Die neue Leitwissenschaft Biologie
Dieses Buch handelt in erster Linie von der Philosophie der Biologie und davon, wie sich die Biologie von der Physik unterscheidet.
Über 300 Jahre lang dominierten die Ideen der Physik die Philosophie: Nicht unbedingt die Ethik, aber die Logik, die Wissenschaftstheorie, kurzum unser Denken über Wahrheit und die Naturgesetze.
Inzwischen geht der Ehrgeiz der Physiker so weit, die ultimative Weltformel finden zu wollen, die in einer schönen mathematischen Gleichung das komplette Universum erklären könnte.
Die Physik thematisiert die tote Materie, während dieses Buch darlegt, wie Charles Darwin und die Evolutionsbiologie die kopernikanische Revolution vollendeten, indem sie das Leben und die komplexesten Wesen auf unserer Erde in die Analyse mit einbezogen.
In den Diskussionen und Gesprächen mit dem Evolutionsbiologen und Zoologen Ernst Mayr, dem Evolutionsgenetiker John Maynard Smith, dem Populationsgenetiker Francisco Ayala, dem Soziobiologen Bert Hölldobler und dem Immunologen Jonathan Howard werden die Umrisse einer neuen Philosophie der Biologie sichtbar.
Dieses Buch handelt in erster Linie von der Philosophie der Biologie und davon, wie sich die Biologie von der Physik unterscheidet.
Über 300 Jahre lang dominierten die Ideen der Physik die Philosophie: Nicht unbedingt die Ethik, aber die Logik, die Wissenschaftstheorie, kurzum unser Denken über Wahrheit und die Naturgesetze.
Inzwischen geht der Ehrgeiz der Physiker so weit, die ultimative Weltformel finden zu wollen, die in einer schönen mathematischen Gleichung das komplette Universum erklären könnte.
Die Physik thematisiert die tote Materie, während dieses Buch darlegt, wie Charles Darwin und die Evolutionsbiologie die kopernikanische Revolution vollendeten, indem sie das Leben und die komplexesten Wesen auf unserer Erde in die Analyse mit einbezogen.
In den Diskussionen und Gesprächen mit dem Evolutionsbiologen und Zoologen Ernst Mayr, dem Evolutionsgenetiker John Maynard Smith, dem Populationsgenetiker Francisco Ayala, dem Soziobiologen Bert Hölldobler und dem Immunologen Jonathan Howard werden die Umrisse einer neuen Philosophie der Biologie sichtbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2003Oder wollen Sie lieber Briefmarken sammeln?
Christian Göldenboog erklärt, warum das Verständnis des Lebens nichts mit Physik zu tun hat
Im Sommer 1932 segelten die Physiker Werner Heisenberg und Niels Bohr sowie "ein Chirurg namens Chievitz" von Kopenhagen zur Insel Fyn. Als sie im strömenden Regen die dunkle See nach Positionslichtern absuchen, entspinnt sich ein Gespräch: Was würde geschehen, wenn das Boot mit einem Walfisch zusammenstieße? "Beide würden wohl ein Loch bekommen." zitiert Christian Göldenboog Chievitz: "Aber das ist eben der Unterschied zwischen lebendiger und toter Materie. Das Loch im Walfisch würde von selbst zuheilen, unser Boot würde wohl kaputt bleiben. Besonders, wenn wir damit auf dem Meeresgrund lägen." Der Rest der Nacht verging mit "philo-physikalischem Seemannsgarn" über lebende und tote Materie, Darwin und Newton, Biologie und Physik.
In der Hierarchie der Wissenschaften stand die Physik die längste Zeit unangefochten an der Spitze. Nicht wenige Physiker träumen bis heute von der großen vereinheitlichten Theorie, der Theorie für alles, in der nicht nur elektromagnetische Kraft und Gravitationskraft ihren Platz finden, sondern in der sich die Chemie auf die Physik und die Biologie auf die Chemie reduzieren läßt. Und nicht nur das: Es sei noch nicht gelungen, das Studium des menschlichen Verhaltens zu einem Zweig der angewandten Mathematik zu reduzieren, bedauerte Physiker Stephen Hawking 1980 in einer Vorlesung.
