mit einem blauen Gürtel. Sie ist barfüßig, auf beiden Füßen befindet sich eine goldene Rose, sie lächelt freundlich, spricht aber kaum. Als Bernadette am nächsten Tag mit einigen Freundinnen wieder zur Grotte geht, gibt ihr die Dame zu verstehen, sie möge zwei Wochen lang täglich wiederkommen. Während der Begegnung mit der Dame bemerken die Freundinnen, die die Dame selbst nicht sehen können, eine wundersame Verklärung in Bernadettes Gesicht, sie ist in ihrer Ekstase der Umgebung völlig entrückt. Bei einem dieser Treffen flüstert die unnahbare Dame immer wieder nur «Buße, Buße, Buße». Schließlich fordert sie Bernadette auf, sie möge in der Grotte die Quelle suchen, aus ihr trinken und sich darin waschen. Und tatsächlich findet das Mädchen eine bisher unbekannte feuchte Stelle im Sand, von der niemand etwas wusste. Sie wird von den Bewohnern sogleich als überraschend ergiebige Wasserquelle gefasst. Kurz darauf ereignet sich an dem schwerkranken Nachbarkind die erste spontane Wunderheilung, nachdem die verzweifelte Mutter ihren kleinen Sohn in den Quelltopf getaucht hatte.
Franz Werfel erklärt im Vorwort: «All jene denkwürdigen Begebenheiten, die den Inhalt dieses Buches bilden, haben sich in Wirklichkeit ereignet». Und er ergänzt: «… ihre Wahrheit ist von Freund und Feind und von kühlen Beobachtern in getreuen Zeugnissen erhärtet». Mit einem stattlichen Figuren-Ensemble von mehr als 60 Personen aus Familie, Nachbarschaft und Amtsträgern von Staat und Kirche erzählt er neben der Geschichte seiner Seherin von den weitreichenden Auswirkungen ihrer mysteriösen Erscheinungen. In diesem fiktiven Teil seines Romans erweist er sich als begnadeter Erzähler, der besonders seine Figuren sehr lebensnah als Charaktere schildert, die viele Typen des Menschen-Geschlechts glaubwürdig verkörpern. Er nutzt vor allem die gelehrten Dialoge der verschiedenen Honoratioren und des Klerus für kontemplative Betrachtungen des Geschehens aus unterschiedlichsten Perspektiven, behält als Autor aber stets die nötige Distanz.
Auch wer als Atheist dem katholischen Mummenschanz ablehnend gegenüber steht, wird hier in Vorgänge und Usancen einer Weltreligion eingeweiht, die in Rom den Statthalter Christi auf Erden als unfehlbare Instanz etabliert hat. En passant erfährt man dabei faszinierende Details aus dem Klosterleben und von der pompösen Zeremonie einer Heiligsprechung. Besonders vergnüglich zu lesen sind die Ränkespiele zwischen Politik und Kirche, die an ein Schwarzer-Peter-Spiel erinnern, aus dem sich sogar Napoleon III tunlichst herauszuhalten versucht. Erstaunlich ist, dass es dem Autor trotz der weitgehend bekannten Fakten gelingt, einen Spannungsbogen aufzubauen, der bis zum Ende anhält. Bei der Heiligsprechung ist der als Erster durch Wunderheilung genesene Nachbarjunge als alter Mann unter den Besuchern im Petersdom, damit schließt sich äußerst elegant der Handlungsbogen einer denkwürdigen Geschichte.