Christian Göldenboog präsentiert in seinem Buch die wichtigsten Themen aus der Philosophie der Biologie, die, getreu dem Motto des Biologen Theodosius Dobzhansky, nichts in der Biologie habe Sinn, außer im Lichte der Evolution, vor allem Philosophie der Evolutionstheorie ist. Göldenboog weiß das an sich eher spröde Thema für den Laien aufzubereiten: Die erste Hälfte des Buches bilden vier durch zahlreiche Zitate aufgelockerte, aber kaum zusammenhängende Essays über die Physik und ihr Verhältnis zur Biologie, Ernst Mayr und die Immunologie im Lichte der Evolution. Den zweiten Teil bilden kommentierte Gespräche, die er mit einigen der Großen der Biologie geführt hat: mit dem Populationsgenetiker Francisco Ayala, dem Soziobiologen Bert Hölldobler, dem Evolutionsgenetiker John Maynard Smith und vor allem mit dem Evolutionsbiologen Ernst Mayr, der wie kein anderer die Eigenständigkeit der Biologie und ihrer Methoden verteidigt. Seine Gedanken dienen immer wieder als Kontrastfolie zu denen der anderen Autoren, so daß man das ganze Buch als eine Hommage an den neunundneunzigjährigen Harvard-Professor lesen kann.
Bevor es mit der Biologie losgeht, muß sich der Leser allerdings erst einmal durch gut fünfzig Seiten Theorie für alles, Higgs-Bosonen, Quantenphysik und Superstringtheorie hindurcharbeiten, in der die belebte Welt nur am Rande vorkommt. Wenn er dies hinter sich hat, ist der Leser jedoch gern bereit, Ernst Mayrs Verdikt zu unterschreiben, das Ganze habe nun aber auch gar nichts mit dem Verständnis des Lebens auf der Erde zu tun.
Wissenschaft sei entweder Physik oder Briefmarkensammeln, polemisierte einst Ernest Rutherford. Die Biologie sei eine "dirty science" lautet ein Gemeinplatz unter Physikern. In der Tat ist die Biologie anders. Keine Naturkonstanten, keine Gesetze ohne Ausnahmen, kein Essentialismus. Darwins große Lektion, so erklärt Mayr, bestand darin, die Vielfalt anzuerkennen. Unterschiede zwischen den Individuen sind keine Abweichungen von einer ewigen Norm, sondern die Basis der weiteren Entwicklung. Es gäbe keine Evolution, wenn alle Individuen identisch wären. Physiker denken in Kategorien, Biologen in Populationen, sagt Mayr. Und um die Wissenschaftstheoretiker völlig zur Verzweiflung zu bringen: Physiker kennen nur eine Ursache, in der Biologie sind es immer mindestens zwei: die Gesetze der Physik und das genetische Programm, manchmal auch noch mehr. Biologen, so Mayr, brauchen keine Quantenmechanik, das Leben läßt sich nicht aus Elementarteilchen erklären. Und auch die Mathematik, deren unglaubliche Effizienz in der Physik der französische Physiker Etienne Klein als "großes Geheimnis" bezeichnet, hält Mayr für entbehrlich. Dies geht freilich nicht ohne die Kritik der Kollegen durch: "Wenn er sagt, die Mathematik spiele in der Biologie überhaupt keine nützliche Rolle - Gott schütze ihn", kommentiert John Maynard Smith. Er schätzt die Mathematik vor allem als Herausforderung, seine Thesen klar zu formulieren: "Die Mathematik sagt, ob eine These beweisbar ist." Smiths Held ist weniger Darwin als August Weismann, der nicht nur zwischen Körper- und Keimbahnzellen unterschied, sondern auch den Begriff der Information in die Biologie einführt: Den, so betont Maynard Smith, gibt es in der Physik nicht. Ansonsten konstatiert er, daß die Fronten sich verschieben: "Die Physik wird immer weniger mechanistisch, ich verstehe kaum noch, was da passiert. Die Biologie dagegen wird immer mechanistischer." Dem stimmt Francisco Ayala zu: Darwins größte Leistung bestehe darin, eine mechanistische Erklärung für das Walten der Evolution zu finden, statt, wie etwa Aristoteles, der unbelebten Natur die Kategorien der belebten überzustülpen und es mit der Bestimmung des Steins zu erklären, daß dieser auf die Erde falle.
Am Ende sieht der Harvard-Biologe Mayr in der Evolutionstheorie sogar die Möglichkeit, eine Brücke zu den Geisteswissenschaften zu schlagen, denn in beiden Wissenschaften seien historische Prozesse von Bedeutung. Auszutüfteln, was es genau bedeutet, eine solche Brücke zu bauen, dürfte Aufgabe einer noch zu begründenden transdiziplinären Wissenschaftstheorie sein.
Die lockere Form kommentierter Gespräche macht dem Leser die Lektüre leicht, doch sie bringt es auch mit sich, daß er sich den roten Faden bisweilen mit einiger Mühe suchen muß. Die Philosophie der Biologie steht erst am Anfang. Göldenboogs Buch liefert vor allem einen Katalog von Themen, die gründlicher Bearbeitung harren.
MANUELA LENZEN
Christian Göldenboog: "Das Loch im Walfisch". Die Philosophie der Biologie. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2003. 270 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Christian Göldenboog erklärt, warum das Verständnis des Lebens nichts mit Physik zu tun hat
Im Sommer 1932 segelten die Physiker Werner Heisenberg und Niels Bohr sowie "ein Chirurg namens Chievitz" von Kopenhagen zur Insel Fyn. Als sie im strömenden Regen die dunkle See nach Positionslichtern absuchen, entspinnt sich ein Gespräch: Was würde geschehen, wenn das Boot mit einem Walfisch zusammenstieße? "Beide würden wohl ein Loch bekommen." zitiert Christian Göldenboog Chievitz: "Aber das ist eben der Unterschied zwischen lebendiger und toter Materie. Das Loch im Walfisch würde von selbst zuheilen, unser Boot würde wohl kaputt bleiben. Besonders, wenn wir damit auf dem Meeresgrund lägen." Der Rest der Nacht verging mit "philo-physikalischem Seemannsgarn" über lebende und tote Materie, Darwin und Newton, Biologie und Physik.
In der Hierarchie der Wissenschaften stand die Physik die längste Zeit unangefochten an der Spitze. Nicht wenige Physiker träumen bis heute von der großen vereinheitlichten Theorie, der Theorie für alles, in der nicht nur elektromagnetische Kraft und Gravitationskraft ihren Platz finden, sondern in der sich die Chemie auf die Physik und die Biologie auf die Chemie reduzieren läßt. Und nicht nur das: Es sei noch nicht gelungen, das Studium des menschlichen Verhaltens zu einem Zweig der angewandten Mathematik zu reduzieren, bedauerte Physiker Stephen Hawking 1980 in einer Vorlesung.
Christian Göldenboog präsentiert in seinem Buch die wichtigsten Themen aus der Philosophie der Biologie, die, getreu dem Motto des Biologen Theodosius Dobzhansky, nichts in der Biologie habe Sinn, außer im Lichte der Evolution, vor allem Philosophie der Evolutionstheorie ist. Göldenboog weiß das an sich eher spröde Thema für den Laien aufzubereiten: Die erste Hälfte des Buches bilden vier durch zahlreiche Zitate aufgelockerte, aber kaum zusammenhängende Essays über die Physik und ihr Verhältnis zur Biologie, Ernst Mayr und die Immunologie im Lichte der Evolution. Den zweiten Teil bilden kommentierte Gespräche, die er mit einigen der Großen der Biologie geführt hat: mit dem Populationsgenetiker Francisco Ayala, dem Soziobiologen Bert Hölldobler, dem Evolutionsgenetiker John Maynard Smith und vor allem mit dem Evolutionsbiologen Ernst Mayr, der wie kein anderer die Eigenständigkeit der Biologie und ihrer Methoden verteidigt. Seine Gedanken dienen immer wieder als Kontrastfolie zu denen der anderen Autoren, so daß man das ganze Buch als eine Hommage an den neunundneunzigjährigen Harvard-Professor lesen kann.
Bevor es mit der Biologie losgeht, muß sich der Leser allerdings erst einmal durch gut fünfzig Seiten Theorie für alles, Higgs-Bosonen, Quantenphysik und Superstringtheorie hindurcharbeiten, in der die belebte Welt nur am Rande vorkommt. Wenn er dies hinter sich hat, ist der Leser jedoch gern bereit, Ernst Mayrs Verdikt zu unterschreiben, das Ganze habe nun aber auch gar nichts mit dem Verständnis des Lebens auf der Erde zu tun.
Wissenschaft sei entweder Physik oder Briefmarkensammeln, polemisierte einst Ernest Rutherford. Die Biologie sei eine "dirty science" lautet ein Gemeinplatz unter Physikern. In der Tat ist die Biologie anders. Keine Naturkonstanten, keine Gesetze ohne Ausnahmen, kein Essentialismus. Darwins große Lektion, so erklärt Mayr, bestand darin, die Vielfalt anzuerkennen. Unterschiede zwischen den Individuen sind keine Abweichungen von einer ewigen Norm, sondern die Basis der weiteren Entwicklung. Es gäbe keine Evolution, wenn alle Individuen identisch wären. Physiker denken in Kategorien, Biologen in Populationen, sagt Mayr. Und um die Wissenschaftstheoretiker völlig zur Verzweiflung zu bringen: Physiker kennen nur eine Ursache, in der Biologie sind es immer mindestens zwei: die Gesetze der Physik und das genetische Programm, manchmal auch noch mehr. Biologen, so Mayr, brauchen keine Quantenmechanik, das Leben läßt sich nicht aus Elementarteilchen erklären. Und auch die Mathematik, deren unglaubliche Effizienz in der Physik der französische Physiker Etienne Klein als "großes Geheimnis" bezeichnet, hält Mayr für entbehrlich. Dies geht freilich nicht ohne die Kritik der Kollegen durch: "Wenn er sagt, die Mathematik spiele in der Biologie überhaupt keine nützliche Rolle - Gott schütze ihn", kommentiert John Maynard Smith. Er schätzt die Mathematik vor allem als Herausforderung, seine Thesen klar zu formulieren: "Die Mathematik sagt, ob eine These beweisbar ist." Smiths Held ist weniger Darwin als August Weismann, der nicht nur zwischen Körper- und Keimbahnzellen unterschied, sondern auch den Begriff der Information in die Biologie einführt: Den, so betont Maynard Smith, gibt es in der Physik nicht. Ansonsten konstatiert er, daß die Fronten sich verschieben: "Die Physik wird immer weniger mechanistisch, ich verstehe kaum noch, was da passiert. Die Biologie dagegen wird immer mechanistischer." Dem stimmt Francisco Ayala zu: Darwins größte Leistung bestehe darin, eine mechanistische Erklärung für das Walten der Evolution zu finden, statt, wie etwa Aristoteles, der unbelebten Natur die Kategorien der belebten überzustülpen und es mit der Bestimmung des Steins zu erklären, daß dieser auf die Erde falle.
Am Ende sieht der Harvard-Biologe Mayr in der Evolutionstheorie sogar die Möglichkeit, eine Brücke zu den Geisteswissenschaften zu schlagen, denn in beiden Wissenschaften seien historische Prozesse von Bedeutung. Auszutüfteln, was es genau bedeutet, eine solche Brücke zu bauen, dürfte Aufgabe einer noch zu begründenden transdiziplinären Wissenschaftstheorie sein.
Die lockere Form kommentierter Gespräche macht dem Leser die Lektüre leicht, doch sie bringt es auch mit sich, daß er sich den roten Faden bisweilen mit einiger Mühe suchen muß. Die Philosophie der Biologie steht erst am Anfang. Göldenboogs Buch liefert vor allem einen Katalog von Themen, die gründlicher Bearbeitung harren.
MANUELA LENZEN
Christian Göldenboog: "Das Loch im Walfisch". Die Philosophie der Biologie. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2003. 270 S., geb., 20,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Wer Gesetze liebt, der sollte sich von der Biologie fernhalten, meint sinngemäß Rezensent Hansjörg Küster. In Christian Göldenboogs Buch hat er nachlesen können, welche "zentralen Fragen" sich die moderne Biologie stellt, sowohl in "berichtenden Texten" als auch in "Gesprächen mit Physikern und Biologen", allen voran Ernst Mayr. Von Mayr erfahre man, inwiefern sich die Biologie grundlegend von den anderen Naturwissenschaften unterscheide. Aus der Sicht der gesetzesliebenden und allgemeinheitsverehrenden Physiker zum Beispiel erscheine die Biologie als "dreckige" Wissenschaft, die nicht in der Lage ist, "die Vielfalt der Erscheinungen" einzeln zu erklären, sondern nur deren "Ursache" zu benennen. Doch gerade weil die "Formen des Lebens" nicht fest bestehen bleiben, müsse die Biologie mit "unüberprüfbaren Ideen oder Konzepten" arbeiten. Göldenboorgs Buch, das tiefen Einblick in das "Gedankengebäude der modernen Biologie" verschafft, so Küster, ist ein sehr "empfehlenswertes" Buch über eine Wissenschaft, die noch vor vielen Rätseln steht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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